Читать книгу Das Kestel Psychogramm - Jürgen Ruhr - Страница 9

5. Der Spielplatz

Оглавление

Tobias Kestel saß an seinem Schreibtisch und sortierte die Bewerbungsunterlagen für die Mietwohnung in Köln Ehrenfeld. Er teilte die Bögen in zwei Stapel. Einmal diejenigen, die für eine Anmietung in Frage kämen und einmal die, die die zweite Wahl darstellten und dann in Frage kämen, wenn niemand anderes mehr Interesse zeigen würde. Einen dritten Stapel gab es nicht, denn wer es auf keinen Fall in die Auswahl schaffte, verschwand direkt im Papierhäcksler. So wie der Bogen, auf dem ein dickes Kreuz hinter dem Namen stand. Ein einzelner junger Mann, mit vielleicht wechselnden Bekanntschaften und entsprechenden Feierbedarf, kam auf keinen Fall in Frage. Mochte er auch noch so viel Geld in einen Umschlag stecken. Auch der Bogen des Mannes, der ihn noch vor dem Haus so angeranzt hatte, verschwand im Schredder.

Tobias Hand fuhr einmal mehr zur Innentasche seines Jacketts, in der der Bewerbungsbogen der Mutter mit ihrer Tochter Mia steckte. Die Frau war achtundzwanzig Jahre alt, wie er den Eintragungen entnahm und seit einem Vierteljahr geschieden. Ihre Wohnadresse befand sich in einer Hochhaussiedlung in Köln Lindweiler. Tobias sah sich die Gegend im Computer an und entdeckte den kleinen Spielplatz, den Mia erwähnt hatte, ebenfalls. Wenn die Frau dort wirklich mit ihrem Vater, also Mias Opa, zusammenlebte, so bestimmt unter äußerst beengten Bedingungen. Tobias fand auch heraus, dass die Mutter wohl ihren Mädchennamen wieder angenommen haben musste, da ihr Vater ebenfalls Hensenbrugger hieß. Doch ehrlich gesagt interessierte ihn das herzlich wenig.

Tobias Kestel warf einen Blick auf seine Lacroix Armbanduhr und spürte einen gewissen Stolz, dass er sich dieses gute Stück geleistet hatte. In Gedanken ging er die volle Bezeichnung der Uhr durch und sprach sie schließlich leise vor sich hin: „Maurice Lacroix Masterpiece Squelette.“ Er ließ das letzte Wort noch ein wenig nachschwingen, als sein Kollege Walther Warsers seine Gedanken unterbrach: „Betest du, Tobbi?“ Er lachte leise. „Brauchst du aber nicht, die Wohnungen vermieten sich quasi von alleine. Wie ich sehe, hast du ja auch schon eine ganz ansehnliche Sammlung von Interessenten. So einfach möchte ich es auch einmal haben ...“

„Walther, was willst du? Ich habe zu arbeiten, du störst.“

„Oh, Tobbi, warum so schlechte Laune? Der Regen hat doch aufgehört und mit ein wenig Glück bricht irgendwann auch die Sonne durch die Wolken.“

„Was willst du? Mir vom Wetter erzählen? Ich sehe selbst, dass es nicht mehr regnet. Also schleich dich.“

„Kannst du mir einen Tipp geben? Es geht um eine Wohnung in der Innenstadt.“

Tobias seufzte. Handelte es sich um die Wohnung, für die er seit gut einem halben Jahr versuchte, die Vermittlung zu übernehmen? Der Besitzer konnte sich einfach nicht für einen Makler entscheiden, aber die Chancen standen gut, dass sie den Zuschlag bekommen würden. Die Wohnung ließ sich seiner Meinung nach gut verkaufen und eine hohe Provision war ihrer Firma gewiss. Und damit auch die Anerkennung des Chefs für den ausführenden Makler. „Geht es um die Eigentumswohnung Hohe Straße?“

Warsers nickte heftig: „Der Verkäufer hat sich endlich für einen Makler entschieden. Zum Glück für uns.“

