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II

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Auch heute war ich also hier und schaute mich unter den Büchern um. Es war, als wenn ich etwas Bestimmtes suchte, es aber nicht finden konnte. In einem Katalog konnte ich nicht nachschlagen, da ich einfach nicht wusste, wonach ich suchen sollte. Kannte ich einen Begriff zu diesem bestimmten Unbestimmten, den ich nachschlagen konnte? Kannte ich die Namen von Autoren oder gar die Titel von passenden Werken? Da dies nicht der Fall war, war kein Katalog eine geeignete Welt.

Ich war in das Kellergeschoss hinabgestiegen. Hier war immer etwas Interessantes – und so ganz Unerwartetes – zu finden. Daher erschien mir dieser Bereich der Bibliothek der geeignetste zu sein für meine Stimmung. So ging ich langsam die Regalreihen ab. Immer wieder ließ ich mich rechts oder links von irgendeinem der Bändchen ablenken.

Einige der Bücher mussten regelrecht traurig sein, empfand ich oft. Sie sahen so alt und verstaubt aus, dass wohl seit Jahren, nein, seit Jahrzehnten, niemand mehr sie in die Hand genommen, geschweige denn aufgeschlagen hatte. Innerhalb des ersten Jahrzehnts, nachdem eines dieser Bücher so hoffnungsvoll hier aufgestellt worden war, hatte vielleicht hin und wieder ein ambitionierter Bibliothekar das Buch kurz hinausgenommen, schnell mit einem Staubpinsel den Staub abgewischt und es schon wieder zurückgestellt. Jedesmal war das Buch so aufgeregt gewesen, hatte gedacht: »Endlich kommt jemand und interessiert sich für mich, endlich kann ich mein Wissen, meine Ideen, meine Vorstellungen, meine Sehnsüchte mitteilen, endlich kann ich mit jemanden sprechen« – und jedesmal war es so bitterlich enttäuscht worden.

Bereits als das Buch damals in den Keller getragen worden war, hatte es zunächst sich nicht viel bei diesem Umzug gedacht. Hier unten war es schließlich genauso schön wie in einem der oberen Räume. Dass dies eine Reise in den Abgrund gewesen war und das Buch damit auch äußerlich der Vergessenheit übergeben worden war: das war ihm anfangs gar nicht aufgefallen. Konnten Menschen so grausam sein?

Die Intervalle des Abstaubens wurden länger und länger, bis die Besuche gänzlich ausfielen. Allmählich wurde es auch auf dem gesamten Regalgang ruhiger. Manchesmal war schon eine Woche vergangen, bis wieder ein Besucher langsam hindurchging. Meistens war es aber eher ein Vorüberhasten gewesen, in großer Eile – denn was gab es hier schon zu finden? –, um zu den anderen Regalen zu gelangen.

In jene andere Regale kamen nun die neuen Bücher, diese ganz jungen, geradezu in ihrer Jugend und Unerfahrenheit eingebildeten Werke, und gaben sich überheblich der Illusion hin, von Bedeutung und fortdauerndem Interesse zu sein. Diese Bücher wussten nur noch nicht, dass nach kurzer Mode auch für sie die Saison zu Ende gehen würde.

Aber am traurigsten war das Schicksal derjenigen Büchlein, die noch nicht einmal eine kurze Saison miterleben durften. Sie waren immer einsam gewesen und verlassen. Keiner hatte ihren Rat erfragt oder bei ihnen Kurzweil gesucht. Niemand hatte Anteil an ihrer Geschichte genommen. Sie waren gleich hier nach unten gestellt worden, nachdem sie oben von den Bibliothekaren in Empfang genommen und mit einem Kopfschütteln darüber, dass irgendjemand diese Bücher überhaupt angeschafft hatte, aussortiert worden waren.

Diese Büchlein wurden nicht vermisst, da sich niemand ihrer erinnerte.

Bei diesen Büchern verweilte ich besonders gerne und versuchte sie zu trösten. Doch mein Mitleid half ihnen auch nicht darüber hinweg, als nutzlos angesehen zu werden, wenn sie nur überhaupt als existierend gekannt worden wären. Schon allein, dass Nützlichkeit als ein Kriterium für die Existenz herangezogen wurde, war sehr kaltherzig. Ich hielt diese Bücher in der Hand, entstaubte sie sanft, genoss diesen eigentümlichen Geruch alternden Papiers. Ich blätterte in ihnen aufmunternd und las die eine oder andere Stelle. Ich war immer überrascht, was ich dabei so entdecken konnte. Sorgfältig stellte ich die Bücher dann in ein Fach zurück, damit sie sich von dem ungewohnten Erlebnis des Lesens erholen konnten. Als Nachbarn und Gesprächspartner suchte ich passende Bücher und stellte sie nebeneinander.

Die Bibliothek

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