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Otto, der Lebenskünstler

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„Nennen Sie mich „Otto, der Schräge“ oder „Otto, der Weltenbummler“ oder auch „Otto, der schlaue Jude“, das trifft alles auf mich zu.“ - Das erste Mal kam Eberhard Otto im Sommer 1991 zu uns ins Seemannsheim und fiel gleich durch seine Kontaktfreudigkeit und Quirligkeit auf. Jeden spricht er sofort an und redet dann meistens in der Muttersprache des Gegenübers ohne Pause wie ein Wasserfall auf ihn ein. Als Zuhörer ist man sich nie sicher, ob man es mit Dichtung oder Wahrheit, mit Seemannsgarn oder echten Abenteuern zu tun hat. Sein Sprachgenie scheint es zu bestätigen, dass er von den Erzvätern Israels abstammt: „Ich spreche fließend deutsch, englisch, französisch, spanisch, italienisch, portugiesisch, griechisch, hebräisch, jiddisch und etwas polnisch und russisch, obwohl ich nur wenige Jahre Schulbesuch genießen konnte. Überhaupt war die Schule nicht mein Fall. Meine Sprachkenntnisse habe ich mir im Kollegenkreise an Bord der Schiffe und in den Ländern angeeignet, durch die ich gekommen bin.

Im Juni 1936 wurde ich von einer jüdischen Mutter namens Dolecek in Breslau geboren. Sie lebte unverheiratet mit meinem Vater, einem reisenden Händler, zusammen. Im jüdischen Kulturkreis ist immer die Mutter am wichtigsten für die Prägung des Kindes und ausschlaggebend für die religiöse Erziehung. Etwa eine Woche nach meiner Geburt wurde ich beschnitten. Meine Eltern wurden 1942 verschleppt. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Mit etwa sieben Jahren kam ich zu katholischen Pflegeeltern, die mich später adoptierten und mir ihren Namen Otto gaben. Warum ich die Nazijahre in Deutschland überleben konnte, weiß ich nicht, vielleicht habe ich die düsteren Erlebnisse verdrängt. Überhaupt habe ich wenige Erinnerungen an meine frühe Kindheit. Durch die turbulenten Ereignisse am Ende des Krieges kam ich von Schlesien in die Mitte Deutschlands und, als meine Adoptiveltern an Tuberkulose verstarben, in Rosdorf bei Göttingen in das von katholischen Ordensschwestern geleitete Waisenhaus „Himmelstür“. Dort mussten wir mehr beten, als wir zu essen bekamen, uns bei jeglicher Gelegenheit bekreuzigen, jeden Morgen zur Heiligen Messe gehen und wurden um 6 Uhr abends eingeschlossen. Das empfand ich wie im Knast. So haute ich alle Nase lang ab, meistens zusammen mit anderen Jungen aus dem Heim, und entwickelte einen ausgeprägten Wandertrieb, der noch heute in mir sitzt. Deshalb kam ich mit knapp 17 Jahren in das abgelegene, ebenfalls katholische Erziehungsheim „Johannisburg“ im Börgermoor bei Papenburg im Emsland, nahe der holländischen Grenze, das von den Brüdern des Ordens St. Vinzenz von Paul geführt wurde. Wir mussten im Moor Torf stechen. Flucht war kaum möglich, da der Fußweg zum zehn Kilometer entfernten Bahnhof durch unwegsames Moor führte. Bei guter Führung durfte man einmal jährlich, mit einigen Mark Taschengeld ausgestattet, für eine Woche bei Verwandten Urlaub machen. Im Alter von 18 Jahren wurde ich 1953 in Emden in die Schiffsjungenschule vermittelt. Wir bekamen dort eine Glatze geschoren, eine blaue Uniform verpasst und wurden drei Monate lang für den Decksdienst getrimmt: Pullen, Wache schieben, Bootsdrill, Spleißen, Knoten üben, Rost klopfen, Farbe malen.

Mit dem frisch erworbenen Seediensttauglichkeitszeugnis bestieg ich als Decksjunge mein erstes Schiff, das Kümo „GLÜCKSBURGT“, Heimathafen Glückstadt. Mit einer Ladung Koks ging es von Emden über Wilhelmshaven, Bremerhaven und um Jütland herum nach Kopenhagen. Ich blieb sechs Monate an Bord. Zu meinen Aufgaben gehörte auch Küchenarbeit: Kartoffelschälen, Kaffee aus der Kombüse auf die Brücke zu holen. Auf See durfte ich steuern. Zum Schlafen kam ich nur sechs Stunden zwischen 24 und 6 Uhr. Als Heuer bekam man damals als Decksjunge 150,- DM plus Überstundenvergütung.“

Anschließend war Eberhard als Messejunge auf den Schiffen „VULKAN“ und „BALKAN“ bei der Reederei Komrowski und ein gutes halbes Jahr auf dem Hapag-Dampfer „BRANDENBURG“ als Steward tätig.

