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Kapitel 1 - Leelou

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Es war ein hübscher Morgen. Sanftes Sonnenlicht flutete die kleine Wohnung, vergoldete Schreibtisch, Kleiderschrank, ein Sammelsurium von Büchern, Flaschen und anderen, nicht auf den ersten Blick identifizierbaren Dingen und ließ die tanzenden Staubkörner in der Luft schimmern. Der Morgen war so schön wie ein frisches, kühles Glas Orangensaft mit Vanilleeis und Sahne, bestäubt mit rosafarbenem Zuckerstaub.

Als Leelou den schmalen Fensterspalt ein Stückchen weiter aufschob, um nach Draußen zu gelangen, strich ihr eine Brise um die Nase, die nach Blüten duftete. Sie schob das Fenster noch ein Stück weiter auf, um die angenehm frische Luft ins Innere der Wohnung zu locken. Auf dem Sofa regte sich eine Gestalt unter einer Decke langsam und träge, noch schlafend, und murmelte etwas vor sich hin, was nicht zu verstehen war. Leelou lächelte leicht und nur für sich selbst, dann setzte sie mit einem leichten Sprung über das Fensterbrett hinweg und landete lautlos und leicht mit allen vier Pfoten auf der Straße zwei Stockwerke darunter.

Der Asphalt war noch feucht von nächtlichen Regenschauern, aber schon so weit getrocknet, dass die Ausdünstungen die Luft nicht mehr beschwerten. Einige Pfützen zierten die Straße, und nach ein paar Schritten blieb Leelou neben einer davon stehen, um ihr Spiegelbild zu betrachten. Ihre bernsteinfarbenen Augen wanderten kurz über das dichte, weiße Fell, das ihren Körper bedeckte, und blieben an dem schwarzen, asymmetrischen Fleck über der linken Augenbraue hängen, wo die kurzen Haare einfach immer wieder aufs Neue zerzausten. Mit einer Pfote fuhr sie schnell darüber und glättete sie, dann lief sie weiter.

Ihr langer, dünner Schwanz bewegte sich hin und her, als sie an Tempo zulegte und schließlich wieder nach oben sprang, weg von der Straße, hinauf auf eine Mauer und von dieser auf ein nahegelegenes Dach. Von dort an ging es weiter von Haus zu Haus, immer höher, immer schneller. Leelou genoss den Wind in ihrem Gesicht, sie kniff die Augen zusammen und rannte noch schneller, sprang über Zwischenräume und kletterte schließlich eine kurze, aber senkrechte Wand hinauf, bis sie endlich oben auf einem mit alten und gesplitterten Ziegeln bedeckten Spitzdach einer etwas in die Jahre gekommenen Kirche ankam. Nun erst hielt sie inne, setzte sich neben die Statue einer jungen Frau, die dort auf einem kleinen Vorsprung stand, und atmete tief durch.

Ihre jetzige Position ermöglichte ihr einen wunderbaren, weiten Blick über die Dächer der Stadt, die sich gerade im Stadium kurz nach dem Erwachen befand, Menschen waren schon viele unterwegs, aber noch kaum jemand war dort angekommen, wohin er wollte.

Leelou benetzte geistesabwesend, von ihren Ausblick abgelenkt, mit der Zunge ihre linke Pfote und strich damit erneut ihr Fell glatt. Sie gähnte kurz und streckte dann ihr Gesicht der Sonne entgegen, die heute so wunderbar hell und warm schien, ohne dabei unangenehm heiß zu sein.

