Читать книгу Das Buch der Vabavren - J.S.I. Joseph - Страница 4
Kapitel 2 – Hände wären von Vorteil
ОглавлениеDas Fenster stand so gut wie immer offen, sogar im Winter, daher konnte Leelou ohne Lärm zu machen wieder hinaus. Die Luft war noch ein wenig warm vom Tag, begrüßte sie jedoch schon mit der Frische der Nacht, und als Leelou wieder weit oben auf einem Dachfirst saß, fühlte sie sich beinahe schwerelos.
"Hey, Leelou!" Natürlich blieben derartige Augenblicke nie ungestört, das musste eine Art Naturgesetz sein. Sie wandte ihren Kopf und schaute sich um. Ein Stückchen unter ihr auf den Ziegeln nahm gerade Poka Platz, ein transzendenter Fuchs, der Partner der Besitzerin des Geschäftes für magische Accessoires im Nachbarviertel. Es musste etwas befremdlich aussehen, ein Fuchs auf dem Dach, doch Geistertiere, wie sie es waren, hatten ihre Mittel und Wege, dahin zu kommen, wohin sie wollten, auch wenn ihr derzeitiger Körper vielleicht nicht danach aussah. Bei Nacht würde es ohnehin niemandem auffallen – tagsüber allerdings mussten sie ziemlich genau darauf achten, was sie taten und wie.
"Guten Abend." sagte Leelou verhalten. Sie mochte Poka nicht besonders.
„Naaa, einen produktiven Tag verbracht, Süße?“ Der Fuchs blinzelte sie an. „Oder wieder mit Nichtstun verbummelt?“ Er seufzte, doch es klang gekünstelt, so übertrieben, dass klar war, es war spöttisch gemeint. „Oder sag bloß, sie hat wieder einen Kessel angezündet? Dann wäre es immerhin nicht so langweilig...“ Er lachte leise. „Du bist verschwendet an diese Verliererin...“ Poka bauschte seinen ohnehin sehr buschigen Schwanz auf und schlang ihn um seine Beine, so dass es so aussah, als säße er auf einem recht haarigen Kissen. Leelou fand den Anblick etwas lächerlich, zumal er das jedes Mal tat, wenn er sie traf. Vielleicht dachte er, er würde so eindrucksvoller wirken.
„Nora ist keine Verliererin.“ sagte sie leise. Pokas Ohren zuckten und er rümpfte leicht die Nase. „Klar, du musst das sagen.“ Er schaute zum Himmel auf. Der Mond war eine perfekte Kreishälfte. „Naja. Immerhin kann man dir keine mangelnde Loyalität vorwerfen. Mal was anderes...“ Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Gehst du, ähm, gehen deine Miss und du zur Ehrungsfeier?“ Leelou begann, sich etwas entnervt mit der linken Pfote die Schnurrhaare zu putzen. „Wieso fragt mich das jeder?!“ gab sie mit einer ihrem Gebaren entsprechenden Stimmlage zurück. Sie wusste allerdings recht genau, warum, und das nervte sie noch mehr. „Hm... vielleicht, weil-“ „Ja, ja, ist schon gut, Nora ist eine Versagerin und ich bin dumm und naiv, weil ich bei ihr bleibe.“ Leelou fauchte Poka an und sprang vom Dach.
Der Weg nach Hause kam ihr sehr kurz vor, weil sie so wütend war und in ihren Gedanken dem Fuchs eine Menge nicht besonders netter Dinge an den Hals wünschte. Ob er auch noch so überheblich sein würde, wenn sie ihm seine seidigen Fellhaare einzeln heraus zupfte? Ihre langen Sätze wurden langsam zu einem gemäßigten Lauf, bis sie auf dem Dach des Hauses ankam, in dem sich Noras und ihre Wohnung befand. Sie setzte sich kurz und atmete tief ein und aus. Im Nachhinein ärgerte sie sich darüber, überhaupt wegen Poka wütend geworden zu sein. Er machte sich eigentlich immer über Nora lustig – meistens ignorierte sie das einfach. Und die Sache mit dem brennenden Kessel war ein Unfall gewesen, der jedem hätte passieren können, dachte Leelou. Jedem... Anfänger, fügte sie dann mit einem Seufzen in Gedanken hinzu. Nora war stets so unsicher, daher fahrig und unorganisiert, so dass ihr jedes Mal aufs Neue die lächerlichsten Fehler unterliefen, wenn sie zu zaubern versuchte.
