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I. Der erste Tag des Nichtstuns

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Das Seidemann-Haus in Taucha

Agatha schlug ihre Augen ganz langsam auf. Der Abschiedsabend mit ihren Kolleginnen hatte sie körperlich völlig geschafft. Die Herbstsonne drang durch ein kleines Löchlein im Vorhang und blinzelte ihr zu. Agatha blinzelte zurück, um kurz darauf ihre Augen noch einmal zu schließen und den letzten Abend Revue passieren zu lassen. Es war ihr letzter Arbeitstag gewesen, in einem zweiundvierzigjährigen Arbeitsleben als Krankenschwester in einem Krankenhaus an der Stadtgrenze von Leipzig. Sie hatte es geschafft, hatte den verhassten Dreischichtdienst die ganzen Jahre, zuletzt auf der Krebsstation ihres Krankenhauses, überstanden. Agatha konnte es noch gar nicht fassen, gestern war sie sechzig Jahre alt geworden und lag jetzt zum ersten Mal ganz entspannt in ihrem Bett. Sie wurde das erste Mal seit vielen Jahren nicht von ihrem Wecker aufgeschreckt, welcher ihr ständig die Melodie der Arbeit spielte – nein sie wurde von einem kleinen frechen Sonnenstrahl aus den Schlaf genommen, ein Sonnenstrahl der ihr sagen wollte, Agatha steh auf, ab heute bist du Seniorin und hast unendlich viel Zeit für dich ganz allein. Einen angetrauten Mann hatte sie schon längst nicht mehr. Der aufopferungsvolle Dreischichtdienst im Krankenhaus hatte ihren letzten Weggefährten schon vor sehr langer Zeit aus dem Haus getrieben und sie hatte es nicht einmal so richtig gemerkt.

Jeden Tag in das Krankenhaus, und in ihrer ohnehin schon knapp bemessenen Freizeit war sie auch noch ehrenamtlich als Telefonseelsorgerin in ihrem Verein tätig. Es war für Agatha ein Bedürfnis, für andere Menschen da zu sein, ihnen zu helfen, sich im Alltagsdickicht zu Recht zu finden. Nur ihrer eigenen Liebe konnte sie zu keinem Erfolg verhelfen. Nein, sie hatte es nicht einmal richtig wahrgenommen, dass Klaus eines schönen Tages für sie gar keine Zeit mehr und irgendwann eine andere Partnerin gefunden hatte. Sie nahm es erst wahr, als Klaus aus ihrem gemeinsamen Zuhause ausgezogen war. Da war es auch schon zu spät für Gespräche und Rechtfertigungen.

So blieb nur noch Peter, der kleine schwarze Kater.

Peter schmiegte sich dann immer, wenn sie irgendwann einmal nach Hause kam, fest an sie und genau in solchen Situationen vermisste Agatha ihren immer nörgelnden Klaus überhaupt nicht. Sie genoss dann überschwänglich die Zeit mit ihrem Kater Peter.

„Peterle, ach Peterle, du bist doch der beste Mann in meinem Haus“, pflegte sie dann immer zu sagen und Peterle schnurrte vor Vergnügen.

Agatha streckte sich jetzt in ihrem Bett, ließ ihre Gelenke knacken und streckte dann ganz vorsichtig ihren linken Fuß aus dem Bett, kreiste mit ihren Zehen durch den üppigen Bettvorleger, ehe sie dann, genauso vorsichtig mit ihrem rechten Bein den Boden berührte. Ihre knorrigen, weißen Füße stellten eindrucksvoll einen Kontrast auf dem roten Bettvorleger dar. Sie schüttelte kurz den Kopf, stellte fest, dass in ihm nichts klapperte und klopfte. Der Wein am gestrigen Abend hatte also keine Folgeschäden hinterlassen. Diese Erkenntnis zauberte ein Lächeln in Agathas Gesicht und mit einem Ruck beförderte sie sich in die Senkrechte. Auch das gelang ihr ganz gut. Sie stand auf ihren beiden Beinen und momentan so richtig im Leben. In diesen Moment stand sie aber noch mitten in ihrem Schlafzimmer in altersgerechter Unterwäsche und einem ihr viel zu großen T-Shirt. Ja, ja, die Zeit der Strings ist nun endgültig vorbei. Wenigstens, stellte Agatha fest, ausgezogen hatte sie sich und das auch noch selbst. Bei den Gedanken kicherte sie laut vor sich hin und ebenso laut sagte sie: „Ist ja auch gar keiner da, welcher das für mich hätte übernehmen können. Eigentlich schade.“ Aber das sollte sich in ihrem neuen Leben auch, wie noch viele andere Dinge, ändern. Vor dem Spiegel ihren Körper betrachtend, dachte sie sich: „Warum eigentlich keine Strings mehr? Die kann ich mir schließlich noch leisten.“ Diesen Vergleich brauchte sie nicht zu scheuen, und sie dachte an ihre etwas füllige, gleichaltrige Nachbarin Petra und kicherte in sich rein.

Barfuß kraxelte Agatha zum Fenster, zog entschlossen die Vorhänge auf und die Oktobersonne wallte in voller Kraft in ihr Schlafzimmer und überzog ihr genügsames Heim mit einem strahlenden, güldenen Schein. Dies alles kam für sie mit so einer Wucht, dass sie erst einmal einen Schritt zurück wich. Als sie zum Kirchturm der Tauchaer St. Moritz Kirche hinaufblickte, blinzelte sie noch ein wenig mehr als zuvor im Bett. Sie ließ den Blick aus ihrem Fenster schweifen, sah ein wunderschönes altes Eckhaus in einem nicht so tollen baulichen Zustand, welches bestimmt viel zu erzählen hatte. Ihre Nachbarin Petra hatte ihr vor ein paar Tagen etwas darüber erzählt:

„Dieses Haus war Anfang 1900 im Auftrag des Ziegeleibesitzers Albin Seidemann in sehr kurzer Zeit errichtet. Im Volksmund wurde es Seidemann-Haus genannt. Von 1900 bis 1913 hatte er es an die Stadtverwaltung Taucha als Rathaus vermietet. Später wurde es dann zum Wohnhaus umgebaut“.