„Ja, zum Glück.“ Tobias versuchte sich seine Resignation nicht anmerken zu lassen. „Und was wolltest du mich jetzt fragen?“

„Glaubst du, dass ich den Chef um eine Gehaltserhöhung bitten kann, wenn ich die Wohnung verkaufe? Die Provision wird der Firma einen Batzen Geld einbringen und be...“

„Ja, mach das Walther“, unterbrach ihn Tobias, der sich plötzlich nach einer seiner kleinen weißen Pillen sehnte. „Nach dem Verkauf der Wohnung wird er wohl kaum ‚nein‘ sagen.“ Eigentlich sollte dies seine Chance sein. Und das nach all der Vorarbeit, die er geleistet hatte! Er machte die Drecksarbeit und dieser Idiot Warsers erntete die Lorbeeren.

Kaum, dass sein Kollege wieder fort war, schluckte Tobias zwei der Pillen. Sehnsüchtig wartete er auf die Wirkung.

Entgegen der euphorischen Vorhersage seines Kollegen fing es im Laufe des Nachmittags doch wieder an zu regnen. Nicht mehr so stark wie gestern, aber genug, um Tobias die Laune endgültig zu vermiesen. Sein Chef hatte ihm für die Formulare nur mit einem Kopfnicken gedankt und mit dem Finger auf den freien Platz gewiesen, wo er sie hinlegen sollte.

Jetzt quälte Tobias Kestel sich durch den Feierabendverkehr. Aber noch befand er sich nicht auf dem Weg nach Hause. Zunächst plante er einen Abstecher nach Köln Lindweiler zu machen und sich die Wohnsituation von Mutter und Tochter Hensenbrugger anzusehen. Zumindest von außen. Er hatte die Fahrstrecke im Kopf und fand die Adresse auf Anhieb. Triste Hochhäuser reihten sich aneinander und Kestel fuhr ohne anzuhalten durch die Straßen. Er hielt sich strikt an die Geschwindigkeitsbeschränkungen, da er auf keinen Fall auffallen wollte. Den Spielplatz erkannte er schon aus einiger Entfernung. Alte, teilweise verrostete Spielgeräte zeugten von besseren Zeiten und luden nicht unbedingt zum Spielen ein. In einer Ecke entdeckte er einige Jugendliche, die sich trotz des Nieselregens um eine Sitzbank gruppierten. Alle trugen Kapuzen auf dem Kopf und Tobias entdeckte einige Flaschen Bier und sogar eine halbleere Flasche Wodka. ‚Die Zukunft unseres Landes‘, dachte er und fuhr zügig weiter. Niemand beachtete ihn. Um nicht doch noch aufzufallen, verzichtete er auf eine zweite Runde um die Wohnblöcke herum und fuhr schließlich nach Hause.

„Du bist spät dran“, empfing ihn seine Frau Angelika mit einem vorwurfsvollen Blick. „Du weißt doch, dass ich mit den Mädels zum Shoppen will. Heute ist mein Tag!“

Tobias nickte automatisch. Natürlich hatte er vergessen, dass heute ‚ihr Tag‘ war. Dafür fiel ihm der Geruch nach Rotwein an ihr auf. „Hast du getrunken?“

„Nur ein Gläschen zum Vorglühen“, lächelte sie. „Du hast mich ja zu lange warten lassen. Das Essen ist übrigens in der Mikrowelle und die Kinder sind auf ihren Zimmern. Nur falls dich das überhaupt interessiert.“

