Читать книгу Ace in Space - Judith C. Vogt - Страница 7
Ta moko
Оглавление//Yologram
Hauptaccount der Daredevils
>> als Spam markierte Nachrichtenanfragen
Tox-O-Meter: Die Neue ist jetzt nicht wirklich so eine verdammte Frakster? @PrincessDaredevil mag es ja draufhaben, soll uns einfachem Volk an den Endgeräten aber was Show gönnen, sonst gibt es auch keine Likes! #FuckAllFraksters
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»Ich hab eine Idee«, funkte Kian von seiner Manta zu ihr hinüber.
Er hatte Danai gebeten, ihn auf einem Patrouillenflug um den Devil’s Rock zu begleiten. Deardevil hatte befohlen, dass sich ständig zwei Maschinen im All befinden sollten. Es sei nicht auszuschließen, dass die Firestarters Marlenes Animositäten vorausahnen und zuerst angreifen würden.
»Was betreffend?«, fragte Danai und bewunderte in seiner spiegelnden flachen Cockpitscheibe die neuen fluoreszierend türkisen Streifen auf dem schwarzen Lack ihrer Slipstream.
Eigentlich glaubte sie nicht, dass er sie beide freiwillig zu einem Patrouillenflug gemeldet hatte, weil er sich Sorgen um die Firestarters machte. Kians streamte nicht, und auch sie hatte ihr Tablet und die Cockpitkamera ausgeschaltet. Er wollte reden. Mit ihr. Und sie hoffte inständig, dass es nicht um Mama ging.
»Die Sache mit den Firestarters. Kann sein, dass ich deine Unterstützung gebrauchen könnte.«
Sie beschleunigte über ihn hinweg, zog den Jäger in eine steile Kurve und überließ sich dem Rausch der G-Kräfte. Träge pulsierend erwachte ihr Reflexmodder, sie gab sich den Empfindungen hin und fragte sich dabei am Rande, wie Sex mit Kian wohl sein mochte. Sie mochte das Türkis in seinen Tätowierungen. Wie die Streifen an ihrer Slipstream.
»Wie stellst du dir meine Unterstützung vor?«, fragte sie, als sie wieder Atem holen und geradeaus denken konnte.
»Genau so«, kam seine Stimme aus dem Lautsprecher. »Du fliegst einfach geil, und ich habe eine Idee, für die das unerlässlich ist.« Er bewegte sich auf ihre Acht, lag aber weiter zurück.
»Schon klar, deshalb bin ich hier.« Sie beschleunigte erneut, einfach weg von den Asteroiden des Kobeni-Gürtels und in die Schwärze, in der Sterne wie Nadelstiche auf sie warteten. »Du bist Navig, oder?«
»Was hat mich verraten, waren es die Hautbilder?«, knisterte seine Stimme – sie war fast schon zu weit weg für die Kurzstreckenübertragung, die gerade von Sonneneruptionen gestört wurde. Sie ließ den Schubhebel los und schaltete stattdessen auf die Übertragung per AnsVi um. Ihr Tablet glühte in der Halterung kurz auf, dann war Kians Stimme wieder klar.
»Kann sein.«
»Tā moko«, sagte er. »Polynesische Tradition.«
»Schon lustig, wie sich so was hält. Sinnstiftend, selbst hier draußen.«
»Hier draußen noch mehr. Wir navigieren zwischen den Sternen. Während alle anderen Menschen weiter weg von ihren Gottheiten und Legenden sind.«
Danai starrte hinaus in die Schwärze. Sie hatte die Slipstream in einen Winkel gelenkt, der es ihr erlaubte, nur Sterne zu sehen und nichts von Menschen Berührtes. »Das würde ich so nicht unterschreiben. Alle Kulturen haben zu den Sternen aufgesehen.«
»Aber wir wussten immer schon, wie man nach ihnen steuert.«
»Gut für euch. Ich hoffe, die Sternbilder haben sich auf eurer Reise nicht verschoben!«, spottete sie.
