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Arvid Schnauer: Junge Gemeinde in Schwerin
ОглавлениеZeitzeugenbericht von Arvid Schnauer (Jahrgang 1937)
Ich gehörte schon eine Zeitlang zu einer Jungensgruppe, die sich im Kohlenkeller des Gemeindehauses in der Bäckerstraße wöchentlich traf. Dort wurde zur Gitarre gesungen und gespielt, sicher auch biblische Geschichten erzählt, aber neben anderen, sehr spannenden, die mir sehr eindrücklich waren – und auch die Leiter, zuerst wohl Herr Mayer, dann der Diakon Brösel, machten einen tiefen Eindruck auf mich.
Eines Tages kam ein Pastor und wollte uns zu einer „Rüstzeit“ einladen. Ich wußte nicht, was das war, aber was dieser Pastor (eben Pastor Wellingerhof) erzählte, klang gut und begeisterte mich. In einer alten Jagdhütte auf Strohsäcken schlafen, in einem Bach sich waschen und Wasser aus dem Sumpf (manchmal auch aus dem Dorf) holen, statt eines Klos einen „Donnerbalken“ in der freien Natur nutzen und bei Geländespielen toben – das war doch etwas. Allerdings mussten wir ein Lied auswendig können, bevor wir mitfahren durften: „Heiß brennt die Äquatorsonne auf die öde Steppe nieder ...“ Und obwohl ich nicht gerade Spaß am Lernen hatte – den Text kenne ich bis heute, denn ich bin dann öfter in Zapel dabei gewesen.
Aber zurück zu der Ankündigung: „Und bringt auch eine Luftpumpe mit!“ Wozu denn eine Luftpumpe? Der Pastor trocken: „Na, wenn wir überfallen werden, dann kann man die sehr gut zur Verteidigung gebrauchen.“ Ich zu Hause: „Mutti, ich will auf eine Rüstzeit – und da wird man überfallen und ich muss eine Luftpumpe mitbringen.“ Nun war die Zeit damals sicher nicht halb so gewalttätig wie heute, aber diese Ankündigung eines vielleicht 12–Jährigen (?) war meiner Mutter zuviel. „Da fährst du nicht mit!“ Und so kam es, dass plötzlich ein Pastor bei uns zu Hause aufkreuzte und meiner Mutter wohl erklärte, was es mit diesem Gag mit der Luftpumpe auf sich hatte.
Jedenfalls fuhr ich mit nach Timbuktu (so hieß Zapel nach diesem Lied) in den Tanganjika–Sümpfen und habe dort mehrere eindrückliche Rüstzeiten erlebt. Sie haben mich sehr geprägt und gehören zu den wertvollen Erinnerungen aus meiner Jugendzeit.
Besonders gern erinnere ich mich an Diakon Brösel, hat er mich doch in dieser Zeit stark beeindruckt und, wenn ich es von hinterher sehe, meinen Zugang zur Gemeinde Jesu und zur Kirche eröffnet.
Wir kamen zurück von einer Freizeit aus Zapel (bei Schwerin), die er geleitet hatte, mehrere Jungen mit Fahrrädern. Es gab eine Karambolage, mein Knie war lädiert, und da wir kein Verbandszeug bei uns hatten und ich stark blutete, fuhren wir beide zu seiner Wohnung, wo er mich verbinden wollte. ( Schleifmühlenweg).
Mit Staunen erlebte ich, dass er mit einem Schraubenzieher das Türschild um das Schloss seiner Wohnungstür versetzte, um überhaupt mit dem Schlüssel hineinzukommen und aufzuschließen. Ich fragte ihn, warum er das täte und erfuhr, dass das eine Vorsichtsmaßnahme sei, um zu verhindern, dass „irgendwelche Menschen“ in seine Wohnung eindrängen. Natürlich fragte ich als Jugendlicher neugierig weiter, weil mir das so unwahrscheinlich vorkam, und musste erlebten, wie dieser kräftige und sportliche Mann (er hatte vorher wohl bei einem Verein in Hamburg Handball gespielt !) anfing, zu weinen und mir erzählte, dass er seit Wochen nachts abgeholt würde (von der Polizei), und sie wollten, dass er Namen nennen solle von Jungen, die zur Jungen Gemeinde gehörten. Ich begriff – weil er nicht bereit war, unsere Namen, meinen Namen zu nennen, weiterzugeben ( damals liefen Informationen also noch so einfach und direkt !), wurde er systematisch am Schlafen gehindert und so einfach fertiggemacht.