" Leelou!" sagte eine Stimme vom anderen Ende des Daches. Sie wandte sich um und legte den Kopf schief. "Guten Morgen." sagte sie dann. Mit einem flinken Flügelschlag war der Falke neben ihr und setzte sich dort auf einen halb herausgebrochenen Ziegel. Seine Federn zeigten ein weiches Muster in schokoladenbraun bis karamellbeige, nur die Brust war weiß und der Schnabel sowie die Klauen schwarz. Mit hellblauen Augen – sehr ungewöhnlich für einen Vogel, aber schließlich war Jacx auch kein herkömmlicher Vogel, genauso wenig wie Leelou eine ganz normale Katze war – blickte er sie an und grinste, ebenfalls eine Handlung, zu der nur ein Falke wie er in der Lage war. "Guten Morgen, Monica." grüßte er dann mit einer Art Vogelknicks die Frauenstatue, die mit auf der Brust gefalteten Händen stumpf und ausdruckslos in den Himmel starrte. 'Monica' hatten sie beide die Statue beim ersten Mal genannt, als sie hier gewesen waren.

"Gute Laune überall, ist ja nicht zu ertragen." Jacx zwinkerte Leelou zu und ließ dann seinen Blick über die Dächer schweifen, so wie auch sie noch kurz zuvor. "Es ist jetzt schon 'ne Weile her, man sollte meinen, sie beruhigen sich langsam." fügte er hinzu und sie spürte seinen Blick aus den Augenwinkeln, als warte er darauf, dass sie etwas dazu sagte. Mit einem angedeuteten Lächeln begann sie, sich ein wenig zu putzen, auf die herablassende Art und Weise, wie es nur Katzen konnten, das hatten alle Vertreter ihrer Art gemeinsam, ob nun transzendent oder nicht.

"Nun... dass Marian der Glanzvolle zu Fall gebracht wurde, ist nun einmal ein Grund zur Freude für alle... alle, die davon wissen. Auch wenn er in unserem Land lebte, war er doch eine Bedrohung für Hexen und Hexer überall. Und für normale Menschen natürlich auch." sagte sie, einen Artikel aus dem Funkenblatt, einer lokalen Zeitung, ungefähr zitierend. Sie seufzte. "Aber, hey, ich muss dir Recht geben… mir geht es auch auf die Nerven." Mit einem wissenden Kopfnicken reagierte er auf dieses Geständnis. "Und… die Ehrungsfeier? Für unseren großen Helden, du weißt schon. Gehst du mit deiner Miss hin?" fragte er dann mit einem leicht scheinheiligen Unterton. Langsam drehte sie ihm ihren Kopf zu und musterte ihn einmal von oben bis unten, gerade lange genug, um ihm die Tatsache ins Gedächtnis zu rufen, dass eine recht beliebte Art der Freizeitbeschäftigung herkömmlicher Katzen das Zerfetzen von Vögeln vieler verschiedener Größen war. Kurz war es still, dann lachte er leise und unbeeindruckt.

"Ich weiß noch nicht, ob sie hingeht." erwiderte sie einen Augenblick später ruhig. "Was ist mit deinem Sir?" Der Falke streckte kurz die Flügel, als wolle er sie mit Sonnenstrahlen füllen. "Hm… ich denke, Maco wird sich ein Event dieser Größe nicht entgehen lassen. Es wird ein Fest, ein großes. Ich hätte auch nichts dagegen, du weißt, ich mag sowas…" Sie grinste. "Ja, allerdings, ich erinnere mich an einen gewissen Wackelpudding-Vorfall…" Sofort zog er etwas peinlich berührt die Flügel ein und schüttelte sich gespielt schockiert. "Dass du mir das immer wieder vorhalten musst!" "Einen Vogel im Pudding bekommt man selten zu sehen, sowas bescheuertes kommt nicht mal im normalen Fernsehen vor."

Sie lachten beide. Leelou kannte Jacx nun schon seit einigen Jahren und sie waren recht gute Freunde. Eigentlich würde Leelou sogar so weit gehen, sie beide als 'beste' Freunde zu bezeichnen. Morgens oder vormittags trafen sie sich so gut wie immer auf dem selben Dach, dem einer alten Kirche, das deswegen schön hoch lag, und redeten über meist belanglose Dinge. Nur gelegentlich befassten sie sich mit ernsthafteren Themen. Jacx' Partner, ein recht erfahrener Hexer, der im Bereich der internationalen Beziehungen arbeitete, hatte oft mit interessanten Vorfällen zu tun, die Jacx Leelou jedes Mal in den leuchtendsten Farben schilderte.