»Natürlich haben sie das. Aber wir waren geistig flexibel genug.«
»Zurück zu deiner Idee, du geistig flexibler Prophet.«
Das Tablet zeigte neue Benachrichtigungen an, sie ließ sich kurz ablenken und schaute darauf. Die Schlagwortsuche nach den Aktivitäten ihres alten Arbeitgebers vermeldete sehr viel mehr Treffer als sonst. Sie ließ ihren Blick wieder nach draußen schweifen, aber sie konnte sich nicht mehr davon lösen, dass ihr Herz nicht wegen der G-Kräfte schneller schlug, sondern weil ein plötzliches, ungutes Gefühl sie überkam.
»Ja, genau …« Er klang auch abgelenkt. Er musste sein Tablet wieder eingeschaltet haben, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Seine schwere Manta beschleunigte langsamer, und Danai war mittlerweile ganz aus der Funkreichweite gedonnert. Aber warum war er auch abgelenkt? Er konnte unmöglich dieselbe Suche laufen haben wie sie. Es sei denn, er hatte beim Wiederherstellen der Accounts mehr mitbekommen, als sie beabsichtigt hatte.
»Ich dachte, wir fordern die Firestarters heraus«, begann er.
»Kian, du siehst den Satelliten, auf den du zuhältst?« Sie konnte durch den Lautsprecher den Näherungsalarm hören, der im Cockpit der Manta losging.
»Ja, ja …« Kian zog die Maschine bäuchlings am Scansatelliten vorbei. »Ich dachte an eine Challenge, einen Kunstflug…« Er verstummte, und dann fluchte er, sie verstand die Wörter kaum, weil gleichzeitig seine Hand auf das Armaturenbrett hämmerte.
Mit schlechtem Gefühl drosselte sie den Schub weiter und griff nach dem Tablet in der Halterung. Rief die Suchergebnisse auf. Es handelte sich um die immer gleiche Meldung in leicht anderem Wortlaut, diese Smashwits von Nachrichtendiensten schrieben nur voneinander ab.
»Massaker an Zivilisten. Hadronic Inc. verwandelt Vergeltungsschlag gegen Gater-Sekte in Luftangriff auf Zivilsiedlung.« – »Angriff auf fundamentalistische Sekte verwandelt sich in Bombardement auf Siedler.« – »Hadronic Inc. setzt sich durch und verleibt sich zivile Claims mittels Luftschlag ein.«
Kians Flüche verwandelten sich in ein grässlich klingendes Luftholen. Heulte er?
»Prophet, alles klar?«, fragte sie, und auch ihre Stimme klang etwas wacklig. Dann kam ihr der Gedanke, dass er natürlich nicht ebenfalls eine Schoogle-Suche nach Hadronic laufen ließ. Der Vorschlag am Tag zuvor – das hier waren die Leute, von denen er einen Auftrag hatte annehmen wollen. »Scheiße, Kian, das … das ist …« Sie stotterte im Cockpit nie. Gerade fehlten ihr einfach die Worte. »Die Nachricht von deiner Ex-Freundin … kam von Valoun II?«
»Ja. Ja, verdammt«, stieß er hervor, sie hörte, dass er die Zähne zusammenbiss.
Ihr wurde heiß und kalt gleichzeitig, unter der schweren Pilotenjacke stellten sich die Härchen an ihren Armen und im Nacken auf und ließen ein vom Reflexmodder noch verstärktes Gefühl des Unbehagens, eine Art Fluchtimpuls, durch ihre Nerven schießen.
Sie war ihren letzten Einsatz auf Valoun II geflogen.
Nachts.
Gegen Gater-Stellungen.
Das ist keine Nachricht zu meinem Einsatz, das ist zu spät, viel zu spät!
Sie starrte in die Leere da draußen. Lag Valoun II in dieser Richtung oder in einer anderen? Kian wusste es vielleicht. Sie nicht.
Das ist keine Nachricht zu meinem Einsatz. Das ist eine neue. Sie haben das gleiche Spiel nochmal gespielt. Diesmal sogar mit offenen Karten. Diesmal, ohne zu verschleiern, was für Absichten sie hegen.