Wie tief mich die Gemeinheit dieses Vorgehens und die Haltung von Herrn Brösel beeindruckte, kann man sich vorstellen. So wurde dieser Mann für mich zu einem der Vorbilder, die ich in der Kirche kennengelernt habe.
Diakon Brösel hat dann wohl noch versucht, durch einen Ortswechsel nach Rostock (Toitenwinkel?) den Nachstellungen zu entgehen und weiterzuarbeiten, und als er auch in Rostock sofort wieder nachts abgeholt wurde, ist er, wie ich dann hinterher erfuhr, in einer abenteuerlichen Autofahrt in den Westen gebracht worden.
Es passt zu diesem Mann, dass er sich auch da wieder eine schwere Aufgabe ausgesucht hat, in einem Auffanglager für ehemalige Fremdenlegionäre war er tätig. Das Letzte, was ich über Diakon Brösel erfahren konnte, war, dass er dort schlimm zusammengeschlagen worden war, aber keine Anzeige gegen den ihm natürlich bekannten Täter erstatten wollte.
Wie das in der von Pastor Wellingerhof organisierten Jugendarbeit üblich war, hatte ich ziemlich früh einen Jugendkreis von gerade zwei Jahren Jüngeren mit einem zweiten übernommen und mir war nach einem Jahr treuen Besuch der Jungen Gemeinde das Bekenntniszeichen (oft verkürzt als „Kugelkreuz“ bezeichnet) verliehen worden. Ich gehörte zum Spielkreis „Kreuzfahrer“ (wie stolz war man, wenn man dazu von PW persönlich eingeladen wurde) und durfte Verkündigungsspiele mit aufführen und Spielfahrten über Land mitmachen und war bei Monatsrüsten und Morgenandachten natürlich dabei.
Ich war 1951, im Gegensatz zu manchen anderen, erst Mitglied der Jugendorganisation FDJ geworden, um doch noch auf die Oberschule aufgenommen zu werden. Davor war mein Antrag auf Aufnahme in die Oberschule abgelehnt worden. Als ich nach der Ablehnung meines Antrags mit meiner Patentante auf das Arbeitsamt zwecks Arbeitsstellensuche ging und wegen meiner damals noch schmächtigen Figur und kleinen Körpergröße für ungeeignet gehalten wurde, fragte der Mitarbeiter, ob es nicht günstiger wäre, wenn ich noch einige Zeit auf die Schule gehen würde. Ich sagte ihm darauf: ich hätte das schon gewollt, sei aber nicht angenommen worden. Als er auf Nachfrage erfuhr, dass als Grund meine Nichtzugehörigkeit zur FDJ genannt worden war, sagte er zu mir: Dann geh doch einfach rein!
Und nach einigen Überlegungen zu Hause, das damalige erste Statut der FDJ, die ja auch von kirchlichen Vertretern mitgegründet worden war, enthielt noch keine Festlegung auf marxistische oder sozialistische Positionen, sondern betonte die Offenheit für alle ehrlichen Jugendlichen, die sich in der antifaschistischen Überzeugung einig sind – und mit meiner Patentante, war ich eingetreten.
Nachfolgend schildere ich die Auseinandersetzungen um die Junge Gemeinde in der Goethe-Oberschule I Schwerin, die ich während meiner Schulzeit dort selbst erlebt habe und die im Jahr 1953 sehr zugespitzt geführt wurden. Fünf besonders krasse Beispiele sind mir deutlich in Erinnerung.
1. Beispiel
Demonstration auf dem Marktplatz anlässlich der Ermordung eines westdeutschen Antifaschisten (wie das damals so hieß) Philipp Müller. Wir Schüler mussten antreten. In einer vom Balkon des Residenzcafe verlesenen und anschließend abgestimmten Protestresolution hieß es sinngemäß: Die für diesen Mord zuständigen Kräfte sind dieselben wie die USA–hörige Junge Gemeinde. Wie üblich in diesen Zeiten, standen mehrere von uns Schülern aus der Jungen Gemeinde auch hier zusammen und hoben bei der dann folgenden „Abstimmung“ natürlich die Hände nicht.