Nach ungefähr einer Stunde trennten sich die Freunde, und Leelou setzte ihr Rennen über die Dächer eine Weile fort. Wie jeden Tag vergaß sie ein wenig die Zeit bei ihren Streifzügen. Als sie gegen Mittag ein wenig Milch aus einer Schale schleckte, die ein freundlicher Mensch für Straßenkatzen bereit gestellt hatte, war es richtig angenehm warm geworden, so mancher Mensch, den sie sah, wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn, doch kaum jemand beklagte sich. Erst gegen späten Nachmittag, als es etwas bewölkter wurde, machte sich Leelou auf den Heimweg. Sie trabte nun in gemäßigterem Tempo die Straßen entlang, und als sie auf ihr heimatliches Fensterbrett sprang – das Fenster stand noch im selben Winkel offen wie am Morgen – bemerkte sie, dass die Wohnung noch leer war.

Mit einem weiten Satz saß sie auf dem Schreibtisch, geschickt gelandet zwischen einem wackeligen Bücherstapel und einem halb leeren Glas Wasser, und richtete den Blick auf die Tür. Leelou wartete. Ein Blick auf die Uhr bestätigte sie darin, dass sie pünktlich zu Hause gewesen war, höchstens ein paar Minuten zu spät. Sie begann, sich ein wenig zu putzen, was heute jedoch bei ihrem schneeweißen Fell nicht sonderlich nötig war, doch es war eine Katzenangewohnheit, sich zu putzen, wenn man nervös war (oder verärgert, oder belustigt, oder beschämt, also eigentlich in beinahe jeder Stimmungslage – kein Wunder, dass Katzen stets als reinlich bekannt waren), und sie besaß diese Angewohnheit nun einmal ebenfalls. Sie wartete noch ein bisschen länger. Nach einer Weile wechselte sie ihren Sitzplatz, machte es sich auf dem Sofa bequem, dann nach fünfzehn Minuten auf einem tiefen Regalbrett, etwas später sprang sie wieder auf den Tisch. Sie hasste es, zu warten.

Nach einer Stunde hörte sie endlich Schritte im Treppenhaus, und schließlich wurde die Tür aufgeschlossen. Leelou spürte sofort, dass etwas nicht stimmte, sprang vom Tisch und rannte dem Mädchen entgegen, welches soeben die Wohnung betrat. Nora ließ die Tür hinter sich zufallen und ging dann sofort in die Knie, eine Hand nach Leelou ausstreckend.

„Hey...“ murmelte sie, und Leelou entdeckte mit Schrecken einen tiefen Kratzer unter ihrem linken Auge. Noras dunkelblonde, rückenlange Haare waren zerzaust, aber nicht so wie kurz nach dem Aufstehen oder wenn sie versuchte, sich Locken zu drehen, sondern mehr, als wären sie durch einen Haufen Scherben geschleift worden.

Leelou schmiegte sich in Noras Handfläche und ließ sich dann von ihr auf den Arm nehmen und ins Wohnzimmer tragen. Im Gegensatz zu den meisten Hexen lebte Leelous Partnerin sehr einfach. Die Wohnung hatte zwei Zimmer und einen schmalen Flur, alles war vollgestellt mit Bücherregalen, die sich wiederum bogen unter der Last unzähliger schwerer Wälzer, Kistchen und Flaschen, diese waren gefüllt mit Flüssigkeiten oder Kräutern, je nachdem. Eine ganze Ansammlung von nutzlosen Artefakten, die ausprobiert und dann vergessen worden waren… kurzum, alles Mögliche, was eine Hexe brauchte. Oder doch eher, was andere Hexen nicht mehr brauchten und was Nora in der Hoffnung an sich genommen hatte, irgendwann einmal dafür Verwendung zu finden.