Kaum eine Hexe in ihrem Alter war noch kein Mitglied in einem Zirkel und musste auf ihre wahren Kräfte verzichten. All das steigerte die Chancen, in einem aufgenommen zu werden, leider nicht besonders.
Ein Krachen, nicht so laut, um die hier wohnenden Mensch aufzuwecken, aber bei weitem laut genug, um Leelou aus ihren Gedanken zu reißen, beendete ihr Nachdenken abrupt. Sie zuckte zusammen, hob die Nase und schnupperte in den Wind. Ein fremder Geruch zog sich ganz leicht durch die Luft. Sie spitzte die Ohren. Ein erneutes Geräusch, ein Knirschen, wie... zertretenes Glas. Wie zertretenes Kristallglas, aus welchem Noras mundgeblasene Kräuterflaschen waren – die Geräusche kamen aus ihrer Wohnung!
Leelou rannte los, war mit einem großen Sprung auf dem Fensterbrett und im Wohnzimmer. Zwei Gestalten bewegten sich darin, zwei Männer, einer von ihnen kramte auf Noras Schreibtisch zwischen den Papieren herum, der andere zog eine Schublade aus der Kommode und wühlte darin. Beide trugen schwarze Tücher um die Gesichter geschlungen, die nur die Augen frei ließen. Einer von ihnen hatte einen Pferdeschwanz im Nacken. Leelou bemerkte das leise Glühen eines Isolierzaubers an der Wohnungstür – bei ihr zeigte er wohl bloß keine Wirkung, weil sie eben war, was sie war.
„Hey! Raus aus meiner Wohnung!“ erklang Noras Stimme vom Schlafzimmer her. Leelou sah hinüber, die junge Hexe stand dort in der Tür, in ihrem Schlafanzug, mit einem rostigen Schwert in der Hand, das normalerweise zur Zierde an der Schlafzimmerwand hing. Auch wenn ihre Stimme fest und wütend klang, sah Leelou sofort, dass sie zitterte. In der freien Hand entstand langsam etwas wie ein Funkenball. "Wenn das nicht die Kleine ist." sagte einer der Männer, als sich beide aufrichteten und zu Nora umdrehten. "Bist du Nora Farnell, Kleine?" fragte der zweite mit einem Grinsen, das im Klang der Stimme mitschwang. "Nein, bin ich nicht! Sie haben sich in der Wohnung geirrt, und jetzt raus hier, ich hab die Wächter schon gerufen!" Die Männer lachten beide kurz auf. "Dann wären sie schon hier. Also, kommen wir zur Sache." meinte der von den Beiden, der am Schreibtisch stand, und machte einen Schritt auf sie zu. Nora wich zurück und stieß mit der Schulter an den Türrahmen, während sie das Schwert auf ihn richtete. "Bleiben Sie, wo Sie sind!" Die Funken in ihrer Hand wirbelten auf, waren aber immer noch entmutigend klein.
