Читать книгу Seefahrerportraits und Erlebnisberichte von See - Jürgen Ruszkowski - Страница 7
ОглавлениеKapitän Wolfgang Schmidt
Wolfgang Schmidt wurde am 2. August 1926 in Hamburg als Sohn eines Reedereiangestellten geboren. Zunächst besuchte er die Volksschule, dann das Bismarckgymnasium, wo er 1944 das Abitur machte. Die Lust zur Seefahrt in ihm wurde offenbar durch seinen Vater geweckt, indem er ihn berufsbedingt häufig in den Hafen und auf Schiffe mitnahm. Am liebsten wäre er Schiffsarzt bei der Marine geworden, was durch den verlorenen Krieg vereitelt wurde.
Am 21.03.1944 begann er seine seemännische Laufbahn als Decksjunge auf der KEHRWIEDER, und er war ab dem 29.03.1944 auf dem Schulschiff DEUTSCHLAND. Ab 13.06.1945 fuhr er als Leichtmatrose auf der AAR, ab 15.02.1946 als Matrose auf der LUISE LEONHARDT, anschließend auf A. H. BOTH, TEUTOBURGER WALD, HEROS, RHEIN, WERNER und HAPARANDA. Dann folgte 1949/50 der Besuch der Seefahrtschule.
Ab 19.08.1950 fuhr Wolfgang Schmidt als 3. Offizier auf der FRIEDEN, der GLÜCKSBURG und vom 9.07.1951 bis 30.09.1951, sowie vom 1.10.1951 bis zum 3.10.1952 auf der ADOLF LEONHARD.
Der 1992 verstorbene, 1951 25jährige 2. Nautische Offizier der ADOLF LEONHARDT, Wolfgang Schmidt, berichtet über eine weihnachtliche Sturmhavarie der ADOLF LEONHARDT 1951:
Die Dünung nimmt zu, von Stunde zu Stunde. Der winterliche Atlantik will sich zum Weihnachtsfest 1951 von seiner unheimlichsten Seite zeigen. Auf der Kommandobrücke des 7.000 BRT großen Hamburger Motorfrachters ADOLF LEONHARDT ist es mit dem gewohnten Hin- und Hergehen schon längst vorbei.
Nicht einmal der breitbeinigste Seemannsschritt reicht aus, um notdürftig Gleichgewicht zu halten: so stampft und rollt, schlingert und giert das große Schiff, trotz der 12.000 Tonnen amerikanischer Feinkohle in den abgründigen Laderäumen, die es tief in die See drücken. Der 1. Offizier Maruhn hat die Brückenwache in dieser auffällig frühen Abenddämmerung. Aber auch Kapitän Wiese ist in das Ruderhaus gekommen, obwohl gerade der Weihnachtsabend anbricht und in den Messeräumen der Offiziere und Mannschaften mit Aufbietung aller nur denkbaren Befestigungsmittel versucht wird, richtiges Weihnachten herbeizuzaubern, denn Deutschland, die Heimat, ist noch weit – noch Tausende von Seemeilen. Die ADOLF LEONHARDT zieht mitten auf dem Atlantik ihre Schaumbahn, zwischen Norfolk an der nordamerikanischen Ostküste und dem Golf von Biscaya vor dem englischen Kanal.
Wieder setzt Kapitän Wiese das Glas vor die Augen, tastet den Horizont ab. „Das Wetter gefällt mir gar nicht, Maruhn. Die Sonne kann doch nach der Uhrzeit noch nicht untergegangen sein, aber es wird blauschwarz, von allen Himmelsrichtungen her. Haben Sie in den Jahren, seit Sie auf der Brücke stehen, schon mal so etwas gesehen?“ Maruhn schüttelt nur den Kopf. „Wenn der Pott nur auf Kurs zu halten wäre! Da hat man auf dem Schiff nun das Modernste, was es an Steueranlagen gibt, schon das geringste Antippen an das Ruderrad genügt, und die elektrische Rudermaschine springt wie der Blitz an, aber bei dieser unglaublichen Sturmsee rumpelt der Kahn so hin und her, dass alles Ruderlegen immer zu spät kommt. Ich habe es selbst ein paar mal versucht, aber ich kann’s auch nicht besser, als unser Rudermann. Die See kommt schräg achterlich – das Ruder hat die Brecher aus erster Hand – es muss heute gewaltige Stöße aushalten.“
Kapitän Wiese klopft an das Wetterglas. „Schlecht, sogar höchst bedenklich, wie das Barometer immer noch weiter fällt. Ausgerechnet am Weihnachtsabend! Gut dass unsere Muttis das nicht ahnen, was Maruhn? Sie lachen beide, und der Quartermeister, der Mann am Ruder, grinst mir. Seine Braut da oben im Holsteinischen, die stellt jetzt wohl gerade vorm Anzünden des Weihnachtsbaumes den Rundfunk an und hört von der Sturmwarnung für alle westeuropäischen Küsten: „Sturmtief aus dem Atlantik zieht in Richtung auf die Biscaya“. Never mind, was ein richtiger Seemann ist – das bisschen Sturm auf so einem sicheren, fast neuem Schiff, das erst seine vierte Reise macht, erst im September, vor vier Monaten, pieksauber von der Werft abgeliefert wurde!