Als die offizielle Kundgebung beendet war, näherten sich uns 3–4 Männer in Ledermänteln und fragten zunächst betont freundlich: Na, Jugendfreunde, warum habt Ihr denn nicht mitabgestimmt? Als wir antworteten (das tat man damals selbstverständlich !), „weil wir mit dem Inhalt nicht einverstanden waren“, wurden wir weiter gefragt, welche Dinge uns denn nicht gefallen hätten. Als wir sagten, die Gleichsetzung der Jungen Gemeinde mit den Kräften, die einen Mord verübt hätten, sei eine schlimme Unterstellung und empöre uns natürlich, griff unvermittelt einer der Männer an die Jacke eines Schülers und versuchte, ihm das Bekenntniszeichen der Jungen Gemeinde (Kreuz auf der Weltkugel) abzureißen, das er trug. Nun hatten die meisten schon länger wegen solcher Vorkommnisse vorsichtshalber die Nadel des Zeichens umgebogen, sodass das nicht gelang, was die Situation natürlich emotional aufheizte. In wirklich heiliger Erregung rief der Schüler: „Von schmutzigen Händen lasse ich mir das Zeichen nicht abreißen“, was natürlich auch bei den anderen die Emotionen hoch gehen ließ. Sie packten ihn und wollten ihn mitnehmen. Daraufhin Walter Beltz: „Ich werde das Zeichen freiwillig nur vor dem Bischof unserer Kirche ablegen und betonen, dass es unter Zwang geschieht“. Das reichte offenbar den Mitarbeitern der Stasi, denn Walter Beltz wurde von den Männern in das am Markt befindliche Polizeirevier gebracht.
In der Erregung, in der wir uns befanden, verabredeten wir, den Ausgang der Polizeiwache zu beobachten, um zu wissen, was mit unserem Mitschüler geschah und uns dabei abzulösen. Ich weiß noch, dass ich jemand bat, meine Mutter zu benachrichtigen und ihr zu erklären, warum ich nicht nach Hause kam; nachts zwischen ein und zwei Uhr wurde er dann aber freigelassen.
Am nächsten Morgen in der Schule erfuhren wir (wieder musste ein Schüler durch die Klassen gehen und alle informieren), dass Walter Beltz der Schule verwiesen worden sei wegen Beleidigung der Arbeiterklasse, wenn ich es recht entsinne.
Im Nachhinein fällt an dieser Schilderung auf, welch starker Zusammenhalt unter uns herrschte und wie gerade in der Zeit des Drucks keiner alleingelassen wurde.
Nachdem der „Kampf gegen die USA–hörige Junge Gemeinde“ zunächst von der Zeitung „Junge Welt“ am 3. August 1952 eröffnet worden war (das Exemplar habe ich noch), wurde auf allen Ebenen versucht, die einzelnen Schüler zu verunsichern bzw einen Keil zwischen Kirche und die Glieder der Jungen Gemeinden zu treiben. („Mitglieder“, so der Vorwurf, um die Fiktion mit der Agentenorganisation zu begründen – waren wir nicht und betonten das immer wieder, weil es ja auch keine Listen gab).
Für die Situation in der Zeit sind typisch auch die Einschüchterungs– und Denunzierungsversuche gewesen, die ich an folgenden beiden Beispielen schildern möchte.
2. Beispiel
Zur Einschüchterung wurde der Umtausch der Mitgliedsbücher der FDJ eingesetzt, weil damit die Möglichkeit gegeben war, Einzelgespräche mit den Schülern zu führen, die zur Jungen Gemeinde gehörten.
Mit unguten Gefühlen erinnere ich mich an das Gespräch, das oben im Dachgeschoß der Schule stattfand und von einem Funktionär wohl der Kreisleitung mit mir geführt wurde. Immer wieder ging es um die Frage, warum ich denn als doch moderner und fortschrittlicher junger Mensch in der Jungen Gemeinde sei und dass mich diese Bindung in meiner Zukunft (kleiner Druckhinweis!) doch sehr behindern würde. Ich versuchte hilflos gegen die Vorwürfe, die denen aus der „Jungen Welt“ ähnelten, anzudiskutieren und mit schlechtem Gewissen so zu argumentieren, dass ich ja nicht immer zur Kirche ginge und an solchen Sonntagen, wo die FDJ einen Arbeitseinsatz oder andere Aktivitäten plane, auch darauf verzichten würde. Außerdem wäre ich für „Kultur“ zuständig, hätte Theaterkarten zu verteilen und Geld dafür einzukassieren, was gut mit dem Anliegen des christlichen Glaubens zu vereinen sei. Ich habe den neuen FDJ– Ausweis dann später bekommen, weiß aber nicht, was hinter den Kulissen geschehen ist und wer über dieses Gespräch informiert worden ist.
3. Beispiel
Viel stärker berührte mich in der Zeit, wo schon einige von uns den Weg in den Westen gewählt hatten, ein anderes Erlebnis. Es hätte beinahe unübersehbare Folgen für mein Leben gehabt. Eines Tages flüsterte mir aufgeregt eine Mitschülerin (Ramona Raczynski) zu, dass sie unfreiwillig Zeugin verschiedener geheimer Gespräche geworden sei und gab mir den Rat, ganz schnell auch in den Westen „abzuhauen“, es war wohl an einem Freitag, ich wäre sehr gefährdet. Was hatte sie zu berichten?