Leelou bemerkte noch ein paar Schürfwunden an ihren Händen und Armen, als sich Nora mit ihr auf die Couch setzte. "Na, wie war dein Tag?" fragte sie und strich ihr über den Kopf und den Rücken. Leelou schnurrte und stubste gegen Noras Gesicht. Die Hexe lächelte müde. "Das ist nichts. Keine Sorge, ich… ach, egal. Die Typen neulich, dieser Zirkel, die haben mir doch so ein Rezept gegeben und wollten dafür Weißpulver. Naja, das, was ich ihnen gegeben habe, war ihnen nicht genug und von zu schlechter Qualität und da waren sie eben sauer, als ich gesagt habe, dass ich kein anderes mehr habe." Leelou drückte sich an Noras Brust und maunzte leise. Sie wusste, dass Nora sie nicht direkt verstehen konnte, aber meistens waren zwischen ihnen Worte auch nicht notwendig. "Dann hab ich das Zeug, was ich ausliefern sollte, fallen lassen… Mein Chef war ziemlich angepisst." Ein Seufzen. "Also eigentlich alles wie immer. Ich hab Hunger." Damit schob Nora Leelou sanft von ihrem Schoß und stand auf, schlurfte in die kleine Küche und begann, nach einem Topf zu suchen. Leelou schaute ihr dabei zu. Ihre gelben Augen folgten jeder Bewegung.

Es dauerte ein wenig, bis Nora es geschafft hatte, aus den vorhandenen Lebensmitteln etwas Essbares herzustellen, doch schließlich setzte sie sich mit einem müden Schnaufen auf den Schreibtischstuhl, eine Schüssel Suppe in der Hand. Leelou hätte ihr so gerne geholfen, sowohl beim Kochen als auch beim Freiräumen der Tischplatte, um Platz für besagte Schüssel zu schaffen, doch mit vier Pfoten anstelle zweier Hände war das kompliziert – magisches Wesen hin oder her, der Körper blieb der einer Katze.

Ihr blieb also nichts anderes übrig, als wieder auf Noras Schoß zu springen und laut zu schnurren. Dabei stieß ihr Schwanz gegen einen Stapel Schriftrollen, der auf der Tischkante lag. Es raschelte leise, doch laut genug, dass Nora aufsah. "Ah." machte sie und seufzte. "Es war nicht mal eine einzige Einladung dabei. Alles gleich Absagen. Keine einzige Chance auf wenigstens eine kurze Prüfung oder so…" Leelou wusste, dass die Schriftrollen allesamt Antworten auf Noras Versuche waren, einem Zirkel beizutreten.

Jede Hexe und jeder Hexer entfaltete seine wahre Macht, ja, fand seine wahre Macht und seine Kräfte erst, wenn er in einem Zirkel aufgenommen wurde. Seit Jahrtausenden war das so; magisch Begabte erhielten den Zugang zu ihren vollen Fähigkeiten nur durch die Verbindung zu anderen ähnlich Begabten. Das hatte die Natur so vorgegeben – selbst wenn man es über die Zeit hätte ändern wollen, wäre das niemals möglich gewesen. Im Großen und Ganzen war das ein praktisches System. Jeder Teenager, der gerade entdeckt hatte, dass er Kerzen anzünden konnte, indem er nur daran dachte, wurde so von seinen Zirkelmitgliedern von Anfang an geleitet, bekam Unterstützung und Hilfe wann immer er sie brauchte und fand stets guten Rat. Überflieger wurden auf diese Art und Weise gleich von Anfang an beobachtet und es wurde dafür gesorgt, dass ihnen ihre Macht nicht zu Kopfe stieg, um ein Entgleisen zu vermeiden. Natürlich funktionierte all dies nicht immer perfekt… Marian, genannt 'Der Glanzvolle' war ein solcher Überflieger gewesen, der ganz schnell gemerkt hatte, dass seine Kräfte die aller seiner Zirkelschwestern und –brüder weit überragten. Da er zudem auch noch schlau war, hatte er dies geheim gehalten und niemandem gezeigt. Und da war er dann gewesen, der unbesiegbare Hexer, der seine ganz eigenen Vorstellungen davon gehabt hatte, wie die Welt zu laufen hatte…