Hauptsache, dass es einen ordentlich steifen Grog gibt nachher bei der Ablösung! Verdammt, es ist ja doch eine fürchterliche Quälerei für die Eingeweide, tagelang dieses unvorstellbare Aufbäumen des ganzen Schiffes und das tiefe Zurückschlagen in die Wellentäler, dass es selbst oben auf der Brücke aussieht, als sollte man in den Wasserbergen begraben werden!
Nach einem Rundblick steigt Kapitän Wiese wieder den anheimelnd eingerichteten Niedergang hinunter, der die Kapitäns- und Offiziersräume, die Lotsenkammer und das Badezimmer mit den Speiseräumen verbindet, und noch und noch ein Deck tiefer zu den Wohnkammern und Messen der Ingenieure, Aspiranten und Elektriker führt und weiter zur Kombüse, die aber eine richtige Großküche ist, gleich hinter dem Maschinenraumschacht. Sonst geht der Kapitän ja fast nie in die Küche, aber den Weihnachtsbraten muss er doch noch inspizieren. Heute duftet es anders, als wenn es Erbsensuppe, Labskaus oder Curryreis gibt. Beier, der erste Koch, ist voll wehmütiger Klagen. Breitbeinig pendelt er am Herd, sich mit beiden Händen festkrampfend. „Die schöne Suppe, die ich heute kochen wollte – unmöglich! Die Pötte kann ich festklemmen, die Suppe aber nicht. Auch der Braten wird wohl ziemlich trocken ausfallen. Die Sauce ist schon außenbords gelaufen.“ Er zeigt auf die glitschigen Bodenfliesen, wo manches hin- und hergluckst, was eigentlich nicht frei herumlaufen sollte. „Dann müssen wir die Kehlen eben auf andere Weise anfeuchten“, lacht der hünenhafte Kapitän. „Heißes Wasser genug? Der Steward soll bald die Rumbuddeln öffnen!“
Allmählich, trotz wild tobender See, trotz tiefschwarzer Sturmnacht zieht doch etwas weihnachtliche Stimmung in die Gemüter der Besatzung. Die Männer, die an Deck und in der Maschine ihren Dienst tun müssen, sind in ihren Gedanken schon ein paar Stunden voraus, und die Freiwachen lassen es sich munden, trotz allem.
Kapitän Wiese ist zufrieden mit der Stimmung an Bord und mit dem Schiff. Draußen tost es, in Masten, Wanten, Tauwerk und Antennen heult immer wieder der Orkan in höchsten Pfeiftönen auf. Das Schiff hebt sich und fällt schwer von Welle zu Welle in Abgründe, die fast so lang sind wie der ganze Schiffsrumpf, aber es ist einwandfrei seetüchtig, außen und innen. Unbeirrt hält es seinen Generalkurs in Richtung Heimat bei, in gleichbleibendem Rhythmus stampft es durch eine entfesselte Weihnachtsnacht.
Am zweiten Weihnachtstag ist es schlimmer geworden statt besser. Niemand hatte sich vorstellen können, dass die See noch höher, noch gröber werden könnte! Und die Wetternachrichten, die vom Funkoffizier Heinen in der Funkbude unentwegt abgehört werden, versprechen nicht die geringste Aussicht auf ein Abflauen dieses Orkans.