Tobias war froh, dass seiner Frau jetzt keine Zeit blieb, mit ihm Streit anzufangen. Vor der Tür hupte das Taxi, während im Hintergrund ein Feuerwehrwagen mit ohrenbetäubender Sirene aus der Halle schoss. Angelika hielt sich die Ohren mit beiden Händen zu und rannte ohne ein weiteres Wort aus dem Haus. Sie würde erst spät in der Nacht ziemlich betrunken nach Hause kommen. Tobias kannte diese ‚Shoppingtouren‘ schon. Die drei Freundinnen gingen in irgendein Restaurant, um etwas zu essen und danach zogen sie durch die Kneipen. Vielleicht kauften sie auch als Alibifunktion zwischendurch noch die ein oder andere Bluse, das war’s dann aber auch. Tobias hasste Alkohol, seitdem sein Vater ihn im Alter von sechzehn Jahren zum ‚Mann‘ machen wollte. Er hatte seitdem nie wieder einen Tropfen angerührt. Die einzige Ausnahme bildete reiner Alkohol, den er aber zum Reinigen benutzte. Reiner Alkohol und vielleicht auch verdünnte Salzsäure, wenn es ganz besonders sauber werden musste.

Das Schlafzimmer stank nach Kneipe und billigem Fusel, als Tobias erwachte. Angelika war kurz vor fünf Uhr morgens nach Hause gekommen und stellte damit einen neuen Rekord auf. Er wurde wach, als sie sich auf das Bett fallen ließ und sofort in tiefen Schlaf fiel. Seine Frau hatte es nicht einmal mehr geschafft, sich auszuziehen, lediglich von den Schuhen konnte sie sich befreien. Ihre Kleidung stank nach Alkohol und Zigarettenrauch und Tobias drehte sich angewidert um. Morgens wunderte er sich, wie er überhaupt noch einmal hatte einschlafen können.

Jetzt betrachtete er Angelika in der beginnenden Dämmerung. Der Lippenstift war um den Mund herum verschmiert und sie sah ein wenig wie ein Clown aus. Schwarze Streifen von verlaufener Wimperntusche schmückten ihre Wangen von den Augen herunter. Sie lag auf dem Rücken und Tobias erkannte Schmutzflecken auf ihren Knien und am Kleid. Angelika musste hingefallen sein, aber offensichtlich war sie nicht verletzt. Wie lange waren sie jetzt verheiratet? Er brauchte nicht lange zu rechnen, denn der Grund ihrer Ehe lag im Zimmer nebenan: Laura mit ihren sechzehn Jahren. Die ganze Sache lief von Anfang an so richtig schief. Es war niemals sein Plan gewesen, eine Frau kennenzulernen, geschweige denn zu heiraten. Doch Angelika wusste genau, was sie wollte und Tobias überlegte oft, ob sie nicht mit Berechnung gehandelt hatte. Manchmal zweifelte er sogar daran, dass Laura überhaupt sein Kind war. Jedenfalls schaffte sie es, dass sie heirateten und das war wirklich ein Fehler gewesen.

Eine Zeit lang hatte der Sex mit ihr auf ihn ablenkend gewirkt und seine innere Unruhe gelindert. Doch der Reiz verflog schnell und besonders nach Finns Geburt war er mit seinen Gefühlen und Problemen wieder alleine. Die Geburt des Jungen stürzte seine Frau in eine Depression, die sie anfänglich gar nicht als solche erkannten. Immer häufiger griff sie zum Alkohol, bis ihr ein Arzt schließlich Antidepressiva verschrieb. Bis zur Geburt ihres Sohnes hatte sie ihre Probleme einigermaßen im Griff gehabt, doch danach wurde es schlimmer und schlimmer. Angelika fühlte sich durch die beiden Kinder einfach überfordert, obwohl sie keiner Arbeit nachging und den ganzen Tag zu Hause blieb. Bald schon kombinierte sie die Tabletten mit Alkohol und es kam schließlich der Tag, als Tobias einfach nur noch wegschaute. Er hatte die ewigen Streitereien satt, die jedes Mal aufkamen, wenn er ihren Alkoholkonsum kritisierte. Einmal mehr dachte er über die Scheidung nach, doch so richtig konnte er sich dazu nicht durchringen.