Sie hätte es wissen sollen. Sie hätte Kian gestern nach Details fragen sollen, hätte eins und eins zusammenzählen sollen – aber er hatte das Loco Hana recht schnell verlassen und war in die Muckibude gegangen, um sich abzureagieren vielleicht, oder sich vor Marlene in Sicherheit zu bringen, sie hatte seine Fotos auf Yologram gesehen.
»Hast du von ihr gehört? Geht es ihr gut?«, fragte sie mit hohler Stimme.
»Keine Ahnung, ich hab hier nur den Zusammenschnitt von PolitiX laufen, keine Nachricht von ihr.« Er holte Luft, sagte aber nichts weiter.
»Vielleicht gibt es schon irgendwo Meldungen. Wie war … ist doch gleich ihr Name?«
»Neval. Toprak«, murmelte er stockend.
»Hast du ihre Accounts gecheckt?«
»Ich bin gerade dabei, verdammt!«
»Sollen wir zurück?«
»Nein, bloß nicht, ich muss das hier erst sortieren, ich muss …« Er brach ab, und dann wurde ihr klar, dass er die Verbindung unterbrochen hatte.
Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Obwohl ihre Triebwerke sie beschleunigten, gaben ihr die umliegenden Sterne und die so weit entfernte Sonne des Systems den Eindruck, dass sie sich gar nicht bewegte. Dass sie erstarrt in der Finsternis lag. Sie drosselte den Schub und flog eine harte Wende, und wenn es nur war, um sich zu beweisen, dass sie sich doch noch regen konnte, dass sie etwas bewegen konnte in dieser schwarzen Leere, und wenn es nur ihr eigener Jäger war.
Sie kehrte zu Kians schwerem Aufklärungschopper zurück und schwenkte mit einer präzisen Fassrolle an seiner linken Flügelspitze ein. Mit wenigen Metern Abstand blieb sie dort und musterte die Lackierung der Manta. Sie war dunkelblau, die Tā-moko-artigen Muster darauf waren in Vantablack gezeichnet und schienen beinahe wie Risse, die dunkle Materie hindurchließen. Sie konnte aus diesem Winkel nicht in sein Cockpit sehen.
Irgendwann öffnete er den Kanal wieder. »Warum bist du immer noch da?«, fragte er, nur scheinbar gelassen.
»Wingpal«, gab sie als Antwort zurück.
Sie schwiegen beide, dann sagte er schließlich: »Hätten wir deine Mom gestern noch überreden können?«
Sie wusste, was er hören wollte, aber es war ohnehin die Wahrheit: »Nein. Sie stand doch völlig neben sich.«
Er antwortete nicht. Sie tippte auf ihrem Tablet herum und fand Neval Toprak unter Kians Spacebook-Freundschaften. Es war die, mit der er so viele Pärchenfotos in seinem Album hatte, eine Frau von vielleicht Mitte zwanzig, eine Vorliebe für bunte Tücher ums Haar, etwas hellere Haut als Kian, keine markante identitätsstiftende Kleidung außer dem Tuch, das sie manchmal als Hijab trug und manchmal nur wie ein Band um ihre Haare geschlungen hatte. Nichts ließ zu, dass Danai sie in irgendeine Schublade steckte. Ihr Gesicht war ein kleines bisschen süß und dreieckig, und Danai fand sie attraktiv.
Aber vielleicht war sie tot, und das machte den Gedanken irgendwie makaber.
Gestern hatten die anderen Kian als fomo verspottet. Danai hatte geschoogelt, was das hieß und hatte den Slangbegriff »fear of making out« gefunden, eine Art übermäßige emotionale Bindung, auf die die Jockeys herabschauten und die sie als Zeichen von Schwäche interpretierten.
Vermutlich haben sie nicht unrecht. Gerade in einer Umgebung wie dieser hier ist es besser, sich nicht auf irgendwas einzulassen, was einen verletzen kann.
Deshalb hing er noch hier im All, versuchte, sich in den Griff zu bekommen, bevor er zum Devil’s Rock zurückkehrte.