Bald muss es Mittag sein. Die Kapitänswache, die durch den 3. Offizier Andersen wahrgenommen wird, geht auf das Ende zu, denn sechs Glasen, das ist 11 Uhr, ist schon angeschlagen. Noch eine Stunde! Kapitän Wiese kommt aus dem Kartenzimmer, wo er noch einmal den genauen Schiffskurs zu ermitteln versucht hat. Seit Tagen war keine Möglichkeit, die Sonne oder einige Sterne zu „schießen“, das heißt, mit dem Sextanten „ein Besteck zu nehmen“, die astronomische Ortsbestimmung des Nautikers.
„Etwas hellt es im Süden auf, versuchen Sie es mal heute Mittag, Andersen. Bei dem Gieren haben wir sicher allerhand Versetzung vom alten Kurs.“ „Allright“, sagt Andersen und schaut wieder, wie so oft in diesen Tagen, von der freien Brückennock nach achtern, um zu erkennen, ob sich am Schaumstreifen ein wenig der Schiffsweg nachprüfen lässt. Nichts – jede neue Welle spült das Schraubenwasser sofort mit hinweg. Aber plötzlich – da – „Kapitän“, ruft der junge Andersen laut, kaum findet er im Sturm den Weg zurück ins Ruderhaus – um es geschwind zu sagen – „Kapitän“, da, der riesige Wellenberg – sehen Sie schnell“ und zeigt nach achtern. Eine ungeheure Woge läuft das Schiff schräg von der Seite an, so wuchtig die anderen überragend, als wolle sie alles, aber auch alles unter sich begraben. Kapitän Wiese stürzt aus dem Ruderhaus, gerade noch rechtzeitig genug, um selbst Zeuge des Geschehens zu werden. „Mein Gott!“, ruft er. Dann – ehe sich das Achterschiff genügend auf den heranwuchtenden Wasserberg heraufheben kann, überrollt die berstende grüne See die gesamten Aufbauten achtern auf der Poop, ein Rucken geht durch das ganze Schiff, Krachen, das noch das Sturmheulen übertönt, Holzteile splittern, und das Rettungsboot auf dem Heckaufbau ist auch verschwunden, als sich das Wasser verläuft. Einzelheiten sind nicht zu erkennen, aber – was ist denn nur? Dreht das Schiff plötzlich völlig aus dem Kurs? Es legt sich quer in die See, schlingert entsetzlich. Der Rudermann dreht verstört an seinem Rad. Das Ruder – nein das ganze Schiff gehorcht nicht mehr! Rasselnd klingt auch der Maschinentelegraph auf der Brücke, und die Flöte, die vor dem Sprachrohr sitzt, pfeift aufgeregt und schrill. Der Hauptmotor wurde sofort gestoppt. Das hören sie schon am fehlenden Auspuffgeräusch des Schornsteins, der kurz und gedrungen unmittelbar an das Ruderhaus anschließt. Wiese springt an das Sprachrohr und legt sein Ohr an die Muschel. „Verdammte Kiste, Schraube und Ruder sind unklar, und das bei dem Wetter! Los Andersen, alle Offiziere auf die Brücke! Bootsmann Warnstedt soll melden, was achtern kaputt ist! Aber festhalten, festhalten!“ Andersen springt schon. „Alle Leute heil geblieben?“, ruft Wiese ihm noch nach. – Scha, Rudergast, kannst utscheiden, is nix mehr mit törnen, der Laden macht jetzt seinen Kurs alleine. Das war ’ne Wucht, was?
Wiese möchte lachen, aber Ernst und Verbissenheit werden stärker, als nacheinander seine Offiziere auf die Brücke klettern – das Treppensteigen im grauenvoll schlingernden Schiff kommt einer Bergpartie gleich. „Havarie, meine Herren“, ruft Wiese. Maschinen gestoppt, Schraube unklar, irgendwas muss achtern los sein.“
Der Leitende Ingenieur Dreeßen erscheint, die Stablampe noch in der Hand. „Der Maschinenassistent war gerade im Wellentunnel beim Lagerabfühlen“, berichtet er, „als es so hart metallisch krachte, als ob ein Wrackstück in die Schraube getrieben sei. Die Maschine ruckte bedenklich, so dass wir sofort stoppen mussten, wenn nicht alles auseinander fliegen sollte.“
Achtern beugen sich Andersen und der Bootsmann am Heck in Leeseite weit über die Reling, immer dann, wenn das Schiff sich gerade hoch aus dem Wasser hebt und das Deck nicht überspült ist. Jetzt rennt Andersen über das lange Achterdeck, so schnell es das Schlingern erlaubt. Mit ein paar Sätzen springt er die Leiter herauf. „Das Ruder!“, er schreit es atemlos und schon von weitem: „Das ganze Ruder ist weg! Stumpf abgebrochen - oben im Ruderschaft! Nichts mehr da!“ Auf dem Schiff ist die Hölle los, anders kann man das Auf und Ab, das Hin und Her, das unvorstellbare Schlingern des nun frei herumtanzenden steuerlosen Schiffes nicht bezeichnen. Überall in Kammern und Messen klirrt es, fallen aus Regalen und Borten Gegenstände, die als fest verankert angesehen wurden, und mit dem Essenkochen ist es nun ganz und gar aus. Die ADOLF LEONHARDT, dieses große, voll beladene, in allen Teilen neuzeitliche Schiff, ist zum Spielball der Sturmseen geworden, ohne jede Möglichkeit der Beeinflussung ist es dem Orkan, den Donnerschlägen der überrollenden Wogen preisgegeben.
