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In so vielem zeigt die Individualisierung in unserer Gesellschaft auf der anderen Seite der Medaille üble Auswüchse von Egomanie.

2 Gesund leben in einer kranken Welt

Man spürt es, wenn man die Grenze nach Deutschland überfährt. Plötzlich ist es anders. Alles wird schneller, im Grunde wahnsinniger. Mit 160 km/​h auf der linken Spur muss man vorsichtig sein, damit man nicht von einem AUDI, BMW, Mercedes, Porsche … mit 230 km/​h „weggeblasen wird“. In keinem anderen Land der Welt kann man mit 280 km/​h über die Autobahn brettern. In den USA fährt man auf einsamen Straßen stundenlang lässig mit Tempomat. Unser Land ist dagegen dicht besiedelt, da gehen 280 Sachen auf der Autobahn. Und diese irrsinnige Gegebenheit ist mittlerweile ein Wirtschaftsfaktor: Man fliegt aus China und von sonst wo ein, mietet sich am Flugplatz eine Turbomaschine und dann geht`s los, mit 220 ab nach Rothenburg, Heidelberg, Neuschwanstein und ins Outlet-Factory.

Die Autobahn ist nur ein Beleg für dieses fragwürdige Turboleben. Ein solches sehe ich auch in dem Leben mit Kindern in diesem Land. Ab einem Jahr geht es in die KITA, dann in den Kindergarten, aber bitte mit Vorschulprogramm: Förderung erwünscht, nur nicht zu viel sinnentleertes Spielen. Denn umso früher, umso besser, ab in die Schule zum Lernen, Vorbereitung auf das Grundschulabitur in der vierten Klasse, das alle Türen öffnet: Abitur nach neun Jahren. Wer nicht funktioniert bekommt Ritalin. Zur Einschreibung an der UNI müssen Papa oder Mama mit, schließlich ist man noch nicht volljährig. Dafür ist man dann mit 21 mit seinem Bachelor fertig. Dann kann man 50 Jahre arbeiten und in die Sozialkassen einzahlen. Neben Turbo heißt das Motto Funktionieren: Leistung zeigen, im Wettbewerb bestehen. Hat man es geschafft, sein Leben mit einer ertragreichen Berufstätigkeit selber in die Hand zu nehmen, freut sich die Wirtschaft. Man ist der Konsument, den sie sich wünscht, beschäftigt mit Kaufen all der schönen Produkte, die man erwerben kann: insbesondere ein dickes Auto, tolle Kleidung, später ein schönes Haus. Man zeigt, was man hat. Und Haben ist wichtiger als Sein.

In meiner Schulklasse hatte ich eine sehr kommunikative, diskussionsfreudige Schülerin, die mit Leidenschaft ihre Argumente mit einem nachdrückliche „Is so!“ bekräftigte. In der Klasse wurde diese Wendung Kult.

Ich dachte mir: In der Tat, wir leben in einer Welt des „Is so!“. Eigentlich ist alles klar. Es ist so vieles selbstverständlich, was für mich nicht selbstverständlich ist und das ich als krank empfinde: Dieses Denken, dass Geld die Welt regiert, es wie gesagt um Kaufen, Kaufen, Kaufen geht. Das wichtigste ist die Wirtschaft und man lebt Hierarchien: Der Ober sticht den Unter – „is so!“. So vieles ist in meinen Augen pathologisch: Diese Unmengen an Schönheitsoperationen, dieser ganze Jugend– und Fitnesswahn, dieser Körperkult. Wo ist der Respekt vor dem Alter? Juli Zeh beschreibt genial diese Selbstoptimierer, deren Smartphones und Apps es möglich machen, seine Schritte, seine Kalorien, seinen BMI, … zu bestimmen und am PC zu zählen.7 Es herrscht ein Machbarkeitswahn im Streben nach Schönheit, Erhaltung der Jugend und des Glücks. Die Positive Psychologie suggeriert „Flourishing“: Du bist Herr deines Glücks. All das macht Stress! Die Zunahmen an Depressionen, das Phänomen Burnout, das wundert mich nicht! Bei diesem Denken werden Kinder zu einem Unglück, die körperlichen Veränderungen in einer Schwangerschaft zum Supergau für das eigene Ego. Eine Kabarettistin beleuchtete die Problematik: Da nimmt man sich eine Leihmutter aus Asien, setzt ihr die befruchtete Eizelle ein und lässt sich das Kind austragen. Das ist eine Win-Win-Situation, da leistet man sogar noch Entwicklungshilfe.