In den fünfziger Jahren nahm er in Bochum auf der Kohlenzeche „Unser Fritz“ eine Lehre im Bergbau auf und arbeitete 800 Meter unter Tage. „Da unten gab es keine Seeluft. Man kam schwarz wie ein Neger ans Tageslicht zurück und musste sich in der Waschkaue erst vom Kollegen den mit Schweiß und Kohlestaub verschmierten Rücken „buckeln“ lassen. Nach Feierabend war ich schlapp und hundemüde. Nach einem Jahr hatte ich die Schnauze voll. Schlagende Wetter und andere Gefahren im Berg schreckten mich ab.

Ich ging nach Kassel und arbeitete neun Monate lang als Schlafwagen-Kellner in noch von Dampflokomotiven gezogenen Fernzügen auf der Strecke über Bebra und Nürnberg nach München oder Richtung Frankfurt. Durch Bierverkauf und Trinkgelder war der Verdienst gut, aber auf Dauer ganz schön schlauchend. Die lange Nacht arbeiten und morgens am Zielbahnhof noch alle Betten neu beziehen.“

Auf dem von der NAL bereederten norwegischen Tanker „KONGSFJORD“ fuhr Eberhard 1958/59 ein knappes Jahr als Messesteward nach Madagaskar und zu den südafrikanischen Häfen Durban und Capetown. Er hatte dabei einige Mark zusammensparen können und ging auf Wanderschaft. In Marseille meldete er sich im Fort Saint Nicolaus bei einer Anwerbestelle der französischen Fremdenlegion und ließ die gründliche ärztliche Untersuchung über sich ergehen. „Eine Woche hatte ich Zeit für die Entscheidung. Da mir der Sold zu niedrig für das hohe Risiko erschien, unterschrieb ich die Verpflichtung nicht. Ich war noch nicht lebensmüde genug.“


Er zog über Spanien und von dort mit der Fähre über die Straße von Gibraltar nach Marokko. „Von Tanger aus fuhr ich mit dem Bus nach Rabat und Casablanca. In Marokko lebten damals noch von altershehr viele Juden, einfache und schlichte Menschen. Sie wohnten in der Medina, der Altstadt von Casablanca in enger friedlicher Gemeinschaft mit den Arabern Haus an Haus. In der Familie eines jüdischen Goldschmiedes wurde ich mit dem obligatorischen, die Gastfreundschaft besiegelnden grünen Pfefferminzetee und Gebäck auf Kamelkissen sitzend begrüßt und blieb dort zwei Jahre lang. Ich fand meine jüdische Identität wieder, lernte die jüdischen Sitten und Gebräuche, hebräisch und französisch und machte mich in diesem Hause nützlich, wo ich konnte. Später wanderte diese Familie nach Israel aus. Insgesamt war ich von 1959 bis 1963 drei Jahre in Marokko. Man wollte mich sesshaft machen, doch das gelang nicht. Es trieb mich immer wieder in die Welt hinaus. In Casablanca konnte ich 1963 auf einem norwegischen Tanker anheuern, der zunächst den Persischen Golf ansteuerte und dann mit einer Ladung Öl in einer Zwanzig-Tage-Reise zu dem Raffinerie-Hafen Geelong bei Melbourne/Australien fuhr. Ich war als einziger Deutscher in der sonst aus Norwegern und Philippinos bestehenden Mannschaft. Ein Jahr lang fuhr ich auf dem Schiff zwischen dem Persischen Golf und Australien hin und her. An Bord gab es keinen Alkohol und kaum Landgang, so dass man die Heuer gut zusammenhalten konnte. Ein Zubrot verdiente ich mir bei den Aufenthalten in Kuwait durch Blutspenden. Für einen halben Liter Lebenssaft gab es 30,- Pfund (damals ca. 100,- DM) und ein kräftiges Frühstück. Da die Araber aus religiösen Gründen kein Blut spenden dürfen, waren wir Europäer dafür sehr gefragt.“