Ein sofortiger Rundgang mit Offizieren, Leitendem Ingenieur, Boots- und Zimmermann, ergibt, dass die stählerne Schiffshaut, das Oberdeck, die Luken und Niedergangschotts heil sind. Das Schiff hat kein Leck. Eine Beruhigung auf den ersten Schreck! Kapitän Wiese fasst schnell seine Entschlüsse. Fremde Hilfe? Mehrere Schiffe sind in erreichbarer Nähe, wie Funkoffizier Heinen weiß. Aber wenn fremde Hilfe kommen muss, dann aus der Heimat, denn jede Hilfe kostet Geld! So geht ein Funktelegramm an die Reederei in Hamburg: ADOLF LEONHARDT Ruder verloren, Schraube unklar, ohne Leck, Mannschaft wohlauf. Erbitte Bergungsschlepper. Versuche entgegenzusegeln.“ Es folgt noch die genaue Positionsmeldung.
Entgegensegeln? Ja, irgendetwas muss getan werden, um dem gefahrdrohenden Schlingern zu begegnen, das sich manchmal fast bis zum Kentern zu steigern droht. In bestimmte Richtung legen lässt sich das Schiff jedoch nur mit etwas Vorausgeschwindigkeit und mit Steuerung, also muss für beides gesorgt werden! Fieberhaft arbeitet die gesamte Mannschaft. Niemand kann jetzt noch an Schlafen oder Essen denken, obwohl eigentlich ja noch immer Weihnachten ist. Eine Gruppe fertigt aus Holz und Eisenträgern ein Notruder, das kunstvoll außen am Schiff unter Lebensgefahr des Zimmermanns und seiner Leute verspannt wird. Eine zweite Gruppe gießt Öl auf die Wogen: Es ist ja wirklich so, dass die Ölschicht auf dem Wasser die gefährlich aufschäumenden Brecher erstickt. Aber das Gießen würde viel zu viel Schmieröl verbrauchen. Man hängte außenbords an die Luvseite viele Säcke, die mit ölgetränkten Lappen oder dergleichen vollgestopft sind und von Zeit zu Zeit neu mit Öl begossen werden. Von der Kommandobrücke und dem Oberdeck aus brüllen Kapitän Wiese und der erste Offizier Maruhn bei jeder Woge, die heranrollt, Tag und Nacht ohne Schlaf ihr „Warschau“. Dieses ununterbrochene Aufpassen ist Nerven zerreißend. Einige holen mit waghalsigen Artistensprüngen über das taumelnde und wasserüberpeitschende Deck mühsam die Persenninge zusammen, verstärken sie mit Leinen und Gurten und bereiten die Notsegel vor, die dem Schiff wenigstens etwas Fahrt geben sollen. Immer wieder brechen die Seen über das Deck, zerschlagen Holz und Eisenteile, drücken zwischen den beiden achteren Luken zur Mannschaftsmesse in das Deckshaus ein, setzen den schönen Messraum völlig unter Wasser: Stühle, Tische, Geschirr werden zermalmt und mit über Bord genommen. Und wenn das Schiff halb kenternd nach Luvseite überhängt, schäumt das Wasser vom brodelnden Kamm der nächsten Welle oben in den Schornstein hinein.