Sie wohnte im Internat der Oberschule, wo natürlich die Indoktrinierung viel einfacher war, weil durch klare Regeln der Einfluß der diensthabenden Pädagogen größer war als bei uns, die wir zu Hause lebten. Unser Deutsch– und Staatsbürgerkundelehrer Herbert L., der unsere angeblich verdorbene Klasse in der Stufe 10 übernommen hatte mit der öffentlich geäußerten Zielsetzung, aus uns eine sozialistische Klasse zu formen, hatte im Internat einen Zirkel für die Anwärter auf Parteimitgliedschaft gebildet und erklärt, er müsse alle zu starker Beobachtung meiner Person aufrufen. Der Grund, den er angab: Ich hätte in einer großen Pause in der Schule (!) von einem Agenten Brückenpläne übergeben bekommen, und solle nun in nächster Zeit diese Brücke sprengen! Das müsse natürlich durch ihre Aufmerksamkeit verhindert werden. Leider war sie bei der Weitergabe dieser Informationen an mich doch von den 2–3 Mitschülerinnen dieses Zirkels beobachtet und daraufhin zur Rede gestellt worden, was letztlich aber dazu führte, dass sie nicht mehr an den Zusammenkünften teilnehmen musste.
Was sich heute wie ein schlechter Witz anhört und auch damals natürlich keinen realen Hintergrund hatte, erschreckte meine Mitschülerin und mich natürlich fürchterlich. Da man den ersten von der Schule verwiesenen Schülern sofort ihren Personalausweis abgenommen hatte, der bei der Fahrt nach Westberlin vorgezeigt werden musste, gab es natürlich nur die Möglichkeit, einem Rausschmiss aus der Schule zuvorzukommen und die „Flucht“ dorthin zu wagen.
Was sich daraufhin dann alles in unserer kleinen Familie abspielte, war schlimm, ich will es auch nur kurz schildern. Meine ältere Schwester war bereits in den Westen gegangen, weil sie nach dem Abitur wegen Nichtzugehörigkeit zur FDJ keinen Studienplatz für ein Russisch–Dolmetscherstudium bekommen hatte; meine Mutter war Witwe und arbeitete in der Poliklinik der Stadt. So besuchte ich meine Patentante, unvergesslich, wie sie wortlos an ihre Schatulle ging, sie aufschloss und mir das gesamte in ihr enthaltene Bargeld mit den Worten übergab: „Damit Du einen Anfang hast, mein Jung“ (der Tauschsatz betrug damals etwa 4 : 1 in Westberlin).
Ich packte also meine Sachen in einen kleinen Koffer und beschloss, am Sonntag den Versuch zu wagen, nach Westberlin zu fliehen. Der in Frage kommende Zug fuhr aus Schwerin kurz vor 12 Uhr, von den sicher schwierigen Gesprächen mit meiner Mutter erinnere ich leider kaum noch Einzelheiten, jedenfalls stand der Entschluss zum Gehen fest.
Aber das weiß ich genau: Wir wollten beide noch in den Gottesdienst gehen, in die Paulskirche, in der ich konfirmiert worden und jahrelang Kindergottesdiensthelfer war.
Ich mit dem Koffer neben mir unter der Bank, aufgeregt, unsicher, meine Mutter sicher noch viel mehr. Und wenn ich auch nicht viel mitgekriegt habe, an einen Satz der Predigt erinnere ich mich deutlich: Wer wegläuft, ist ein Feigling! Das habe ich gehört in einer Predigt sicher über ganz andere Zusammenhänge, und ob das überhaupt so gesagt worden ist oder bei mir nur so angekommen ist, wer will das von hinterher klären. Fakt ist, dass ich im Gottesdienst laut zu meiner Mutter gesagt habe: „Ich bleibe hier“, und dann mit meinem Koffer wieder nach Hause gegangen bin und meine Patentante ihre 400 Mark, für uns damals viel, viel Geld – zurückbekommen hat.
Und ich flog nicht von der Schule, obwohl mich manchmal wunderte, warum dieses Ereignis nicht eintraf. (Siehe dazu die Erklärung unten, weil die Namensliste der zu Relegierenden eben im Alphabet noch nicht so weit abgearbeitet war!)
4. Beispiel
Aufsatz im Fach Deutsch zu Ostrowskis „Wie der Stahl gehärtet wurde“.