Nach ihrer Hochzeit häuften sich seine Probleme ebenfalls und während einer Routineuntersuchung durch seinen Hausarzt, kam es mit dem Mediziner zu einem umfangreichen Gespräch. Der verschrieb ihm schließlich die Orap, als temporäre Lösung und legte Tobias nahe, eine Psychotherapie zu machen. Bei dem Gedanken an seine kleinen, weißen Pillen, seufzte er laut auf und kramte in der Schublade seines Nachttischchens herum. Den Blister mit den Tabletten fand er auf Anhieb und rasch nahm er eine davon. Er müsste sich in absehbarer Zeit neue Medikamente verschreiben lassen, sein Vorrat neigte sich allmählich gefährlich dem Ende entgegen. Heute würde jedenfalls er dafür sorgen müssen, dass die Kinder zur Schule kamen und Tobias blickte auf die Küchenuhr. Es wurde Zeit, die Kleinen zu wecken.

„Aufwachen mein Schatz.“ Tobias rüttelte seine Tochter vorsichtig an der Schulter, bis die ihn verschlafen ansah. „Papa. Guten Morgen. Wo ist Mama?“

„Guten Morgen, Kleines. Mama schläft noch, sie hatte gestern einen schweren Tag“, die Wahrheit würden seine Kinder noch früh genug erfahren. „Heute habe ich euch Frühstück gemacht. Also, raus aus den Federn, gewaschen und ab in die Küche. Ich muss Finn wecken.“

Sein Sohn wurde zwei Jahre nach Laura geboren. Eigentlich hatten Angelika und er sich darauf geeinigt, keine weiteren Kinder zu bekommen, doch nach einer ihrer ‚Shoppingnächte‘ war es ihr so schlecht gegangen, dass sie sich ständig übergeben musste. Vermutlich hatte sie an dem Tag ihre Verhütungspille wieder ausgekotzt oder sie einfach vergessen. Jedenfalls war das Ergebnis dieses Versäumnisses Finn, der exakt neun Monate später auf die Welt kam. Tobias war glücklich und dankbar, dass der Junge ohne Behinderung geboren wurde, was bei dem Tabletten- und Alkoholkonsum seiner Frau keine Selbstverständlichkeit war.

„Finn, wach auf. Es wird Zeit für die Schule.“ Der Kleine lag auf der Seite, wandte ihm das Gesicht zu und nuckelte im Schlaf an seinem Daumen. Tobias hatte oft mit Angela gesprochen, dass sie dem Jungen das doch abgewöhnen solle, doch auch hier musste er bald einsehen, dass seine Predigten lediglich zu Streitereien mit ihr führten. Nun, Finn würde sich das Daumenlutschen schon mit zunehmendem Alter selber abgewöhnen. Ebenso, wie sich das leichte Stottern mit der Zeit ja auswachsen sollte.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Wie immer, wenn er sich morgens um die Kinder kümmern musste, würde er auch heute wieder zu spät ins Büro kommen. Bensmann dürfte darüber nicht erfreut sein, aber vielleicht merkte er es auch gar nicht.

„W... w... wo ist M... ama?“, fragte Finn und stopfte sich ein Weißbrot mit Schokoladenaufstrich in den Mund. Finn liebte Süßigkeiten, süßes Essen und gezuckerte Getränke und das sah man ihm auch an. Der Junge vermied darüber hinaus alle übermäßigen Aktivitäten und konzentrierte sich lieber auf das Spielen am Computer. Mit seinen vierzehn Jahren hatte er schon einmal eine Schulklasse wiederholen müssen. Tobias fragte sich, ob sein Sohn einfach nur faul war oder wirklich nicht über die notwendige Intelligenz verfügte. Laura war da ganz anders. Das Mädchen war schlank, sportlich und eine durchschnittliche bis gute Schülerin.

„Mama schläft noch“, erklärte Tobias. „Sie hatte gestern einen schweren Tag.“ Er übersah geflissentlich, wie sich seine Kinder einen wissenden Blick zuwarfen.