Es ist die stärkste Belastungsprobe, die man sich für Schiff und Besatzung überhaupt vorstellen kann – oder die man sich als Landratte niemals vorstellen kann. Und dann nach vielen, vielen Stunden übermenschlicher Anspannung, gelingt es, an Masten und Ladebäumen soviel Segeltuchfläche hochzuziehen, dass der stauende Sturm mit unheimlichem Druck etwas Fahrt in das Schiff bringt, so dass es nach und nach aus seiner gefährlichen Lage herausgenommen werden kann. Wind und See von achtern schieben das Schiff jetzt wieder langsam in Richtung Biscaya vor sich her, in Richtung Heimat. Ist die äußerste Gefahr überwunden?
„Ich bleibe auf der Brücke, bis wir in Nummer Sicher sind“, erklärt der Kapitän und lehnt, völlig übermüdet, jedes Anbieten auf Ablösung ab. Dieses Bleiben heißt aber Wachsein – pausenlos.
Inzwischen werden von der Hamburger Reederei unverzüglich die Verhandlungen wegen Bergung des Schiffes eingeleitet. Die Schuchmann-Reederei übernimmt die Aufgabe. Bereit wären gerade die beiden Hochseeschlepper SEEFALKE und WOTAN. SEEFALKE hatte in den beiden Sturmwochen schon zwei Bergungsfahrten hinter sich, er hatte aus der Nordsee den Motorfrachter KRAUTSAND und den schwedischen Dampfer ORVA eingebracht. Jetzt liegt er schon wieder in Borkum auf der Lauer, bis der Funkspruch eines havariert treibenden Schiffes um Bergungshilfe ruft. WOTAN befindet sich gerade auf Schleppreise im englischen Hafen Harwich.
Der Funkspruch scheucht sie beide auf: In kürzester Zeit brausen sie beide los durch die schäumende See, jeder für sich auf verschiedenen Kursen, aber mit dem gleichen Ziel: ADOLF LEONHARDT im Atlantik. So stürmen denn WOTAN und SEEFALKE auch in diesen Sturm hinaus, mit Kapitänen und Besatzungen, die kaum etwas anderes kennen. Aber diese Strecke ist besonders weit, und sie müssen dem Orkan und der hochaufbäumenden See entgegendampfen. Tage und Nächte springen die kleinen Fahrzeuge immer weiter von Welle zu Welle und fallen dazwischen so tief, dass selbst auf ihrer Kommandobrücke der Horizont völlig von der grünen See verdeckt wird. Fünf Tage und fast fünf unmenschliche Nächte dauert diese taumelnde Fahrt, immer weiter weg vom schützenden Hafen, immer weiter in ein ungewisses Wagnis hinaus. „Wir schaffen es!“ Das sagen die Schlepperkapitäne in diesen Tagen wohl häufiger als jemals.
Die Spannung wächst von Tag zu Tag und der Sturm bleibt unerträglich. Trotzdem, Meile auf Meile wird der aufgewühlten Wasserwüste ingrimmig abgetrotzt. Vom Weihnachtsfest und von Sylvesterscherzen ist in dieser Dezemberwoche da draußen nichts mehr zu spüren. Der Atlantik kocht und brüllt.
Auf der ADOLF LEONHARDT ist das Außergewöhnliche schon zum Alltag geworden. Ohne das warnende „Warschau“ des Wachhabenden auf der Brücke darf niemand es wagen, über Deck zu den achteren Mannschaftswohnräumen zu gelangen. Es ist immer ein Springen, Jumpen, ein halsbrecherisches Hasten, ein Spiel mit der Gewissheit völliger Durchnässung, mit dem Wagnis von Knochenbrüchen oder Schlimmerem. Im Maschinenraum geht der Dienst wie immer weiter. Sogar die Hauptmaschine, der mehrtausendpferdestarke Dieselmotor, hilft mit langsamen Drehungen durch Vorwärts- und Rückwärtsmanöver die Steuerung des Schiffes zu verbessern, da je nach Drehrichtung der Schraube das Schiff nach Backbord oder Steuerbord ausschlägt. Dazu laufen unentwegt die Dieseldynamos, die den Strom für Licht und Heizung und für die Funkstation und die Hilfsmaschinen liefern. Hier muss die Kühlmaschine gewartet werden, die den Proviant frisch hält, da laufen immer einige Pumpen für Trink-, Spül- und Klosettwasser und für Kühlwasser der Motoren. Erstes Gebot ist, dass alle technischen Anlagen klar bleiben. Die Skylights, die Maschinenoberlichter, sind des Seegangs wegen wasserdicht verschlossen, aber durch die Luftschächte dringt Spritzwasser, und jedes Mal flucht der wachhabende Ingenieur, der Zweite, Griguzzies, oder der Dritte, Bogasge, oder Kuschke, der Vierte, denn auf den blanken Maschinenteilen hinterlässt das Salzwasser hässliche Rostflecke, und da muss wieder gewienert werden.