Einen Höhepunkt der Angriffe gegen die Junge Gemeinde erlebten wir im Fach Deutsch. Herr Herbert L., unser Klassenlehrer, hatte uns schon einige Tage auf einen Aufsatz vorbereitet, der über alle sechs Schulstunden eines Tages geschrieben werden würde. Als wir in die Klasse kamen, saß dort Herr Rudolf Gahlbeck, unser Kunsterziehungslehrer. Er war einer der interessantesten Lehrer für mich. Wenn er einen ansah, konnte man an nichts anderes mehr denken, so fesselnd war seine Sprache und Ausstrahlung, jedenfalls ging es mir so, und ich konnte keine Vorbereitungen für andere Fächer nebenbei machen, wie sonst. Wir wussten, dass er nicht nur ein sehr humanistisch gebildeter Künstlertyp romantischer Art war (in fast allen Genres hatte er sich versucht, Filmdrehbücher genauso geschrieben wie eine Oper, malte und schnitt meisterhaft, konnte Kunstschriften mit uns üben, hatte Ernst Barlach selber noch gekannt und ihn uns fesselnd als Person nahegebracht, auch den österreichischen Staatspreis für seine Barlachsonette erhalten und das Altarbild im Gemeindehaus der Paulsgemeinde geschaffen, das ich dort immer sah, wenn ich zur Christenlehre oder zum Gottesdienst ging), sondern eben auch praktizierender Christ und im Kirchgemeinderat der Schelf–Gemeinde.
Ich erinnere mich noch ganz genau, wie er einen Umschlag mit dem Aufsatzthema von Herrn L. öffnete, den Zettel las, laut stöhnte und uns dann das Aufsatzthema bekanntgab. Es lautete: „Welche Lehren ziehen Sie aus Ostrowskis ’Wie der Stahl gehärtet wurde` zum Kampf gegen die USA-hörige Junge Gemeinde?“ Herr Gahlbeck stützte danach seinen Kopf in die Hände und machte durch Haltung und Mimik deutlich, dass er weder mit dem Thema einverstanden noch gewillt war, es durchzusetzen bzw unsere Reaktionen zu unterbinden.
Und so haben wir drei Jungens, die wir aus der Klasse in die Junge Gemeinde gingen, uns unverhohlen abstimmen, unterhalten und über unser Verhalten austauschen können. (Durch die strikte Trennung von Jungen und Mädchen in der kirchlichen Jugendarbeit haben wir damals leider kaum intensiven Kontakt zu den Mitschülerinnen unserer Klasse gehabt und nicht gewusst, wer von ihnen ebenso dachte wie wir und zur Jungen Gemeinde gehörte; sie standen aber eben nicht so im Blickpunkt wie wir !)
Wir haben, wenn ich es recht erinnere, ganz unterschiedliche Wege gewählt. Einer sagte: Ich schreibe dazu nichts, gab sofort sein leeres Heft ab und verließ die Klasse; ein anderer protestierte gegen die Unterstellung des Themas; ich versuchte eine inhaltliche Auseinandersetzung in dem Sinne, dass das Thema Aberglauben in dem Buch und Junge Gemeinde fälschlicherweise verglichen seien und habe dann die Passagen des Buches über den Aberglauben geschildert und besprochen. Aber auch das half nichts, mein „Aufsatz“ wurde mit einer 5 benotet.
Uns ist durch dieses Vorkommnis klargeworden, wie stark die Schule in die Auseinandersetzung mit der Jungen Gemeinde einbezogen war, was unsere Angst natürlich verstärkte, andrerseits aber auch einen gewissen Bekennermut provozierte. Dass unser Klassenlehrer kniff und uns nicht selber das Thema zu dem Aufsatz gegeben hat, ließ seine Autorität und sein Ansehen, wenn das noch möglich war, weiter sinken. Das hat am Ende der 10. Klasse, als er uns entnervt abgegeben hat, nicht ohne vorher dafür gesorgt zu haben, dass mehrere Schüler aus der Schule geflogen waren, zum offenen Konflikt mit ihm auf der Klassenfahrt geführt, bei der wir (jedenfalls viele) den sog. „passiven Wanderstil“ einführten. Der sah so aus, dass eine Gruppe konstant 30 Meter vor ihm und die andere 30 Meter hinter ihm ging und konsequent darauf achtete, dass diese Abstände nicht verringert wurden, sodass ihm ein Gespräch mit uns unmöglich gemacht wurde und er spüren musste, wie unbeliebt er bei uns war
5. Beispiel
Schulvollversammlung am 1. April 1953 mit Relegierung von 4 Schülern aus der Jungen Gemeinde (K. Fischer, A. v. Maltzahn, P. Morre`, ....)