"Kleine, wenn du uns gibst, was wir wollen, passiert dir gar nichts, versprochen." "Ich habe nichts Wertvolles hier! Verschwinden Sie!" Mit einer schnellen Bewegung sprang der andere Mann vor, packte Noras Schwert an der Klinge, wobei seine Hand kurz hell aufleuchtete, riss es ihr aus der Hand, packte sie am Arm und zog sie nach vorne. Mit einem Schreckensschrei stolperte das Mädchen, hob die freie Hand, um die Funken zu werfen, doch diese verloschen augenblicklich, als der andere Mann ihr Handgelenk packte. Sie zerrten sie weiter ins Zimmer, einer von beiden fegte mit einer verächtlichen Geste alle Gegenstände vom Schreibtisch herunter, dann hob der andere Nora hoch und knallte sie mit dem Rücken auf die Tischplatte. Mit einer Hand hielt er weiterhin ihren Arm fest, mit dem sie versuchte, nach ihm zu schlagen, die andere schnellte nun zu ihrem Hals vor und drückte sie nach unten.
Das alles geschah unglaublich schnell, doch Leelou war nicht von der langsamen Sorte. Leider war dies der dritte Eindringling auch nicht, denn als sie los springen wollte, gerade als der Mann Nora das Schwert aus der Hand riss, wurde sie gepackt und zu Boden gepresst. "Nicht so schnell, Milchnase!" zischte eine kalte Stimme neben ihrem Ohr. Sie zappelte und fauchte, versuchte, um sich zu schlagen, doch ihr Angreifer musste dreimal so groß sein wie sie. Als sie es schaffte, sich etwas zu drehen, blitzten die Fangzähne eines ungewöhnlich großen Marders direkt vor ihrem Gesicht auf. "Wenn du deine hübschen Augen behalten willst, dann zappel nicht so, du dummes Vieh!" Als Antwort fauchte Leelou, riss eine ihrer Pfoten los und kratzte einmal kräftig in die Richtung, in der sie den Kopf des Marders vermutete. Ein Aufjaulen sagte ihr, dass sie wohl getroffen hatte. Sie spannte ihren ganzen Körper an und riss sich los, doch sie kam nicht weit. Mit einem wütenden Knurren traf sie ein Tatzenhieb und schleuderte sie gegen ein Bücherregal. Ihr wurde schwarz vor Augen, sie schüttelte den Kopf, um das Gefühl zu vertreiben, doch bevor sie ihre Benommenheit loswerden konnte, packten sie spitze Zähne im Rückenfell, zerrten sie ein paar Schritte beiseite, und etwas unangenehm Schweres legte sich auf sie.
Als sie wieder etwas sah, fand sie sich selbst gegen den Boden gepresst vor, den Marder mehr oder weniger auf sich liegend, mit einer Pranke voller scharfer Krallen direkt an ihrem Hals. Sie suchte mit den Augen im Raum nach Nora. Die Hexe gab einen unterdrückten Schrei von sich, als der andere Mann, der sie nicht auf dem Tisch festhielt – es war der mit dem Pferdeschwanz – ihr eine kräftige Ohrfeige gab.
"Wo ist es?" fragte er kalt. "Ich weiß nicht, wovon Sie reden!" Noch eine Ohrfeige schallte durch den Raum. Leelou wimmerte auf, doch sie konnte sich nicht bewegen, der Marder war zu schwer. "Wo ist es?" wiederholte der Mann, dieses Mal lauter und noch schärfer. "Ich weiß es nicht!" Nora schluchzte auf als die dritte Ohrfeige ihr Gesicht traf, und Leelou fauchte laut. "Jetzt halt die Klappe!" sagte der Marder in deutlich aggressiverem Tonfall, doch genau in diesem Moment biss Leelou ihn in die Pfote, die er an ihrem Hals liegen hatte. Es hatte nicht den Effekt, den sie sich gewünscht hatte, er jaulte zwar auf vor Schmerz, doch anstatt sie loszulassen, packte er sie wieder im Fell, zog sie hoch und knallte sie ein weiteres Mal gegen etwas Hartes, sie erkannte nicht, was, und als ihr dieses Mal schwarz vor den Augen wurde und alles um sie herum verschwamm, konnte sie es nicht aufhalten. Leelou verlor das Bewusstsein.