Sofort schaltete ein Frühwarnsystem in ihrem Kopf: Wenn ich ihn schwach erlebt hab, wird er eine Schwäche von mir suchen, damit es ausgeglichen ist.
Sie dachte darüber nach. Sie gab so wenig von sich preis, dass er keine finden würde. Keine außer ihrer Sprechstörung, und das war ein schwacher Hebel, um ihn an ihr anzusetzen.
Die Tatsache, dass ich Bomben auf die Siedlung seiner Ex-Freundin geworfen habe, hingegen … Das war ein brauchbarerer Hebel.
Das würde er nicht herausfinden.
»Bist du noch in sie verliebt?«, fragte sie, entschlossen, seine eigene Schwäche auszuloten. So machte man das doch hier auf Gang-Territorium, oder? Sie war immer schon in der Lage gewesen, schnell zu lernen.
»Nee, das mit uns ist vorbei.«
»Vorbei heißt ja nicht, dass alle Gefühle ausgeknipst sind«, murmelte sie und versuchte, nicht zu rührselig zu klingen.
»Nee, heißt es nicht. Ist es auch nicht. Ich hab schon noch was für sie übrig. Aber ich bin nicht mehr in sie verliebt. Wir … wir sind einfach zu unterschiedlich.« Er lachte bitter auf. »Sie hat ein Sabbatical genommen, um ein paar Siedlungen auf Valoun II im Kampf um Förderrechte juristisch zu beraten. Und ich bin erst mit der Akademie auf die Fresse gefallen, dann mit dem Plan, zu freelancen, und jetzt, ja, bin ich halt hier. Ich würde nicht sagen, dass wir noch gut zusammenpassen. Ach, was soll das, ich weiß nicht mal, ob sie noch lebt, versmasht!«
»Weißt … weißt du, ob es auf ihre Siedlung schon mal einen Angriff gegeben hat?«, wechselte sie vorsichtig das Thema.
»Ja, das war der Grund, aus dem ihre Leute uns anheuern wollten. Vor … ich glaube, etwa zwei Wochen gab’s da nachts einen Überfall.«
»Scheiße.« Sie musste das Wort herauszwingen, das Herz war ihr in die Hose gesackt. So weit entfernt von Valoun II, und die Galaxis war immer noch ein Dorf, wie konnte das sein?
»Ja, Bro«, bestätigte er, wohl zu tief in den eigenen Gedanken, um irgendetwas aus ihrer Stimme herauszulesen.
Sie flogen eine weite Kurve, um wieder auf die Patrouillenroute zurückzukommen.
»Und der Plan mit der Challenge? Wolltest du mir noch davon erzählen?«
Er stieß die Luft aus, es rauschte in ihren Lautsprechern. »Ich glaub, ich muss erst rausfinden, was auf Valoun passiert ist. Ob Neval noch lebt. Kam mir vor wie ’ne gute Idee mit der Challenge, aber gerade …«
»Warum wolltest du die Idee mit mir besprechen?«, hakte Danai nach.
Der Asteroid kam wieder in Sicht, die kleinen, fensterlosen Aufbauten, die Sensoren, die tiefen Fördertunnel, in denen um die vorhandenen Minenstrukturen herum die typischen aus Schiffs- und Stationsteilen umfunktionierten Wohneinheiten klumpten, die den Space-Free-Turf ausmachten. Ein gigantisches Graffiti zierte eine flache Ebene des stadtgroßen Asteroiden: eine Teufelsfratze, die aus einem Cockpit grinste.
»Devil’s Rock« blendete ihr Navi überflüssigerweise ein.
»Ich dachte, ich besprech es mit dir, weil sie deine Mutter ist. Ich dachte, wenn ich dich überzeuge, überzeugst du sie. Ich bin nur Prospect, du bist ihre Tochter.«
»Die Prinzessin.«
»Genau, Bro.«
»Ich glaube, du kennst Mama besser als ich.«
»Kann sein. Aber du bedeutest ihr mehr.«
»Nicht, wenn sie drauf ist. Low«, rief sie sich das Wort wieder in Erinnerung.