Was es wohl für eine Sylvesterfeier wird? Alle warten auf die langsam näherkommenden Bergungsschlepper. Aber die Stimmung ist ausgezeichnet!
Kapitän Wiese bleibt unverwüstlich, obgleich seine Augen tief in den Höhlen liegen. „Ach was, winkt er immer wieder ab. – Wenn ich nicht durchhalte, wer soll es denn?“ Und dann klingelt er wieder seinem Steward nach einer Mug heißen Kaffee – wir kommen ja aus Norfolk, aus den U.S.A., wo die Einheitsdosen mit gemahlenem Kaffee billig sind!
In der Neujahrsnacht wird es dramatisch. 300 Seemeilen, fast 500 Kilometer ist das Schiff mit seinen grauen Notsegeln wie ein Freibeuter in fünf Tagen und Nächten vor dem Sturm hergeritten, ein gewaltiges Wegstück, auch im Atlantik! Wenn es auch nur zwei Knoten Durchschnittsgeschwindigkeit oder wenig mehr bedeutet. Aber in dieser Nacht müssen sie endlich in Sicht kommen: WOTAN und SEEFALKE. Niemand kann der beiden Schlepper wegen schlafen. Heinen kommt auch gerade mal wieder mit einer Neuigkeit aus der Funkbude: „Nicht weit von uns ist noch ein Steamer durch diesen Kuhsturm zur Hilflosigkeit verdammt, die FLYING ENTERPRISE. Der Amerikaner hat einen Riss über Deck bekommen. Er macht tüchtig Wasser in die vorderen Laderäume und hat schon vorgestern Passagiere und Besatzung auf ein anderes Schiff abgegeben. Jetzt wartet der auch auf Bergungsschlepper.“
Die Offiziere schweigen. Sie stehen gespannt auf der Brücke und stieren mit ihren Gläsern in die Dunkelheit voraus, in das Tosen der im Meeresleuchten schwach sichtbaren schäumenden Wellenkämme. „Wie ist die Peilung zu WOTAN und SEEFALKE? Dass sie uns nur nicht vorbeilaufen!“ „Liegt an, genau auf Kurs, Kapitän.“ Langsam geht es wieder einmal in die frühen Morgenstunden hinein, in denen die Müdigkeit schon fast schmerzhaft wirkt, wie fiebriges Kranksein, nach dieser maßlos anstrengenden Woche. Plötzlich aber, zwei haben es zugleich entdeckt! – sind ganz schwach die erwarteten Lichter auszumachen, verschwinden gleich wieder hinter Wellenbergen, gehen für längere Zeit verloren und sind wieder da.
„Fast wie im Kriege auf Beutejagd, ebenso spannend. Nur dass man jetzt weiß, dass sie nicht auf uns schießen.“ „Prost Neujahr, meine Herren! Wir haben sie – sie haben uns“, spottet Wiese, „aber noch nicht im Hafen.“ „Hafen, die kommen doch aus der Heimat, Mensch, direkt ein Neujahrsgruß von zu Hause.“ In Windeseile jagt die Nachricht durchs Schiff. Langsam, nur zeitweise auf den Wellenkämmen sichtbar, tauchen die Schlepper aus der Dämmerung auf. Mit Tageshelle sind sie nahe. Unentwegt blinken die Morselampen von Schiff zu Schiff Verständigung über die Maßnahmen, die für die Übernahme der Schlepptrossen notwendig sind. – Viele Stunden später ist das Schwerste geschafft.
Tag um Tag, Woche um Woche lasten die unverminderten Anstrengungen auf den Besatzungen der ADOLF LEONHARDT und der Schlepper. Nur vorübergehend flaut das Unwetter ab. Dann bringt es mit neuer Gewalt Windstärken kaum unter 9 und 10.