Kein transzendentes Geisterwesen erinnerte sich in ganzem Umfang an seine Zeit vor seiner Beschwörung durch seinen Hexenpartner. Aber sie existierten vorher, das war sicher, wenn auch in ganz anderer Form. Ihre Tiergestalt bekamen sie durch die Beschwörung, wenn ihre verwandte Seele nach ihnen rief. Die Verbundenheit zwischen Hexen und Transzendenten war tief und nur sehr schwer zerbrechlich. Leelou erinnerte sich an ihren ersten Augenaufschlag. Sie hatte Fell auf ihrem Körper gespürt, vier Beine, zarte, empfindliche Ohren, doch all das war zurück getreten hinter dem, was sie gesehen hatte. Ein paar sturmgraue Augen hatten in ihre geblickt, weit aufgerissen und voller Freude, voller Glück, so dass sie zu leuchten schienen. Goldfarbene Haarsträhnen waren ihr als nächstes aufgefallen, eine davon berührte sie, weich und schimmernd. Ein Lächeln hatte sie begrüßt, in diese Form gerufen, und im gleichen Moment, in dem Nora, damals gerade zwölf Jahre alt, die ersten Worte gesprochen hatte, die Leelou je vernommen hatte, hatte Leelou den Unterschied zwischen ihr und sich selbst erkannt, hatte erkannt, dass sie so grundverschiedene Wesen waren, und hatte den ersten Schmerz in ihrem Leben gefühlt, an den sie sich erinnerte.
"Da bist du… Ich habe mich so auf diesen Tag gefreut. Du bist das wunderschönste Wesen von allen… du bist perfekt…" Tränen waren in Noras Augen getreten, Tränen der Freude und der Erleichterung darüber, in einer so wichtigen Sache wie der Beschwörung ihres Seelenpartners nicht versagt zu haben. "Ich bin Nora… wir gehören ab heute zusammen!"
Der Schmerz, der erblüht war, als Leelou bewusst geworden war, dass sie dem Wesen, für welches sie vom ersten Augenblick an eine solche Liebe empfand, niemals so nahe sein können würde, wie sie es sich wünschte, war tief, süß und scharf, und von diesem Tage an trug sie ihn stets in ihrem Herzen, zusammen mit dem Versprechen, alles zu tun, um dieses Wesen zu beschützen.
Leelous Kopf hämmerte und schmerzte, als sie wach wurde und sich zwang, die Augen zu öffnen. Es war dämmerig im Raum, dämmerig und still. Sie zwang ihren Körper dazu, aufzustehen, und schüttelte sich kurz. Anscheinend war sie unverletzt. Schnell sah sie sich um. Nora lag ein paar Schritte entfernt auf dem Boden. Leelou witterte den Geruch von Blut und stürzte zu ihr. Sie maunzte laut und lang gezogen. Nora regte sich nicht, doch Leelou sah, wie sich ihre Brust leicht hob und senkte. Sie legte eine Pfote auf ihren Hals und spürte mit Erleichterung das Pulsieren der Ader. Ihre Gedanken rasten, und einen Augenblick lang war sie, der Frage gegenüber gestellt, wie sie sich nun verhalten sollte, einer leichten Panik nahe, dann fiel ihr Blick auf die halb offen stehende Tür. Sie rannte hinaus in den Hausflur, sah sich kurz um und entschied sich für die Tür der jungen Familie einen Treppenabsatz höher. Blitzschnell war sie dort, sprang auf das neben der Tür stehende Schuhregal und presste beide Pfoten auf die Klingel.
Es dauerte knappe zehn Minuten, bis der Krankenwagen und ein Polizeiauto eintrafen. Zwei Sanitäter leisteten Erste Hilfe, hoben Noras Körper anschließend auf eine Trage und brachten sie ins Krankenhaus, während sich zwei Polizisten in der Wohnung umsahen.