»Das ist sie heute nicht mehr, zumindest das kann ich einschätzen.«
»Ja. Ich auch«, sagte Danai, und Kian zögerte kurz, bevor er sagte: »Familie ist manchmal nicht einfach.«
Sie lachte. »Du willst doch bloß, dass ich dir auch mein Herz ausschütte, vergiss es.«
»Hey, ich will mich bloß ablenken!«
»Wir sollen auf Perimeter B-sieben was checken«, las sie von der Anzeige ab. »Das sieht ziemlich eng aus, ihr räumt euren Weltraum nicht auf, was?« Sie scannte den Perimeter und fand eine ganze Menge ausrangierten Schrott aus den Minen vor. »Ich würde schätzen, deine Mühle ist nicht wendig genug, um zwischen Asteroid und dem Scheiß da zu manövrieren. Lass mich das mal machen.«
»Du hast keine Ahnung, was ich mit meiner Mühle alles kann.«
»Dann zeig es mir, Prophet!«
»Jetzt willst du wohl mich ablenken«, knurrte er, aber es schien zu wirken. Danai gab Gas und stürzte sich Hals über Kopf in das Konglomerat aus Weltraumschrott. Kian zögerte kaum und setzte auf ihrer Sechs nach. Sie grinste.
Eine Flug-Challenge? Oh, ich hätte Ideen für eine Challenge!, schoss es ihr durch den Kopf, bevor das Adrenalin übernahm.
Die Schuldgefühle der Überlebenden trafen Neval in dem Moment, in dem sie so etwas wie erwachte. Als sie begann, wieder so weit in die Wirklichkeit zurückzufinden, dass ihr eigenes Überleben ihr bewusstwurde, hörte sie die Schreie, Schüsse und die Detonationen der Bomben noch nachhallen. Sie wusste, dass sie größeres Glück gehabt hatte, als sie verdiente.
Verdienen …
Welche Instanz würde darüber entscheiden? Da war dieses Fünkchen in ihr, das an irgendeine Form von Gerechtigkeit glauben wollte – Gerechtigkeit war überhaupt ein Konzept, dem Neval etwas abgewinnen konnte. Dieser Funke konnte eine Flamme verursachen, die von Zeit zu Zeit höher brannte. Wenn etwas einschneidend Ungerechtes geschah, dann konnte sie sich nicht dagegen wehren, dass sie etwas Höheres herbeisehnte, auf das sie dieses Gefühl des erlittenen Unrechts projizieren konnte. Eine Instanz, die sich beschuldigen ließ – wie konnte sie so etwas zulassen? Im Herzen welches übernatürlichen Geschöpfes gab es Platz für eine solche Ungerechtigkeit, für ein solches Ungleichgewicht, für solch ein Gefälle?
Neval war im Siren Fog in einer großen Minensiedlung aufgewachsen, die als Start-up begonnen und schließlich Corp-Status erlangt hatte. Sie wusste, dass sie dort automatisch von Ungleichgewicht, von Ungerechtigkeit profitiert hatte – ihre Siedlung hatte feindliche Übernahmen durchgeführt und oft genug Notfallregelungen erlassen, die moralische Einwände mit angeblich dringenden Entscheidungen außer Kraft setzten. Letztlich war das zu ihrem Vorteil gewesen. Ihre Familie war nicht reich, aber sie war behütet und privilegiert aufgewachsen und hatte einen der teuersten Studiengänge an einer Corp-unabhängigen Akademie besuchen können. Und das war ihr normal erschienen, natürlich, allen, mit denen sie zu tun hatte, hatte Ähnliches offengestanden. Erst, als sie die Lücken und die eklatanten Unterschiede der Corp-Gesetze studierte, die Fälle, in denen Menschenrechte beschnitten und Leute enteignet wurden, war ihr mit Unbehagen bewusstgeworden, dass sie durch eine Linse auf die Welt sah.