Auf einem Tanker des griechischen Reeders Onassis fuhr Eberhard anschließend von Rotterdam und Antwerpen nach Mittel- und Südamerika zu den Ölhäfen Curacao, Aruba in Venezuela und Tampico in Mexico. „Nach einem halben Jahr verließ ich 1965 das Schiff in Porto Cavellio mit Einverständnis des Kapitäns und genügend Dollars in der Tasche und blieb bis 1991 im süd- und mittelamerikanischen und von dort aus zwischendurch auch im pazifischen Raum. Ich arbeitete als Kellner an Land in verschiedenen Gaststätten und als Touristenführer. Von Venezuela zog ich nach Kolumbien. Mit dem Fährschiff setzte ich nach Panama über, um von dort mit dem „Greyhound“-Überlandbus nach Costa Rica weiterzureisen. Dort fand ich Anschluss in der deutschen Kolonie und einen Job als deutsch-spanischer Dolmetscher in der deutschen Humboldt-Schule und beim Goethe-Institut. Privatschülern gab ich Einzelunterricht. Ich lebte mit einem hübschen Mädchen zusammen. Als die Familie auf Heirat drängte, gewann mein Hang zu Unabhängigkeit und meine Sehnsucht nach der Weite der Welt die Oberhand und zwang mich zur Abreise. In Nicaragua, wo es zu des Diktators Somozas Zeiten für Deutsche auch bei geringen Geldmitteln keine Probleme mit der Aufenthaltserlaubnis gab, blieb ich ein halbes Jahr. Bei Entwicklungshelfern des Peacecorps arbeitete ich für freies Logis, kochte und machte mich im Hause nützlich. Von Porto Corinto an der Pazifikküste fuhr ich auf Fischtrawlern in der Kombüse mit US-$-Heuer unter Panama-Flagge. Es war eine sehr schwere Arbeit. Ich musste auch beim Netzeinholen mit Hand anlegen. Wir blieben immer zwei Monate auf See. Wegen der Einsamkeit wurde viel getrunken. Man stank penetrant nach Fisch und konnte sich kaum waschen. In San Diego in Kalifornien musterte ich mit knapp 2.000 $ in der Tasche ab. Es bestand Visumzwang. Mit einem Transitticket kam ich über den Grenzübergang Tijuana nach Mexiko, wo ich 1970 in den reichen Touristenstädten Mazatlan und Acapulco auf Grund meiner guten englischen und spanischen Sprachkenntnisse für 500 $ und Unterkunft in Hotels, Discotheken und Nachtbars reichlich Arbeit fand.

Zwischen 1970 und 1980 hielt ich mich wieder in Südamerika auf: in Venezuela, Kolumbien, Chile, Argentinien, Paraguay und Brasilien. 1985/86 war ich ein knappes Jahr auf der französischen 75-Meter-Jacht „CUTTY SHARK“ tätig, die überwiegend unter Segeln, aber im Bedarfsfall auch mit eigener Motorkraft (das Schiff hatte eine starke Maschine und zwei Schrauben) von Hawaii aus in Französich-Polynesien im Gebiet der Tahiti- Fidji-, Tonga-, Bora-Bora und Marquis-Inseln mit zahlungskräftigen jüngeren Touristen unterwegs war. Ich war „Mädchen für alles“ an Bord, putzte, bezog die Betten, half in der Küche oder an Deck, stieg in Panama ein und zum Schluss auch wieder aus und bekam monatlich 1.000 US-$. In 12 Kammern konnten wir bis zu 12 Passagiere mitnehmen, überwiegend aus USA, Australien, Neuseeland oder Frankreich, die in der Regel Segelsport-Erfahrungen hatten und bei den Segelmanövern auf der Jacht aktiv mitmachten. Meistens blieben sie 12 bis 14 Tage an Bord. Die Besatzung bestand aus 15 Köpfen. Der Kapitän war Franzose, der Nautische Offizier Engländer. Der Funker kam aus Spanien. Wenn wir in einen Inselhafen einliefen, wurden wir mit Hula-Hula-Musik, Bauchtänzen und Blumenkränzen begrüßt und man verliebte sich in die knackigen Mädchen. An Land wurden Partys gefeiert. In klaren Gewässern konnten die Passagiere tauchen.