Und sieht man junge Menschen an der Bushaltestelle oder gemeinsam im Cafe sitzen, so glotzen sie nur auf ihre Smartphones. Man spricht nicht miteinander, hat aber 300 Freunde auf Facebook und WhatsApp. Wir bekommen eine Gesellschaft des gesenkten Hauptes.

So leben viele haltlos Werte, die zu hinterfragen sind: Konsum, Spaß, Schönheit, Jugend, Körperkult, Glück, Machtstrukturen, Konventionen. Eigentlich ist dagegen nicht viel einzuwenden – nur:

Die Dosis macht das Gift!

Insgesamt sind viele, wie ich es sehe, extrem haltlos. Mir kommt es vor als seien die Richtlinien, die Geländer, die Orientierung gaben, an denen man sich im Leben entlang hangeln konnte, in dieser kranken Welt von Wirtschaft, Konsum, Medien und in dieser radikalisierten Arbeitswelt verloren gegangen. Aber: „Is so!“ wird dagegen gehalten. Ich denke, ein Problem ist der Verlust von Werten. Man muss sich schon fragen: Was hat sich geändert? Welche Werte werden heute wirklich gelebt?

Ich diskutierte darüber mit einer Kollegin. Sie machte mich auf so viel Paradoxes in unserer Zeit aufmerksam. Wir haben: Große Häuser, aber kleine Familien, mehr Bildung, aber weniger Verstand, eine erweiterte Medizin, aber einen schlechteren Gesundheitszustand. Wir waren am Mond, kennen aber unseren Nachbarn nicht. Wir besitzen ein hohes Einkommen, aber weniger Seelenfrieden. Wir weisen einen höheren IQ auf, aber weniger Emotionen, gewinnen immer neue Erkenntnisse, besitzen aber weniger Weisheit. Wir werden immer mehr Menschen, aber die Welt wird immer weniger menschlich.

So spüren wir doch, dass etwas nicht stimmt. Es ist an der Zeit, innezuhalten, sich zu besinnen und gesunde Haltungen zu finden und zu leben. Früher fanden Menschen Orientierung im Glauben an externe Mächte, zum Beispiel im Glauben an Gott. Das gelingt Menschen in unserem Land immer weniger. Dagegen finden viele die Befriedigung der Sehnsucht nach einer tieferen Spiritualität im Buddhismus, beim Yoga und Meditieren, auch beim Wandern auf dem Jakobsweg.

Ich denke, Haltungen, Orientierung, Werte, Sinn, das finden wir vor allem in uns – wo denn sonst?

Denn das ist bei aller Kritik das Gute, wir leben in einem freien Land voller Möglichkeiten und man hat die Wahl, wie man leben will, vorausgesetzt die persönlichen Parameter lassen es zu. Ein selbstbestimmtes Leben ist möglich. Jeder kann entscheiden, inwieweit er Opfer der kranken Auswüchse unserer Gesellschaft wird. Ich werde versuchen, diesen Weg zu einer gesunden Lebensweise in den nächsten Kapiteln zu beschreiben. Am Anfang des Weges stehen Bewusstsein, Erkenntnisse, Wissen, Überzeugungen, die menschliche Werte beinhalten: Den Respekt vor dem Anderssein, Toleranz, das Leben des Prinzips Menschlichkeit (siehe 2. Kapitel ab Seite 27).

Wichtiges Rüstzeug auf dem Weg sind ein stabiles Selbst, der unbedingte Willen zu einer selbstbestimmten Lebensweise, das Leben der Haltungen „Ich bin gut, so wie ich bin“ sowie „Egal, was passiert, ich kann es schaffen“. Selbstbewusstsein, ein gesundes Selbstwertgefühl, im Grunde Selbstliebe zu entwickeln, das bedarf der Arbeit. Innere Stärke entwickeln wir aus der Art, wie wir Erfahrungen verarbeiten und aus dem, was uns Mitmenschen spiegeln (siehe 3. Kapitel ab Seite 65).