Leelou sah dem Wagen nach, als er mit Blaulicht davon fuhr, und hasste es in diesem Moment so sehr, eine Katze zu sein, dass sie sich am liebsten selbst die Schnurrhaare ausgerissen hätte. Welcher Mensch nahm schon seine Katze mit ins Krankenhaus – und das, während er selbst bewusstlos war? Sie durfte dieses dumme Vorurteil, dass Katzenpartner über kurz oder lang die Tarnung ihrer Hexe auffliegen ließen, einfach nicht bestätigen, nicht auch noch das.
Die Wohnung war verwüstet. Leelou verbrachte die Zeit, nachdem die Polizisten gegangen waren, bis zum Morgen mit dem Versuch, aufzuräumen, doch das war nicht einfach, war Noras und ihr Heim doch von vorneherein das pure Chaos gewesen. Allerdings musste man Nora lassen, dass sie so gut wie immer alles gefunden hatte, wonach sie suchte, also war das Ganze wohl eher eine Art persönliches System.
Als die Sonne gerade aufgegangen war, hörte Leelou Flügelschlagen am Fenster. Sie sah hoch und erblickte Jacx, der gerade auf dem Fensterbrett gelandet war. "Hey, wo bleibst du?" fragte er und schien dann die Unordnung zu bemerken – also, die fortgeschrittene Unordnung, in der sich die Wohnung befand und welche sich von der normalen abhob. "Äh, was ist passiert?" Leelou setzte sich hin, wo sie gerade stand, und ließ den Kopf hängen. "Nora ist im Krankenhaus. Sie wurde überfallen." Es war kurz still, dann flatterte Jacx zu ihr auf den Boden. "Wie, überfallen? Hier, in der Wohnung? Von wem?! Geht's ihr gut?" Leelou warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu. "Wenn es ihr gut ginge, wäre sie ja wohl hier. Sie ist, wie gesagt, im Krankenhaus, das heisst, ich hab keine Ahnung, wie es ihr geht. Und ja, sie sind hier in die Wohnung gekommen. Ich weiß nicht, wer die waren. Zwei Männer und ein Marder. Kennst du jemanden mit einem Marder als Partner?" Jacx schwieg und schüttelte den befiederten Kopf. "Willst du nicht ins Krankenhaus?" fragte er dann.
Sie stand auf und fing an, ein paar Papierschnipsel auf dem Boden einzusammeln. "Doch, natürlich. Aber ich kann da doch nicht einfach rein marschieren. Welche normale Katze rennt ihrem Besitzer ins Krankenhaus nach? Das ist viel zu auffällig." "Ich kann rausfinden, in welchem Zimmer sie liegt, und dann kletterst du an der Fassade hoch." schlug er vor. Sie sah auf. "Würdest du?" "Klar. Komm!"
Es war nicht weit zum Krankenhaus und sie beide konnten sich sehr schnell fortbewegen. Leelou wartete mit kribbelnden Pfoten unter einem Busch vor dem Gebäude, während Jacx von einem Fenster zum anderen flog. Schließlich kam er zu ihr zurück und wies ihr den Weg. Nur kurze Zeit später saß die weiße Katze auf dem äußeren Fensterbrett und schaute durch das Glas. Nora lag in einem Bett in einem Zimmer mit drei anderen Menschen, und sie war wach. Vor ihrem Bett standen zwei Frauen in Polizeiuniform, die sich aber gerade zu verabschieden schienen.
Um Noras Stirn war ein weißer Verband gewickelt, sie hatte ein paar Pflaster im Gesicht und auf den Armen und hier und da einen blauen Fleck, doch abgesehen davon, dass sie leicht benommen wirkte, schien es ihr gut zu gehen. Leelou bemerkte, wie sich die Erleichterung – einem geschmolzenen Eiswürfel gleich – in ihrem Bauch ausbreitete. Als die Polizistinnen das Zimmer verlassen hatten und Nora kurz danach zum Fenster sah, hob sie eine Pfote und imitierte ein menschliches Winken. Die junge Hexe sah erst verblüfft aus, dann lächelte sie, sah sich kurz um, ob jemand der anderen Patienten hersah, und als das nicht der Fall war, winkte sie zurück. 'Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen' formte sie mit den Lippen. Leelou lächelte ebenfalls.