Tobias Kestel schlich sich in das Großraumbüro und hoffte, dass sein Chef ihn noch nicht vermisst hatte. Doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht, denn Bensmann stand neben seinem Arbeitsplatz und sah ihm verärgert entgegen. „Kestel, sie sind schon wieder zu spät. Das wievielte Mal ist es das jetzt schon in diesem Monat?“ Bensmann wollte keine Antwort, sondern fuhr direkt fort: „Ich werde ihnen die ständigen Fehlzeiten vom Gehalt abziehen! Sehen sie zu, dass sie in Zukunft pünktlicher sind.“ Der Chef blickte auf seine Armbanduhr. Es handelte sich um eine einfache, schmucklose Uhr irgendeines unbekannten Herstellers. Tobias dachte an seine Lacroix und ihn überkam ein kurzes Gefühl der Überlegenheit.

„Sie sollten um halb Zehn wegen der Wohnungsvermietung in Troisdorf sein, schon vergessen? Mensch, Kestel, sie werden immer unzuverlässiger. Jetzt musste ich Warsers hinschicken und der hat weiß Gott andere Aufgaben. Sie wollen doch nicht, dass ich mich nach einem neuen Mitarbeiter umsehen muss?“ Bensmann wandte sich um, und rief ihm im Gehen noch zu: „Und vergessen sie den Termin um vierzehn Uhr nicht!“

Tobias schlich wie ein geprügelter Hund an seinen Schreibtisch. Rasch nahm er eine Pille, dann widmete er sich seinen Aufgaben. Vielleicht müsste er ja doch noch einmal mit seiner Frau sprechen, denn so konnte es nicht weitergehen!

Der Dauerregen der letzten Tage hatte endlich aufgehört und manchmal drang die Sonne schon durch die Wolkendecke. Es war zwar noch ungemütlich kalt, doch der Frühling nahte mit Riesenschritten. Wenigstens blieb es jetzt trocken. Den Besichtigungstermin spulte Tobias mit ruhiger Professionalität ab, die Fragen der Interessenten blieben sich immer gleich und schließlich verstaute er den obligatorischen Stapel mit den ausgefüllten Bewerbungsbögen in seiner Aktentasche. Die Besichtigung hatte im Stadtteil Ossendorf stattgefunden, eine schäbige Dreizimmerwohnung, für die es aber wieder zahlreiche Interessenten gab. Tobias sehnte sich nach der Vermittlung der Eigentumswohnungen zurück. Die potentiellen Käufer einer Wohnung waren doch eine ganz andere Klientel, als diese profanen Mieter!

Es war noch relativ früh und er würde die Formulare im Büro schon einmal vorsortieren können. Diesmal befand sich kein Umschlag mit Bargeld dabei, dafür hatte ihm eine blondierte, dickbusige Frau Mitte Zwanzig eindeutige Angebote gemacht. Sie bot sich sogar an, zu warten, bis alle anderen Interessenten die Wohnung verließen. Die Frau sprach leise und hastig und sparte nicht mit bildreichen Erklärungen, was sie alles mit ihm anstellen würde. Natürlich müsste er ihr zusagen, dass sie sie die Wohnung erhielt. Tobias winkte dankend ab und merkte sich den Namen der ‚Dame‘. Die Unterlagen würden als erste im Schredder verschwinden.

Ohne wirklich darauf geachtet zu haben, schlug er die Strecke zu dem Stadtteil ein, in dem Mia mit ihrer Mutter wohnte. Es war ein ziemlicher Umweg, aber Tobias dachte einfach nicht darüber nach. Langsam fuhr er wieder die Straße am Spielplatz entlang. Um diese Zeit befanden sich nicht viele Menschen auf den Straßen. Wer hier überhaupt einer Arbeit nachging, der würde erst in gut einer Stunde nach Hause kommen.

Und dann sah er sie!

Die blonden Locken fielen ihm sofort auf. Mia trug eine rostrote Jacke und saß auf der Schaukel. Träge schwang sie hin und her. Tobias Herz begann zu klopfen und eine gewisse Unruhe bemächtigte sich seiner. Er dachte an die blauen Augen, die ihn in der Wohnung so unschuldig angesehen hatten. Die Zunge, blau gefärbt vom Dauerlutscher, die sie ihrer Mutter verschmitzt herausgestreckt hatte. Er sah sich um. Auf dem Spielplatz befanden sich momentan keine anderen Kinder, die Kleine war ganz alleine. Und sie schien sich zu langweilen.