Diesen Tag werde ich wohl nie vergessen.
In unserer Schule gab es wöchentlich wechselnden Schichtunterricht, wir waren vormittags „dran“. Ich war in der 10. Klasse und 15 Jahre alt. Als ich die Treppen zu unserem Klassenzimmer hoch ging, sagte mir ein Schüler, der von einer ähnlichen Versammlung in der Schule II am Vortag nachmittags erfahren hatte, auf mein Bekenntniszeichen (Kreuz auf der Weltkugel) weisend: „Heute geht`s Euch an den Kragen !“ Ich nahm das zunächst nicht weiter ernst, habe mich aber hinterher immer an diesen Satz erinnert. Denn tatsächlich kam gleich zu Unterrichtsbeginn ein Schüler durch alle Klassen, der alle Schüler zu einer Vollversammlung in die Aula im 1. Stock „einlud“.
Als wir die Aula betraten, wunderten wir uns darüber, dass ein großer Teil der Plätze bereits besetzt war. Wie wir gleich erfahren sollten, waren das „Arbeiter aus dem Patenbetrieb der Schule“, wenn ich mich recht erinnere, war das das Klement–Gottwald–Werk (Kranbetrieb). Andere meinen, es wäre die „Bauunion“ gewesen.
Das erhöhte in Zusammenhang mit dem Satz auf der Treppe die Unruhe, die mich erfasste. Ich weiß nicht mehr genau, ob ich an dem Morgen an der Andacht im Dom teilgenommen hatte, die jeden Morgen vor der Schule von einem aus der JG gehalten wurde; aber gebrauchen konnte ich eine innere Stärkung schon, denn was dann über uns hereinbrach, erschien mir völlig unfassbar und bis heute unverständlich.
Mehrere Lehrer und wohl auch FDJ – Funktionäre saßen vor uns an Tischen und bildeten sozusagen ein Präsidium, der Direktor Herr Bruno B. eröffnete an einem mit rotem Tuch bespannten Rednerpult die Versammlung mit den Worten, dass es nun an der Zeit sei, Maßnahmen gegen die Junge Gemeinde zu ergreifen, die als Agentenorganisation des Westens auch an unserer Schule Fuß gefasst hätte.
Und ehe wir uns versahen, was überhaupt geschah, forderte er die „Jugendfreunde“ auf, Namen derjenigen zu nennen, die an unserer Schule zu dieser feindlichen Organisation gehören und bat um Wortmeldungen. Und wie aus der Pistole geschossen meldete sich der erste (mit einem kleinen Zettel in der Hand), bekam das Wort, stand auf und sagte: „Ich nenne den Schüler ...... aus der Klasse ......Er gehört schon seit langer Zeit zur Jungen Gemeinde“ und es folgten angebliche Verstöße oder Vergehen, läppisch bzw Lügenkram. Und so ging es mehrfach weiter.
Ich weiß im einzelnen nicht mehr, was alles gesagt wurde, weil mir die Angst in die Glieder gefahren war, erinnere mich aber genau an zwei Dinge, die sich festgesetzt haben. Einerseits wurde versucht, zu argumentieren, es sei ein Zeichen der besonderen Gefährlichkeit dieser „Organisation“, dass sie Schüler mit sehr guten Leistungen an sich binde, andrerseits gab es die Aussage zu einem Schüler aus meiner Klasse, Peter Morre, dass der durch die Teilnahme an der JG „natürlich“ in seinen Leistungen abgesackt und schulisch schlechter geworden sei. Weiter wurde bei einem Schüler der 12. Klasse als besonders schlimmes Vergehen angeführt, dass er zu Treffen der FDJ–Gruppe meist nicht erscheine, aber zu den Proben der Laienspielgruppe der JG gehe und dass sein Vater in Westberlin studiere (also im Einflussbereich des Gegners!).
Es waren dann wohl 4 oder 5 solcher denunzierenden Informanten, die sich da nacheinander meldeten und Namen von Schülern nannten. Sie waren eindeutig vorher mit Einzelheiten oder den Namen versorgt worden, hielten auch meistens einen Zettel in der Hand.
Nach dem Letzten, der geredet hatte, wurde es still, und erst jetzt sahen wir, dass sich die ganze Zeit wohl schon jemand gemeldet hatte, den wir von hinten, wo ich saß, nicht wahrnehmen konnten.