Ein Mann betrat das Zimmer, vermutlich ein Arzt. Er trat zu Nora und holte ein Notizbuch hervor. Leelou lehnte sich etwas mehr zur Scheibe, um zu hören, was er sagte.
"Nun, Frau Farnell… Es geht Ihnen ja schon besser, nicht wahr?" fragte er, aber dem Tonfall war zu entnehmen, dass es ihm nicht allzu wichtig war, wie es Nora ging. Vermutlich hatte er um die fünfzig Patienten, um die er sich kümmern musste. Nora nickte nur. "Es ist so, dass Sie in diesem Falle, wie soll ich es sagen… Ihre Krankenversicherung deckt keinen längeren Aufenthalt ab." Leelou runzelte die Stirn. "Sie… werfen mich raus?" hörte sie Noras leicht ungläubige Stimme. "So würde ich es nicht ausdrücken, aber…" Der Arzt hüstelte. "Haben Sie zuhause jemanden, der ein wenig nach Ihnen sehen kann?" Nora hatte schon die Decke ihres Bettes zurück geschlagen und die Füße auf den Boden gestellt. "Wenn nicht, würde es einen Unterschied machen?" Der Arzt war offensichtlich verlegen. "Nun…" "Schon gut. Danke für die Hilfe." Die blonde Hexe stand auf und Leelou sah sofort, dass sie nicht sicher auf den Beinen stand. Trotzdem ging sie zu einem Stuhl, auf dem ihre Kleider hingen. "Dann… wünsche ich Ihnen guten Besserung, Frau Farnell." sagte der Arzt noch und wandte sich dann zum Gehen. Nora erwiderte nichts darauf. Man, sah, dass sie Schmerzen hatte, als sie versuchte, sich ihre Bluse überzuziehen.
Leelou hatte genug gehört und gesehen. Als Nora das Krankenhaus verließ, wartete sie unter dem selben Busch wie zuvor. "Leelou, meine Süße…" Nora ließ sich mit einem Ächzen in die Knie sinken. "Dir ist nichts passiert, ja?" Leelou schüttelte den Kopf und schnurrte, als sie über den Kopf gestreichelt wurde.
"Lass uns heim gehen, okay?" Der Weg nach Hause dauerte nun länger, denn Noras Gang war etwas wackelig. Jacx winkte Leelou von einem Dach aus zu und verschwand dann.
"Sie haben gesagt, ich hab eine Gehirnerschütterung, aber nichts wirklich Schlimmes…" erzählte sie. "Und halt ein paar Blutergüsse." Sie seufzte. "Ich hab keinen Schimmer, was die wollten. Soll ich zum Rat gehen?" Der Hexenrat war für Recht und Unrecht zuständig, etwa vergleichbar mit der Polizei. Leelou nickte ermutigend. Vielleicht wurden die Einbrecher ja gefunden. "Aber wahrscheinlich bringt das sowieso nichts. Nach dem, was ich mir da neulich geleistet hab, denken sie vielleicht, ich erfinde die Story." Nora war hin und wieder in Anflügen von Verzweiflung dazu gekommen, die eine oder andere Sache in dem einen oder anderen Laden mitgehen zu lassen. Beim Rat war sie daher ein wenig bekannt, sowohl als die Hexe ohne Zirkel, als auch als Gelegenheitsdiebin. Leelou verstand nur zu gut, dass sie daher zögerte, die Unbekannten anzuzeigen.