Von 1986 bis 1991 arbeitete ich wieder in Südamerika an Land: in Buenos Aires in Argentinien, in Montevideo in Uruguay, in Belem an der Amazonasmündung und in Manaos am Mittellauf des Amazonas in Brasilien. Ich musste mich gegen Malaria und Gelbfieber impfen lassen. Mit einem Fluss-Passagierschiff fuhr ich sieben Tage lang den Amazonas aufwärts an die peruanische Grenze. Man schlief an Deck in Hängematten. Für zwei Jahre nahm ich einen Job als Koch und Kellner für monatlich 800 $ bei amerikanischen Petrol-Drillings der Firmen Oxy und Texaco an. Unser Camp im peruanischen Urwald am Iquitos, einem Nebenfluss des Amazonas, bestand aus einfachen Wellblechbaracken. Anschließend jobbte ich ein Jahr lang bis 1990 bei Goldwäschern am Ucavali-Fluss, ebenfalls im peruanischen Urwald. Wir waren eine von einer amerikanischen Privatfirma engagierte internationale Goldsuchercrew. Die Gesellschaft stellte Ausrüstung und Material. Der Finder erhielt eine Abfindung für das Gold je nach Größe des Fundes. Es war ein Nomadenleben. Mal schliefen wir auf unseren Booten, mal in Zelten. Wir mussten uns vor Banditen schützen und ständig Wachen aufstellen. Wasserflugzeuge holten in regelmäßigen Abständen die angesammelten Goldfunde ab.

Die deutschen Botschaften verlängerten mir meinen deutschen Pass auf Grund meines guten Leumundes immer wieder, allerdings lediglich für ein Jahr. Finanzielle Unterstützung bekam ich jedoch nie, falls ich mal in wirtschaftliche Notsituationen kam. Dann setzte ich meine Kippa, mein jüdisches Gebetskäppchen, auf und ging zum nächsten Rabbiner. Die gibt es in jeder größeren Stadt in Mittel- und Südamerika. Bei meinen jüdischen Brüdern bekam ich immer Hilfe, aber sie wollten mich auch sesshaft machen und in ihre Gemeinde eingliedern. Ein deutscher Kapitän jüdischer Abstammung namens Trautmann war es auch, der mich im Frühjahr 1991 von Peru aus auf der unter Liberia-Flagge fahrenden „HORN STAR“ mit nach Deutschland nahm. Ich musste mir unbedingt neue deutsche Papiere besorgen. So kam ich Anfang Juni nach Hamburg und in das Seemannsheim am Krayenkamp, in dem ich vorübergehend ein schönes Zuhause fand. Das Sozialamt übernahm die Aufenthaltskosten. Die Behörden in Hamburg verhalfen mir zu einer Geburtsurkunde, einem Personalausweis und einem neuen Reisepass. Nach zweieinhalb Monaten flog ich auf eigene Kosten zu den Kanaren, wo ich in einem Hotel Arbeit fand.“

Im Mai 1993 kam Eberhard zum zweiten Mal für zwei Monate ins Seemannsheim am Krayenkamp. Danach fand er Arbeit als Nachtsteward auf einem Schiff der britischen Cunard-Line, das zwischen Southamton und New York mit einer größeren Anzahl Passagieren verkehrte. „Krankheitshalber musste ich nach einem Monat abmustern. Ich hielt mich noch zwei Monate in Costa Rica auf und kam Ende Oktober 1993 wieder nach Hamburg.

Meine weitere Zukunft ist völlig ungewiss. Mich zieht es immer in die Ferne. Demnächst muss ich mal wieder in den sonnigen Süden reisen. Dieses kalte Winterwetter bin ich nicht mehr gewohnt. Rentenansprüche habe ich in Deutschland nicht, weil meine versicherungspflichtigen Arbeitszeiten hier für eine Rentenanwartschaft nicht ausreichen.“ Ich fuhr fast nur auf ausländischen Schiffen und arbeitete überwiegend jenseits des Atlantiks. Große Ansprüche habe ich nicht. Ich rauche nicht und mache mir nichts aus Alkohol. Aber zum Reisen braucht man Geld, und ich reise für mein Leben gern. Wenn ich mit 30 Jahren so schlau gewesen wäre wie heute, wäre ich jetzt sicher ein Millionär.“ Der schlaue Jude Otto holt seine zusammengelegte Kippa aus der Tasche, faltet sie auf und zählt seine darin verwahrten Geldmünzen nach, ob sie für eine warme Mahlzeit reichen.


Seemannsschicksale 1 – Begegnungen im Seemannsheim

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