Die ganze Zeit über waren siedendheiß in mir Gedanken herumgerast, dass man gegen diese infamen und dummen Lügen doch eigentlich aufstehen und sie erwidern müßte, aber ich fühlte mich einfach dazu nicht in der Lage und hatte schlichtweg Angst. Dauernd hoffte ich, dass einer von den Älteren, wir kannten uns ja doch alle von den monatlichen Zusammenkünften (Monatsrüste) oder den wöchentlichen Treffen in Jugendkreisen oder den Proben des Kreuzfahrer–Spielkreises, das schaffen könnte.
Und genau dies traf jetzt zu. Albrecht von Maltzahn war derjenige, der sich schon länger gemeldet hatte, und der Direktor kam nicht darum herum, ihm jetzt – sehr widerwillig – das Wort zu erteilen. Und nun geschah das Unfassbare. Während alle die „Informanten“ von ihren Plätzen geredet und wir das auch für selbstverständlich gehalten hatten, es war ja durch die vielen Schulfremden sehr eng, erhob sich der in der 12. Klasse lernende Schüler von seinem Platz, drängte sich durch die Reihen, erreichte den Mittelgang und ging nach vorne, an den Lehrern vorbei und zum Rednerpult. Allein das ließ mir den Atem stocken, woher hatte einer in der aufgeheizten Atmosphäre solche Ruhe, solche Sicherheit ?
Unfassbar schien mir dieses Verhalten, und mir fiel der Bibelvers ein, der uns in jenen Tagen oft als Beschreibung der Lage und Zuspruch in der Situation getröstet hatte: „Man wird euch vor Statthalter und Könige führen um meinetwillen, ihnen zum Zeugnis ...Wenn sie euch nun hinführen und überantworten werden, so sorgt euch nicht vorher, wie oder was ihr reden sollt, denn es wird euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn ihr seid’s nicht, die da reden, sondern der heilige Geist“.
Vorn angekommen, schien es noch stiller zu werden. A. v. M. begann: Zunächst wolle/müsse er zu der Behauptung Stellung nehmen, die JG sei eine amerikanische Agentenorganisation. Das wäre natürlich falsch, und zog einen Zettel heraus – ich fragte mich, woher er den denn auf einmal hatte und glaubte wirklich, ein Wunder zu erleben – und las vor, was die Bischöfe (?) der DDR–Kirchen gestern in einer Erklärung betont hätten: „Die Junge Gemeinde sei die Jugend der Kirche; und wer die JG angreife, greife also die Kirche an“. Man hätte eine Nadel in der Aula auf den Boden fallen hören können – so still war es geworden.
Und zu den Vorwürfen gegen ihn persönlich sei zu sagen, dass sein Vater in (englischer?) Gefangenschaft nach dem Krieg die Möglichkeit erhalten hätte, zu studieren und eine Weiterführung dieses Studiums wäre eben nur in Westberlin möglich. Außerdem stimme nicht, dass er zu Einladungen bzw. FDJ–Veranstaltungen nicht ginge, sondern er wäre gewohnt, dahin zugehen, wo er zuerst eingeladen und zugesagt habe. Und die Proben, von denen die Rede sei, wären immer lange vorher bekanntgegeben, während die FDJ–Zusammenkünfte sehr spät, meistens kurzfristig angesetzt würden. Und so sei zu erklären, dass er dann dahinginge, wo er zuerst zugesagt habe. Sprach`s und ging ruhig, wie es schien, zu seinem Platz.
Und plötzlich, kaum zu fassen, brandete Beifall und Klatschen auf, und in uns löste sich dadurch die Spannung. Das war aber natürlich den Funktionären zuviel, und so sprang ein „Arbeiter“ (Funktionär) des Patenbetriebes auf und schrie außer sich vor Wut in die Menge, was das denn wohl zu bedeuten hätte, dass diesem Klassenfeind und Gegner Beifall geklatscht würde. Ob das denn heißen solle, dass der Recht und wir Unrecht haben? Und dann hörte man in die Stille laut und vernehmlich eine Mädchenstimme sagen: „Hat er doch auch!“
Darauf brach die Hölle los, die Lehrer steckten aufgeregt die Köpfe zusammen, eine Schülerin wurde wie in einer Massenhysterie nach draußen getrieben. Nach kurzer Absprache mit den Lehrern verkündete Herr B., dass diese Schülerin ebenfalls die Schule zu verlassen hätte wie die vorher genannten und bezeichneten Schüler von der Schule verwiesen worden seien.