„Also, im Prinzip wohne ich gegenüber vom Rathaus und das hatte früher doch am Markt gestanden“, dachte sich Agatha. Sie blickte nach rechts und bemerkte sofort den Stilbruch. In einer Art rotem Container bot ein Händler Döner und andere ihr nicht so vertraute Speisen an und zerstörte mit dieser „Immobilie“, den Blick auf die sehr alte Tauchaer Kirche. Dieses Teil passte einfach nicht dorthin, aber außer ihr störte sich wahrscheinlich kein anderer an diesem Blick. „Furchtbar und doch so real“, dachte sie.

Das kleine Parthestädtchen strahlte an diesen Morgen eine Ruhe aus, die sie selten so genossen hatte. Sie musste nie wieder in ihr Krankenhaus. Vor allem konnte sie sich auch nicht vorstellen, noch weitere fünf Jahre dort zu arbeiten. Sie hatte jetzt unendlich viel Zeit. Agatha war fest entschlossen ihr Leben zu ändern. Was wusste sie schon von Taucha? Hier hatte sie eh nur geschlafen, hin und wieder ein wenig fern gesehen, um sich dann auch schon wieder auf den Weg zur Arbeit zu machen. Arbeiten, arbeiten, immer wieder arbeiten war zu ihrem Lebenselixier geworden, hatte sie ständig und immer wieder angetrieben, unfähig sich zu erinnern, dass es noch andere Dinge in ihrem Leben geben könnte. Ab jetzt war sie nun „Seniorin“, und genau das wollte sie auch mit ganzen Herzen sein.

Es war Samstag früh, es war Oktober, sie war Sechzig und das Abenteuer Leben sollte für Agatha genau an diesem Tag beginnen. Sie hatte in der Zeitung gelesen, am Abend würde in Taucha ein Nachtwächterrundgang stattfinden, eine Kriminaltour durch ihre Heimatstadt.

Nachtwächtertour

15.Oktober

Treff: 18 Uhr

Sparkasse Taucha

Dauer: ca. 3,5 Stunden

„Tauchas absonderliche Kriminalfälle“

„Sie meinten bisher, in Taucha passiert nichts? Irrtum! Der Nachtwächter führt Sie auf dieser spannenden Tour zu ehemaligen Tatorten, an denen in den letzten sechs Jahrhunderten Kriminalfälle passierten, die den Ermittlern so manches Rätsel aufgaben. Nehmen Sie mit Johann Christoph Meißner die Spuren der Vergangenheit wieder auf und staunen Sie über so manche abrupte Lösung ...“

Hier wollte sie nun alles nachholen, was durch Arbeit in den Hintergrund gerückt war. Agatha war wissbegierig und sie wollte auch staunen, genauso wie es in der Zeitung stand. Sie wollte die helle und die dunkle Vergangenheit ihrer doch so unbekannten Wohnstätte ergründen. Heute stand die Dunkle auf der Tagesordnung, und Agatha wusste in diesem Moment noch nicht, dass diese Tour ihr ganzes Leben verändern würde.

Noch gestern dachte sie: „Mörder, Diebe, Ehebrecher und das in Taucha, das gibt es doch gar nicht.“ Die Menschen waren nett, und wenn sie doch einmal Mittwoch auf den Markt ging, um frische Blumen für ihre kleine zauberhafte Wohnung zu kaufen, grüßten sie alle sehr freundlich, standen in kleinen Gruppen und tuschelten. „Nein, hier gibt es doch keine Mörder und Diebe, und Spießertum ist ja nun auch kein Verbrechen.“ Noch gehörte Agatha nicht so richtig zu ihnen. Obwohl sie schon viele Jahre in Taucha wohnte, angekommen war sie hier noch nicht. Sie sah sich allerdings schon mitten unter diesen Menschen. Sie wollte dazugehören, sich an den Gesprächen beteiligen und viel über diesen Ort erfahren, einen Ort, welcher sie immer mehr in seinen Bann zog. Im Buchladen, welcher hinter den Arkaden unterhalb ihrer Wohnung zu finden war, konnte Agatha einige Büchlein über Taucha erwerben und wurde in ihnen fündig. Sie konnte ihr Wissen über dieses bezaubernde Städtchen an der Parthe erweitern.

So zum Beispiel, dass Taucha erstmals im Jahre 974 urkundlich erwähnt wurde, dass in den Jahren 1349 und 1680 viele Menschen durch die Pest starben und auch dass mehrere Großbrände die Stadt zerstörten. Das Städtchen Taucha lag auf einer Höhe von 128 Meter über dem Meeresspiegel, hatte mit seinen neun Ortsteilen etwas über 14500 Einwohner zum jetzigen Zeitpunkt. Am 22. Januar 1851 wurde in der Schloßstraße 2 in der Wohnung des Herrn Breitenborn das erste „Expeditionslocal der Sparcasse der Stadt Taucha“ eröffnet.

Da war es wieder, das was sie schon seit Tagen beschäftigte – Sparkasse Taucha, hier war heute Abend der Startpunkt für den Nachtwächterrundgang, auf welchen sie sich schon wie ein kleines Kind freute. Heute ist die Sparkasse in der Leipziger Straße untergebracht und genau dorthin machte Agatha sich nun auf den Weg.

Mörderisches Taucha

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