Langsam kommt das Schleppgespann in das Seegebiet des Kanals, die Wellenlängen nehmen ab. Im dicken Nebel drohen Zusammenstöße. Bei dem schwerfälligen Schleppzug ist an Ausweichen nicht zu denken. Kapitän Wiese verlässt fast nie die Brücke. Nach kurzen Ruhepausen steht er wieder oben. Dann auf der Höhe von Dover passiert es: Die Schlepptrosse sitzt plötzlich auf dem flachen Meeresboden fest, verfangen in einem der vielen Wracks, die dort überall liegen. Wenn das Schleppseil an den scharfen Kanten rostzerfressener Aufbauten festhakt, zerreist, die ADOLF LEONHARDT frei und führungslos auf den Felsen treibt? Diesmal ist es gut ausgegangen, aber dreimal ist es bereits gerissen, noch auf dem Atlantik.
Fast drei Wochen pendelt das ohnmächtige Schiff hinter den Schleppern her. Fast drei Wochen lebt die Besatzung unter äußerster Anspannung ihrer Willenskraft. Von vielen havarierten Schiffen kommen Nachrichten. Täglich hört man neue Namen. Von der ADOLF LEONHARDT hört man nichts. „Erst zu Hause sein, erst alles geschafft haben, vorher erfährt niemand, was hier los ist“, hört man häufig aus dem Munde des Kapitäns. Man kann doch nicht die ganze Welt mit seinen Sorgen in Bewegung halten, und bei Norderney buddelt einem noch der Untersatz unter den Füßen ab, was? Immer langsam, aber eisern!
Schnell ist allen die letzte Nacht vergangen, fast schon ein Gefühl des Geborgenseins, als das Feuer von Wangerooge voraus an Steuerbord ausgemacht wird, dann die Feuerschiffe AUSSENJADE und WESER, das Aufflammen vom Rotesand-Leuchtturm. Als der Lotse die Jacobsleiter aufentert, werden kaum mehr Worte gewechselt als gewöhnlich, wortkarg ist dieser Beruf – jeder Satz muss sein Gewicht behalten. Aber der Händedruck, der ist fest, herzlicher als sonst. Kaum dümpeln die Schiffe noch, das Wasser wird gelb und mit jeder Minute ruhiger in der breiten Wesermündung. Immer mehr verkürzen die Schlepper ihre Leinen, schließlich, als im Watt das Fahrwasser zwischen den roten und grünen Tonnen enger wird, gehen die beiden Schlepper längsseits, SEEFALKE macht an Steuerbord fest, WOTAN an Backbord. So dampfen sie nach 1.350 Seemeilen Schleppfahrt auf Bremerhaven-Reede. Und dann setzt sich noch der Schlepper TITAN vor den Bug und hilft die Weser flussaufwärts bis Bremen, unter die wartenden Kohlengreifer, in den sicheren, spiegelglatten Hafen.
Alles ist heil geblieben: Besatzung, Ladung, ja auch das Schiff. Nur ein paar Schrammen, Beulen, Splitter – und kein Ruder.
Als die Ankunft am 17. Januar 1952 bekannt wird, überfallen Besucher das Schiff. Alle wollen Glück wünschen, alle wollen hören, was geschah. Doch Kapitän J. Wiese, der 22 Tage und Nächte kaum geschlafen hat, winkt ab: „Für mich gibt es jetzt nur eines“, zuckt es spöttisch um seinen Mund – „schlafen!“
Es folgte 1952/53 ein weiterer Schulbesuch. Ab 20.05.1953 begann der Dienst als 1. Nautischer Offizier auf der BERND LEONHARDT, wieder auf der ADOLF LEONHARDT, auf der LUISE LEONHARDT, der INGRID LEONHARDT und der KLAUS LEONHARDT.
Ab 25.06.1955 fuhr Wolfgang Schmidt als Kapitän auf der KLAUS LEONHARDT und bis 1965 auf etlichen weiteren Schiffen der Reederei Leonhardt & Blumberg. Mit dem Neubau WALTER LEONHARDT, den er als Kapitän führte, und der für zwei Jahre nach Brasilien verchartert war, hielt er sich längere Zeit in dem südamerikanischen Land auf, wohin ihm auch vorübergehend seine Frau und die Kinder folgten.
Von 1965 bis 1985 war er beim Verein Hamburger Assecuradeure als Havarieexperte tätig. Am 1. Juli 1992 verstarb Wolfgang Schmidt nach einer schweren Erkrankung, die ihn 1978 zum Frührentner machte, im Alter von fast 66 Jahren.
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