Fortan ging die Furcht unter uns Gliedern der Jungen Gemeinde um (in der Propaganda gegen die Junge Gemeinde wurde immer von „Mitgliedern“ gesprochen, um den Organisationscharakter zu betonen, während wir wussten und dagegen argumentierten, dass es keine Mitgliederlisten gab, wie in der Presse dauernd zu lesen war), die wir noch auf der Schule waren, wann wir wohl der Schule verwiesen werden würden. Tatsächlich habe ich, nachdem ein uns sehr fair gegenüberstehender Lehrer (Herr Kremp) mich auch einmal einzeln gefragt hatte, ob wir denn nicht das Bekenntniszeichen eine Weile nicht tragen könnten, weil die anderen ja „spinnen“ und keine Ruhe geben würden, mein Zeichen in der Schule nicht mehr getragen, wodurch ich mir aber sehr schäbig vorkam und später geschämt habe.
Typisch für die aufgeheizte Atmosphäre war auch, dass am nächsten Tag ein Schüler durch die Klassen gehen und zur Kenntnis geben musste, dass „aus Versehen“ gestern ein falsches Mädchen aus der Aula getrieben worden wäre, das den Satz gar nicht gesagt hätte und folglich wieder in die Schule aufgenommen wäre; die Schülerin, die laut und deutlich gesprochen hatte: „Recht hat er ja auch“ sei eine FDJ–Sekretärin gewesen, die allerdings im Gespräch auch schwere ideologische Mängel gezeigt hätte, aber trotzdem auf der Schule verbleiben könne.
Erst viel später, nach dem 11. Juni und der Rücknahme aller Maßnahmen gegen die Junge Gemeinde und der ausgesprochenen Schulverweise, klärte sich, warum einige von uns noch nicht „geflogen“ waren. Das hatte einen ganz einfachen bürokratischen Grund, die Liste der Junge–Gemeinde–Glieder war eben noch nicht (im Sinne von Schulverweis) „abgearbeitet“ worden, und so waren auf der Schule noch die Schüler der Jungen Gemeinde verblieben, deren Nachnamen mit Anfangsbuchstaben im hinteren Teil des Alphabets begannen. Denn bei manchen von uns und denen, die bereits von der Schule relegiert worden waren, hatte die Tatsache, dass zum Beispiel Günther Rein, Friedrich–Karl Sagert (der spätere Landesjugendpastor) und ich (Schnauer) noch nicht geflogen waren, Unsicherheit, ja auch Misstrauen ausgelöst, weil man vermuten musste, dass wir nicht klar genug dazu gestanden hätten.
Soweit die Ereignisse von 1953.
Von hinterher gesehen hat diese Zeit mein Zugehörigkeitsgefühl zur Jungen Gemeinde und damit zur Kirche stark beeinflusst, und sehr wahrscheinlich hätte ich ohne diese Erfahrungen meinen Studienplatz für Hochfrequenztechnik in Dresden nicht aufgegeben und Theologie studiert.
Als ich dann zwei Jahre später in der 12. Klasse war, hatte ich mich bei der Technischen Hochschule Dresden um einen Studienplatz in Hochfrequenztechnik beworben und ihn bereits zugesagt bekommen.
Da zeigte sich die Art, mit der Pastor Wellingerhof seine Menschenkenntnis und seinen Einfluss auf Menschen einsetzte. Länger schon kannte mich PW (offensichtlich) gut.
Eines Tages sagte er so nebenbei zu mir: „Ich habe dich für eine Rüstzeit in Bützow an dem und dem Wochenende angemeldet.“ Darauf ich: „Was ist das denn für eine Rüstzeit?“ PW: „Für Leute, die in den kirchlichen Dienst gehen wollen.“ Ich sagte: „Ich gehe doch nicht in den kirchlichen Dienst, ich werde Ingenieur für Hochfrequenztechnik“. PW trocken und ohne jede Emphase: „Ja, ja natürlich, aber hinfahren kannst du ja ruhig mal!“
Und ich fuhr nach Bützow – und kam zurück und sagte zu meiner Mutter: „Ich studiere Theologie!“ Die Reaktion war: „Junge, du bist verrückt!“
Auch wenn ich die Argumentation auf dieser Rüstzeit hinterher ganz schön gefährlich fand und dann im Studium und später an dieser Entscheidung zu knacken hatte, weil sie wohl doch mehr von der Gemeinschaft mit denen, die ich aus der Jungen Gemeinde gut kannte, bestimmt war, mit denen ich gern den Weg zusammen weitergehen wollte – ich denke, dass PW gewusst hat, dass ich mich auf diesem Wochenende so entscheiden würde.
Und diese seine ruhige Art war schon beeindruckend und hilfreich, auch später noch.