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EINFÜHRUNG Ein wunderbares Gefühl des Nichts

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Wenn du jemals auf dein Fahrrad gestiegen und losgefahren bist und das Gefühl hattest, deine Handlungen seien unabhängig von deinem Willen und all dein Denken würde vorübergehend pausieren, dann brauche ich dir wohl nicht zu erklären, was ich mit »Gefühl des Nichts« sagen will. Im Zen bezeichnet man diesen Zustand als Achtsamkeit.

Eines Mittags Ende 1982, ich war 38 Jahre alt, bemerkte ich, dass Fahrräder sich selbst lenken. Ich sitze am Strand mit Blick auf den Rio de la Plata, dort, wo sich heute der Jardín de la Memoria befindet. Bei mir ist Daniel Coifman, ein Freund und Psychotherapeut, der mehrere Aufenthalte am Esalen Institute in Big Sur absolvierte, mehrfach nach Indien reiste und, um es kurz zu fassen, die Geheimnisse des Bewusstseins erkundet hat. Unsere Fahrräder lehnen aneinander.

Ich erzähle ihm, dass ich mich an all die Orte erinnere, durch die wir zusammen gefahren sind: das Planetarium, den Bahnübergang beim Flughafen, die Kreuzung beim Fischerverein. Und auch an den Wind auf meinem Gesicht, das Wasser, das gegen die Brüstungen spritzte, den Essensgeruch in den Restaurants, wie du einen Umweg gefahren bist, um den beiden alten Herren aus dem Weg zu gehen, die Mate tranken … Aber ich kann mich einfach nicht daran erinnern, was ich dabei gedacht habe. Ich war abgelenkt, keine Ahnung, wo ich in Gedanken war. Ich weiß nur, dass ich jetzt hier bin.


Daniel springt auf. »Nein, du warst nicht abgelenkt«, sagt er. »Du warst geistesabwesend, aber nicht abwesend. Und ob du es glaubst oder nicht, das ist das genaue Gegenteil.«

Dreißig Jahre sind seit diesem wunderbaren Gefühl des Nichts und diesem Gespräch am Flussufer vergangen. Fünf Notizbücher á hundertsechzig Seiten, völlig zerfleddert, weil ich sie so oft aus meiner Hosentasche geholt und wieder hineingeschoben habe, wurden mit Hunderten von Worten und unzusammenhängenden Sätzen, Gebeten, unfertigen Absätzen, abgeschriebenen Zitaten gefüllt. Hin und wieder tippe ich sie in ein langes Textdokument auf meinem Computer ab, das ich dann auf irgendeiner Seite öffne:

»Der Reisende ist der Motor.«

»Es gibt keine Gespenster, nur Risiken.«

»Teilhaben, ohne sich darin zu verlieren.«


Die Verbindungen zwischen Fahrrad und Zen drängen sich förmlich auf, ganz gleich, auf welchen Lebensbereich sie sich beziehen. Ich suche nicht nach ihnen, sie verfolgen mich.

Zu meditieren bedeutet nicht, sich einfach im Lotussitz niederzulassen und zu versuchen, einen anderen Geisteszustand zu erlangen – das Sitzen ist dieser Zustand. Genauso ist das Sitzen mit herabhängenden Beinen, die rhythmisch die Pedale bewegen, und den Händen am Lenker an sich bereits die Einheit mit dem Fahrrad.

Diese beiden Praktiken sind Formen der »geistigen Verdauung«, denn sie reinigen unser Inneres. Es mag vielleicht so klingen, als könne man sie mit passivem Schweigen gleichsetzen, aber dem ist nicht so. Der Geist reinigt sich selbst und tritt auf ganz natürliche Weise in einen Zustand subtiler Aufmerksamkeit ein.

Die Informationen, die der Fahrradfahrer dem Fahrrad kommuniziert und die das Fahrrad an ihn zurückgibt, erzeugen einen ähnlichen Dialog wie den in unserem Körper, der den Botschaften des Verstands vorausgreift und sich autonom zu bewegen scheint.

Eine Hand fährt eine Tischkante entlang und erkennt, wo der Tisch endet. Ein Bein in der Luft und eine Fußbewegung können ausreichen, um einen Fußball zu treffen und in die freie Ecke eines Tors zu lenken – all das in weniger als einer Sekunde, niemand den Verstand fragen, was zu tun ist, und als würde dieser auch gar keine Entscheidung treffen.

Der Verstand erfüllt eine Doppelfunktion: Er ist da, ist wachsam und sendet auch die notwenige Hilfe (also Information) – eine Choreografie, die alle Worte transzendiert.


Verbinden wir unsere Sinne mit dem Objekt Fahrrad, wird es zu einer Erweiterung unseres Körpers, als sei es ein Gliedmaß. Es kann uns seinen Zustand mitteilen – also das, was es gerade braucht –, und interpretiert die Impulse, die es über die Kontaktpunkte aus dem Gehirn des Fahrers erhält. Diesen instinktiv ablaufenden Dialog etablieren wir quasi ab dem Augenblick, in dem wir das Fahrradfahren erlernen, ohne ihn überhaupt zu bemerken.

Aus Sicht des Zens ist das Fahren dieser Dialog.

Auf dieselbe Weise begegnet der Energiefluss oder Élan vital weniger Hindernissen, wenn Körper und Geist zusammenarbeiten oder, wie wir es von nun an nennen werden, aufeinander eingestimmt oder miteinander im Einklang sind. Der Energiefluss entspringt dem Inneren von Fahrer und Fahrrad und geht auch wieder dorthin zurück, weil das sein natürlicher Weg ist, und die Kontaktpunkte zwischen den beiden dienen dabei als Schnittstellen.

Wenn wir meditieren, stimmen sich die verschiedenen Körper, aus denen wir bestehen (physischer, emotionaler, geistiger und andere, weniger wahrnehmbare) aufeinander ein, der Verstand hört auf, sich einzumischen, und in unserem Bewusstsein öffnet sich ein nonverbaler Kontakt zu unserem tiefsten Innersten. Manchmal erreichen wir Höhen, die wir durch bloßes Denken niemals erreichen könnten, und wir haben den Eindruck, gleichzeitig präsent und nicht präsent zu sein. Es gibt dann keinen Unterschied mehr zwischen dem Beobachteten und der Tatsache, dass wir es sind, die es beobachten. Wir können an diesem Ort verweilen oder weitergehen und zurückkehren, wann immer wir wollen.

Es kann zwar gefährlich sein, beim Fahrradfahren in einen solchen Zustand einzutreten, aber sich aufs Meditieren einzulassen, bedeutet, jede Gelegenheit zu ergreifen, ein vollständiges Kontinuum aus Mensch-Fahrrad-Weg zu erreichen – wobei »Weg« hier die Umgebung mit einschließt.

Diese Perspektive ergibt heute, wo Fahrradfahren eine weitverbreitete Praxis ist, die einen Teil des Alltags darstellt und immer breitere Akzeptanz erfährt, mehr Sinn. Viele Menschen stellen fest, dass Fahrradfahren einem höheren Zweck dient als nur der Befriedigung ihrer körperlichen Bedürfnisse – es ist auch eine Methode, inneren Einklang zu finden.

Mein Automechaniker ist ebenfalls Radfahrer, und er hat mir einmal gesagt: »Wenn ich inneren Einklang und wieder ins Gleichgewicht finden will, schwinge ich mich auf die alte Klapperkiste«, und dann zeigte er auf ein schwarzes Fahrrad, das hinten in seiner Werkstatt lehnt.

Zen in der Kunst des Fahrradfahrens

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