Leelou dachte mit einem leichten Schauer an ihn – ein einziges Mal hatte sie diesen Mann gesehen, von weit weg…

Die Welt hatte selbstverständlich unverschämtes Glück gehabt, dass Seamus aufgetaucht war – auf seine Art ein genauso mächtiger Hexer wie Marian, nur so unendlich viel sanfter, voller Freundlichkeit und trotzdem mutig wie der weiße Ritter aus den Sagen der Menschen persönlich. Er war der perfekte Held gewesen, und war es auch immer noch. In einem explosiven Kampf hatte er Marian besiegt und die Welt gerettet – danach hatte er sogar noch die Kraft gehabt, für ein Foto zu lächeln, bevor er vor Entkräftung ohnmächtig geworden war.

Leelou stubste Noras Hand an, die aufgehört hatte, sie hinter den Ohren zu kraulen. "Wenn ich einen Zirkel hätte, wäre das alles viel einfacher." schnaubte diese und kam der Aufforderung nach. "Dann würden sich meine blöden Kräfte endlich zeigen und entfalten und erwachen oder wie auch immer und ich hätte einen Haufen Probleme weniger." Mit ihren grauen Augen, die Leelou so sehr mochte, schaute sie auf ihren Schoß hinunter. "Es würden ja sogar ein oder zwei Leute reichen, die mit mir einen gründen, im Notfall. Wäre mir egal… Aber wer will schon mit mir-" sie brach ab und malte gedankenverloren mit dem Zeigefinger Muster in Leelous Fell. "Weisst du… wenn ich sechsundzwanzig bin, ist es gelaufen. Danach können die Kräfte nicht mehr erwachen. Ich hab noch zwei Monate…"

Leelou miaute leise und erwiderte Noras Blick. Mit Vollendung des sechsundzwanzigsten Lebensjahres verlor eine Hexe nicht nur die Möglichkeit, ihre wirkliche Macht zu entfalten, sie verlor zudem auch die schwachen magischen Kräfte, über die sie bis dorthin verfügt hatte. In Noras Augen stand jedes Mal ein wenig mehr Verzweiflung, wenn sie auf den Kalender blickte.

Wenn Helden nur nicht immer so viel zu tun hätten – Nora könnte bestimmt einen gebrauchen, dachte Leelou.

Als hätte sie ihre Gedanken gehört – was eigentlich gar nicht so unwahrscheinlich war, denn ein transzendentes Wesen hatte eine Verbindung zu seinem magiebegabten Partner, welche über jegliche normale Wahrnehmung hinausging – schaute Nora auf und ihr Blick blieb an einem an die Wand gepinnten Foto hängen. Es war das einzige Foto in der ganzen Wohnung – Leelou erinnerte sich daran, wie Nora einmal versucht hatte, eines von ihnen beiden zu machen, doch Wesen wie Leelou ließen sich von Kameras unglücklicherweise nicht einfangen. Auf dem Foto war eine jüngere Nora zu sehen, die neben einem etwas größeren Jungen stand, der sehr attraktiv aussah und sympathisch in die Linse lächelte, während sie eher wirkte, als wäre sie gerne woanders.

Bevor Nora noch trauriger werden konnte, als sie schon war, miaute Leelou laut auf und sprang auf den Tisch, beinahe die Reste der Suppe verschüttend. Sie wischte der Hexe mit dem Schwanz durchs Gesicht und setzte sich dann mitten auf den Berg Ablehnungsschriftrollen, um ihrer Partnerin zu zeigen, was sie von diesen hielt.