Womit wir beim Wesentlichen ankommen, der Frage: Wie wollen wir mit anderen leben? Die Haltung „Ich bin okay, du bist okay“ trägt uns zu respektvollen, gleichwürdigen und liebevollen Beziehungen. In ihnen finden wir als altruistische Wesen unser Glück, sie sind der wesentliche Baustein des Sinns im Leben. Der Weg zu gelingenden Beziehungen wird im vierten Kapitel beschrieben. Dabei ist vieles im Umgang mit anderen eine Frage der Kommunikation, der Entwicklung einer persönlichen Sprache.

Gelingt es derartige Haltungen zu leben, tragen sie uns zur eigenen Identität. Erst sie ermöglicht ein freies, selbstbestimmtes Leben. Sie ist die Grundlage dessen, kranken Gegebenheiten persönliche Stärke entgegensetzen zu können. Wir dürfen es nicht zulassen, Opfer zu werden, auch nicht im Umgang mit anderen Menschen und Gegebenheiten in Systemen, in denen wir in Machtstrukturen, Hierarchien und fragwürdigen Konventionen eingepresst werden. Die Welt des „Is so!“ muss nicht die eigene sein. Die eigene Welt ist die, in der man seine Integrität wahrt: die eigenen Werte lebt, die eigenen Bedürfnisse kennt und auch kommuniziert. Das klingt egomanisch, ist es aber nicht, wenn diese Haltung von Verantwortungsbewusstsein, Respekt, Toleranz, den Prinzipien Gleichwürdigkeit und Menschlichkeit getragen wird. Es ist nur das Einfordern dessen, was jedem zusteht: eine eigene Würde.

Natürlich bewegen wir uns nicht in einem luftleeren Raum. Wir leben ebenso Konsum, Spaß, bringen die in unserer Gesellschaft geforderte Leistung, wir stehen unseren Mann/​unsere Frau, so schwer es auch ist, all die Rollenerwartungen zu erfüllen, die das mit sich bringt. Nur sollten wir dabei die Dosis wahren und zu einem gesunden, natürlichen Umgang mit uns, unseren Kindern und der Natur finden. Die dafür erforderliche Achtsamkeit und ein natürliches, gesundes Leben sind für mich das Gebot der Stunde. Diese Natürlichkeit muss jeder in sich suchen und finden.

Darüber hinaus sind für ein erfülltes Leben Haltungen hilfreich, die in den Geheimnissen der Weisen verborgen liegen. Sie werden im zweiten Kapitel ab Seite 60 dargestellt. Eine wesentliche „Ich lebe im Augenblick“ war Gegenstand eines Vortrags:

Außerdem: Ab 30 ist man für sein Gesicht selber verantwortlich

Der Vortrag war einfach schön und aus meiner Sicht gelungen. Ich durfte in einem kleinen Ort vor Mitgliedern des katholischen Frauenbundes sprechen und das waren meine Botschaften: Glückliche Eltern generieren glückliche Kinder und starke Eltern haben starke Kinder. Es bereitete mir Spaß, über die Funktionsweise von Spiegelneuronen zu berichten und Eltern zu einer gewissen Gelassenheit zu führen, werden doch ihre Kinder so wie sie. Das ist zumindest meine gut begründbare These. Irgendwann erzählte ich, dass Kinder am Tag ungefähr 200 Mal lachen, wir Erwachsene vielleicht 15 Mal und in diesem Zusammenhang äußerte ich meine Überzeugung: Ab 30 ist man für sein Gesicht selber verantwortlich - will heißen, man hat es in der Hand, wie man leben will. Alles ist eine Frage von Einstellung und von Haltung. Was hindert einen daran, am Morgen aufzustehen und sich auf den Tag zu freuen, wohl wissend, dass man ja nur diesen einen Tag in seinem Leben hat, den man nur einmal leben darf, eben heute, und somit soll es trotz all der Verpflichtungen, des schlechten Wetters, was immer, ein schöner Tag werden. Kein Tag, der nur so vorüber geht. Wenn schon arbeiten, dann mit Freude. Man muss nicht griesgrämig rumlaufen, sich bis ins Letzte stressen lassen und sich am Abend fertig vor den Fernseher legen und einschlafen. Und vor allem, mit Humor geht alles leichter. Wenn schon Falten im Alter, dann Lachfalten!

Die Bedeutung derartigen Humors beschreibe ich ab Seite 85. Wenden wir uns zunächst aber den Basics zu, der Psychologie, wie Menschen ticken, der Philosophie, was Erfolg, Glück, Sinn im Leben generiert und den Lebensweisheiten der Senioren.

Du bist doch wer

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