"Die Polizei war bei mir und hat gefragt, ob ich weiß, wer das war." erzählte Nora weiter. "Tja, wenn ich das mal wüsste…"
Als sie in die Straße einbogen, in der sich ihre Wohnung befand, roch Leelou Rauch. Sofort sah sie sich um. "Hä? Wer macht denn hier Feuer..?" murmelte Nora, dann weiteten sich ihre Augen. "Das ist bei uns!!" So schnell sie konnte, stolperte sie die Straße hinunter. Leelou war schon voraus gelaufen. Auf der Straße standen ein paar Leute, darunter auch die Bewohner des Hauses, in welchem sich Leelous und Noras Wohnung befand. Rauch quoll aus den Fenstern besagter Wohnung, und gerade als Nora und Leelou ankamen, erreichte ein Feuerwehrauto das Haus ebenfalls.
"Das glaube ich jetzt nicht." sagte Nora tonlos, als sie sechs Stunden später in der Wohnungstür stand. Leelou saß neben ihr und starrte genauso entsetzt in das Wohnzimmer, das sie noch heute Morgen versucht hatte, aufzuräumen. Nun konnte sie sich das größtenteils sparen.
Die Wohnung war nicht ausgebrannt. Das Feuer hatte sich nicht in andere Wohnungen ausgebreitet. Die Wohnungstür hing noch in ihren Angeln und konnte geschlossen werden. Das waren die guten Nachrichten. Nora betrat die Wohnung. Im Löschwasser schwammen ein paar verkohlte Papierschnipsel. Es stank nach nasser Asche.
"Ich kotz gleich." murmelte Nora, als sie das Absperrband der Polizei anhob, um darunter hindurch zu schlüpfen, und sprach aus, was Leelou mehr oder weniger dachte. Das Schlafzimmer war unbrauchbar, das einzige, was kein verkohlter Haufen Holz oder – wie der alte Fernseher - ein Klumpen geschmolzenes Plastik gespickt mit Glassplittern war, war der Schrank. Als Nora ihn öffnete, seufzte sie erleichtert. Im Wohnzimmer blieb sie wieder kurz stehen. "Schau dir das an." sagte sie zu Leelou, und diese folgte ihrem ausgestreckten Finger mit den Augen. Die Couch stand dort in ihrer Ecke, vollkommen unversehrt.
"Weisst du, ich hab mal versucht, einen Zauber draufzulegen, damit deine Haare nicht dran kleben bleiben." Nora schüttelte den Kopf. "Hat nicht geklappt, aber anscheinend hab ich das Ding feuerfest gehext." Sie ließ sich auf das Möbelstück fallen. "Tja, dann mal hallo neues Bett, neue Sitzgelegenheit, neue komplette Wohnungseinrichtung!" sagte sie halblaut, dann fing sie an zu weinen.
Leelou schmiegte sich an sie und maunzte, doch es dauerte eine ganze Weile, bis das Mädchen sich beruhigt hatte. "Leelou, ich brauch mir nichts vormachen…" schluchzte sie nach ein paar Minuten, "In meinem Alter nimmt mich kein Zirkel mehr auf. Erst recht nicht innerhalb der nächsten zwei Monate. Ich werde nie an meine richtigen Kräfte ran kommen. Das kann ich total vergessen." Sie holte tief Luft. "Ich hab Glück, wenn ich überhaupt noch 'nen Job finde, der genug abwirft, damit ich die Reparatur hier bezahlen kann…" Wieder kurzes Schweigen. Die Hexe zog ihr ramponiertes Handy aus der Hosentasche. Es piepte kurz, schrie nach einer frischen Akkuladung. "Ich könnte… ich meine, vielleicht kann mein Bruder…" begann Nora, dann schüttelte sie jedoch sofort den Kopf und steckte das jammernde Gerät wieder weg. "Egal. Nein."
Die Nacht verbrachte Leelou zusammen gerollt auf Noras Bauch, die auf dem feuerfesten Sofa schlief – wo auch sonst. Sie schnurrte weiter, selbst als es ihr schwer fiel, weil sie genau wusste, wie sehr das ihre Partnerin stets beruhigte, und dachte nach.