Nora lachte tatsächlich. "Nah. Das einzig Gute, was mir meine sowas von nicht-überragenden Fähigkeiten eingebracht haben, bist du, Leelou." Leelou grinste, wie nur Katzen es können, und schnurrte, als sie sich hinfallen ließ und sich ausgiebig auf den Schriftrollen wälzte.

Jede Hexe und jeder Hexer, und sei er oder sie noch so schwach, hatte die Fähigkeit, die Geister der Natur zu beschwören – und zwar genau ein einziges Mal im Leben. Mit jeder magischen Seele, die die Welt betrat, kam auch ein magischer Geist zur Welt, der zu dieser gehörte. Genau darum ging es bei der Beschwörungszeremonie. Hörte der richtige Naturgeist den Ruf seiner Seele und folgte ihm, wurde das geboren, was Leelou war: ein magischer, 'transzendent' genannter Partner, der seinem Beschwörer ein Leben lang – zumindest in so gut wie jedem Fall – treu zur Seite stand und zudem auch seine ganz eigene Magie besaß. Je nach Macht des Magiebegabten formte sich der gerufene Geist anders, aber immer nahm er die Form irgendeines Tieres an.

Katzen waren verschrien. Da der Geist stets auch viele Eigenschaften des Tieres, dessen Gestalt er annahm, übernahm, waren Katzengeister eigenwillig, sturköpfig und dreist. Durch das unvorsichtige Verhalten von Partnern in Katzenform war bereits die Tarnung von so mancher Hexe in der Vergangenheit aufgeflogen – das Klischee, das unter den normalen Menschen so verbreitet war und demzufolge die Hexe aus dem Märchen stets eine Katze bei sich hatte, war nicht ganz unbegründet. Zudem ließen so schwer beeinflussbare Tiere wie Katzen einen Rückschluss auf die schwachen magischen Kräfte des Hexers oder der Hexe zu – was zwar keinen Rückschluss auf die eventuelle zukünftige Entwicklung oder die eigenen Kräfte des Geisterpartners zuließ, doch Vorurteile waren nun einmal Vorurteile und ließen sich nicht allzu leicht aus der Welt schaffen.

Nora hatte all ihre Kraft benutzt, um Leelou zu beschwören, und Leelou wusste, dass, so sehr Nora auch unter ihrer Situation und ihren schwachen Kräften litt, sie nie unzufrieden mit ihr gewesen war.

Eine Weile saß die Hexe noch am Tisch, blätterte in dem einen oder anderen Buch und versuchte sich an der Herstellung eines kleinen Talismanes, nur zur Übung, doch als das fehl schlug, stand sie schließlich auf.

"Ich kann mich nicht konzentrieren." Müde fuhr sie sich durch das blonde Haar und über die Augen, wobei sie ihren schwarzen Mascara noch etwas mehr verwischte. "Ich geh ins Bett. Kommst du?" Leelou lief ins Schlafzimmer, ein ebenfalls mit allerlei Sachen vollgestellter Raum, der gerade so Platz für ein schmales Bett ließ, und wärmte die Decke vor, indem sie sich darauf legte. Als Nora aus dem Bad kam, begrüßte sie sie erneut mit Schnurren. Es dauerte nicht lange, bis das Mädchen eingeschlafen war. Leelou begutachtete die Verletzungen in ihrem Gesicht und pustete leicht gegen die schlimmsten Kratzer. Ein wenig Heilungskraft hatte sie, doch es reichte momentan wahrscheinlich nur dazu, den natürlichen Prozess etwas zu beschleunigen. Das war auch besser so – Nora mochte es nicht sehr, wenn Leelou ihre Kräfte für sie 'verschwendete', hatte sie einmal gesagt, und so würde sie es nicht einmal bemerkten.

Vorsichtig stand die Katze schließlich auf und schlich vom Bett herunter. Sie brauchte einen kleinen Spaziergang, hatte sie beschlossen, und so schön die Dächer bei Tage waren – unübertroffen war der Streifzug bei Nacht unter dem Mondlicht. Und es versprach, eine klare Nacht zu werden.

Das Buch der Vabavren

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