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III. Schnüffelnase Georg

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Hauptkommissar Georg Tandler hatte sich auch schon längere Zeit auf diesen Nachtwächterrundgang gefreut. Schließlich war dieses Projekt ja vor allem sein Kind, er hatte diese Idee mit Jürgen aus der Taufe gehoben und wollte sie auch mit ihm und den anderen an diesem Abend erleben. Er hatte die vergangene und die kommende Woche Urlaub. Einen Urlaub, den er auch nötig brauchte. Es würde der letzte sein, denn seine Pensionierung stand unmittelbar bevor. Georg hatte seinen letzten großen Fall gelöst, ein Fall, der ihm ganz schön an die Nieren ging. Bei aller Abgestumpftheit seines langen Berufslebens, ein Fall bei dem es um ein Tötungsdelikt an einem Kind ging, das wühlte seine Seele immer wieder auf. Gott sei Dank, der Fall war gelöst, der Täter weggesperrt und nun auch noch verurteilt. Abgeschlossen, aber dennoch klaffte eine Wunde in seiner Seele offen, wenn auch unsichtbar. Wie immer wurde dem Täter die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Sein Verteidiger ließ nichts aus, um aus schwieriger Kindheit und verpfuschten Leben großes Kapital für seinen Mandanten heraus zu holen. Für das Opfer und seine Angehörigen blieben wenige Worte übrig. Das wusste er, und das war immer wieder so und immer wieder kotzte das Georg an. Umso mehr hatte er sich auf den heutigen Tag gefreut. Die Fälle, um die es hier ging, lagen weit zurück, und er kannte diese Menschen, bis auf einige wenige Fälle aus der jüngeren Vergangenheit, nicht. Er hatte mit Jürgen für den heutigen Abend eine Strategie entwickelt, eine Strategie, welche die neugierigen Menschen in den Bann des Verbrechens ziehen sollte. Die ganz alten Fälle aus dem Mittelalter und der Zeit um die Völkerschlacht, und die aus dem letzten und vorletzten Jahrhundert sollte der Nachtwächter erzählen, und Georg wollte über ein paar Fälle aus den Achtzigern berichten.

In einer Stunde würde über Taucha der Schleier der Nacht gezogen sein und alles Freundliche würde dahinter verborgen bleiben. Unwillkürlich fiel Georg das Gedicht „Menschen bei Nacht“, von Rainer Maria Rilke ein, und er trug es der erstaunten Menge gleich vor.

Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht.

Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht

und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.

Und machst du nachts deine Stube licht

um Menschen zu schauen ins Angesicht,

so musst du bedenken: wem.

Damit hatte er auf jeden Fall ein Stimmungsbild erzeugt, denn die Menge rückte gleich etwas enger zusammen und dies hatte den Vorteil, dass Beide nicht mehr so laut reden mussten. Ja, Georg war ein Feingeist. Er las gern, besonders Gedichte von Rilke. Spät erst hatte er sich damit beschäftigen können, denn Rilke war in der DDR, in der er aufwuchs nicht so unbedingt gewollt. Ansonsten stand er zu seiner Vergangenheit, denn Kriminalist war er schon seit seiner Jugend. Politisch hatte er sich damals wie heute nicht betätigt, was ihn auch von Beförderungen verschonte. Mit seinen knapp sechzig Jahren war er deshalb auch nur beim Hauptkommissar angekommen. „Mehr geht nicht“, dachte er und war zufrieden mit sich und der Welt. Er träumte vor sich hin. Der Tross überquerte die Leipziger Straße in Richtung Park, als es plötzlich hupte. Georg Tandler erschrak, denn er hatte den Funkstreifenwagen gar nicht kommen hören. Hämisch rief ein junger Kollege aus den Wageninneren: „Na Georg, bist du wieder als Schülerlotse tätig?“ Georg winkte ab und lachte. Inzwischen war es in Taucha dunkel geworden und etwas gespenstisch lag der Park vor ihnen. Die Gruppe war auf der Parthenbrücke stehen geblieben und Georg schaute runter zum Fluss.

Die Parthe ist ein kleiner Fluss in Sachsen, der im Glastener Forst zwischen Colditz und Bad Lausick entspringt und nach 56,7 Kilometern Flusslauf in Leipzig in die Weiße Elster mündet.

Dieses Faktenwissen beherrschte er noch, denn er wurde in seiner beruflichen Laufbahn doch schon einige Male zu Tatorten an diesen Fluss gerufen. Er war froh, dass das Verbrechen, welches ihn im letzten Jahr im Atem hielt, nicht in der Parthe endete. Man hatte den kleinen geschundenen und missbrauchten Mädchenkörper in einem Seitenarm der Mulde gefunden. Der Fall wurde vor allem dank Georgs aufopferungsvoller Arbeit schnell gelöst. Derartige Täter hatten keine Chance, unerkannt zu bleiben. Heute und im Moment war er nur Zuhörer, und er lauschte den Worten seines Freundes Jürgen Schulze, alias Nachtwächter Johann Christoph Meißner.

Agatha war bisher zurückhaltend der Gruppe gefolgt. Sie hatte Wasser und Brot, neben einer Taschenlampe, in der mitgebrachten Umhängetasche verstaut. „Das war eben eine gute Idee, die mit Brot und Wasser“, dachte sie sich. „Man fühlt sich doch damit gleich in die Kriminalgeschichte rein versetzt.“ Sie machte sich also mit den anderen dreißig „Gefangenen“, auf den Weg und genoss die prickelnde Stimmung, welche schon seit Beginn die Tour beherrschte. Agatha hing Jürgen Schulze förmlich an den Lippen. Sie schob ihren schmalen Körper in die erste Reihe, denn der abendliche Autolärm verschlang unwiederbringliche Wortfetzen. Auch Agatha schaute, wie vorher schon Georg Tandler, von der Brücke hinab zur Parthe. In Richtung Schöppenteich bildeten sich schon einige kleine Nebelschwaden über dem ruhig dahin plätschernden Fluss. Agathas Blick schweifte zu dem Platz auf dem früher das Café Sitz stand. „Tolle Wortkombination“, dachte Agatha, „das Café Sitz stand … hihi.“

Jürgen Schulze nahm den lächelnden Blick von Agatha wahr und erklärte ihr mit wenigen Worten den historischen Zusammenhang.

Im Jahre 1929 wurde mit dem Bau und der Gestaltung des Großen Schöppenteichs begonnen. In unmittelbarer Nähe wurde auch gleich eine schöne Gaststätte errichtet. Das Gelände gegenüber der Sparkasse wurde im gleichen Jahr an den Pächter Albert Sitz verpachtet. Danach gab es viele Wechsel in der Bewirtschaftung bis das im Volksmund genannte „Café Sitz“, in den neunziger Jahren abgerissen wurde.“

Hier gleich rechts neben der Parthe war sie als junges Mädchen des Öfteren in eben diesem Café Sitz zum wochenendlichen Tanz aus Leipzig mit der Straßenbahn angereist und wurde dann weit nach Mitternacht per Fuß nach Hause gebracht. Das Städtchen hatte sie schon damals gemocht, nicht ahnend, dass sie hier einmal zu Hause sein würde.

Im Moment hielt sie aber die Parthenbrücke in ihrem Bann. Der Gedanke, dass hier auf der Brücke vor vielen Jahren ein Verbrechen sein Ende fand, ließ Agatha leicht frösteln.

Mörderisches Taucha

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