„Bald wird es dir bessergehen“, flüsterte er heiser und sein Mund wurde ganz trocken. „Dann hat das Elend hier ein Ende.“ Er ließ den Wagen noch ein Stück weiter rollen und parkte ihn dann am Straßenrand. Tobias Kestel holte tief Luft. Er war nicht vorbereitet, hatte nicht damit gerechnet, das Mädchen jetzt hier zu finden. Und dann auch noch alleine. Mit fahrigen Händen suchte er in seinen Taschen nach der Dose mit den Pillen. Aber er fand sie nicht auf Anhieb und stieg stattdessen aus dem Wagen. Vielleicht war das ja auch ein Zeichen, hatte etwas zu bedeuten, dass er die Pillen nicht fand.

Tobias verschloss den Wagen sorgfältig. Er hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, wie er vorgehen würde, alles fand so spontan statt ... ‚Du sagst ihr, dass du eine Wohnung für die Beiden hast und ihre Mutter dort auf sie wartet‘, reifte ein Plan in seinen Gedanken. Sein Herz schlug immer noch wild und ein bisher in seiner Intensität unbekanntes Gefühl der Vorfreude bemächtigte sich seiner. Es konnte nichts schiefgehen, er war der Wohnungsmakler, die Kleine kannte ihn! Auf dem Weg zum Spielplatz beschleunigte er seine Schritte.

Hinter einem niedrigen Busch, in sicherer Entfernung zum Spielplatz, beobachtete er das Mädchen. Mia war immer noch alleine und schaukelte hin und her. Sie trug zu der roten Jacke eine abgewetzte blaue Jeans, die deutliche Spuren ihres Spielens trug. Die Füßchen steckten in alten Turnschuhen. Tobias malte sich aus, wie die Kleine in einem weißen Kleid aussehen würde und nahm sich vor, so etwas in irgendeinem Gebrauchtwarenladen zu kaufen. Bestimmt gab es so etwas. Ein Kommunionskleid vielleicht. So eines, wie es seine Schwester einst getragen hatte.

Er ließ seinen Blick noch einmal kreisen. Niemand befand sich in der Nähe, niemand würde ihn beobachten, wie er mit Mia sprach. Der Augenblick war perfekt! Es musste jetzt einfach sein, Vorbereitung hin oder her!

Tobias Kestel trat hinter dem Busch hervor.

In diesem Moment kam ein alter Mann zwischen mehreren Büschen auf einem kleinen Weg von der anderen Seite auf den Spielplatz. Er bewegte sich zielstrebig auf die blonde Mia zu, sagte etwas und beide lachten. Es musste sich um den Opa handeln, die Kleine war direkt ganz vertraut mit dem Mann. Tobias verschwand leise fluchend wieder hinter seinem Busch und beobachtet, wie Opa und Enkelin Hand in Hand verschwanden.

Auf dem Weg zum Büro schalt sich Tobias für seine Unvorsichtigkeit. Er hatte, noch während er zum Wagen ging, drei seiner kleinen Tabletten geschluckt und allmählich beruhigte sich sein Herzschlag. Wie dumm er doch war! So etwas durfte ihm nicht wieder passieren. Völlig unvorbereitet! Und heute war erst Mittwoch. Bensmann hätte ihm nie und nimmer den morgigen Tag und Freitag frei gegeben. Doch die Gelegenheit war günstig gewesen und irgendwie hätte alles funktioniert. Irgendwie. Wäre nur dieser dämliche Opa nicht dazwischengekommen! Tobias nahm sich vor, seinen Chef zu bitten, ihm Freitag frei zu geben. An dem Tag hatte er sowieso keine Termine.

Das Kestel Psychogramm

Подняться наверх