Auf Valoun II, im Umgang mit Fervin und den anderen, die ihrer Zukunft mit einer Mischung aus Kampfeslust und Verbitterung entgegensahen, hatte sie sich zum ersten Mal schuldig gefühlt für etwas, das außerhalb ihrer Macht stand. Für Umstände, zu deren Erhalt sie zwar mit ihrer bloßen Existenz beigetragen, die sie aber nie willentlich unterstützt hatte.
Als sie aus einem Mahlstrom aus Schädeltrauma, Schrapnellwunden und Tinnitus erwachte, begriff sie sofort, dass ihr Überleben ebenfalls völlig außerhalb ihrer Macht stand – und trotzdem fühlte sie sich dafür schuldig.
Es dauerte, bis sie die Augen aufschlagen und begreifen konnte, wer ebenso glücklich (schuldig) war wie sie. Bis sie begriff, wo sie war (Amíttown). Was genau geschehen war (Bomben auf Gater und die, die sie bekämpften). Wie es um Fervintown stand (es war dem Erdboden gleichgemacht).
Als sie wieder sitzen, reden und ein Tablet anstarren konnte, gab es bereits sieben halbstündige Analyse-Vids von PolitiX und drei verschiedene Petitionen, vor allem initiiert von anderen Minen- und Tagebauwelten, auf denen es ähnlich um die Machtgefälle stand.
Fervin hatte mit ihrem Team überlebt. Sie hatten sich zu weit außerhalb befunden, als die Bomben fielen. Von Lerons Team hatten elf Leute überlebt, allein in diesem Trupp waren dreiundzwanzig Menschen tot. Die Überlebenden aus Meras Gruppe, die nicht so schlimm erwischt worden war, hatten die Verwundeten aus der Trümmerwüste, die von Siedlung und Pflanzbeeten übriggeblieben waren, zu Fuß und mit behelfsmäßigen Tragen fünfunddreißig Kilometer nach Amíttown transportiert.
Truppen von Hadronic hatten die Überreste von Fervintown besetzt und beuteten den Claim bereits mit großen Geräten aus. Amíttown, das auf demselben Reservoir saß, lebte jetzt ebenfalls in der grässlichen Furcht, ausradiert zu werden. Die Hadronic-Jäger waren eine treffsichere Route geflogen. Nicht nur Fervintown war zerstört, sondern auch zwei kleinere Siedlungen weiter südlich.
Der Konzern rechtfertigte diese Handlung damit, dass er das Minkowskium nicht in die Hände der Gater fallen lassen konnte. Die Siedelnden wären Kollateralschäden gewesen, niemand hätte gewusst, dass sie sich gerade im Konflikt mit den Gatern befanden.
SisX belegte in einem ihrer Vids natürlich, dass sie diese Info an das Gremium weitergegeben hatte, aber die sagten, aus dubiosen Quellen nähme man keine Informationen an.
Es wäre alles ein sehr unglücklicher Vorfall, aber in Anbetracht der Tatsache, dass die Gater dabei gewesen wären, das Reservoir südlich der Medianhöhen an sich zu reißen, sicherlich das bessere zweier Übel für die Siedelnden.
Neval musste lachen, als sie der Pressesprecherin von Hadronic zuhörte, doch dann schüttelten sie schmerzhafte Krämpfe, das Lachen ging in ein keuchendes Schluchzen über, dem sie selbst fassungslos lauschte, ohne sich stoppen zu können.
Das Gremium zog Hadronic nicht zur Rechenschaft. Sie ergingen sich in Erklärungen und Ermahnungen, es gab schließlich eine Klage nach Konzernrecht, deren erste Gerichtsverhandlung in drei Monaten anberaumt war – eine einstwillige Verfügung scheiterte.
Fervin sagte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die anderen beteiligten Konzerne ebenfalls Angriffe flogen, es als irgendein geringeres Übel deklarierten und sich ebenfalls Claims auf dieses bislang größte Reservoir des Monds unter den Nagel rissen.
Neval war die meiste Zeit, in der sie wach war, nach Schreien zumute, doch ihre Lunge war verletzt, und sie hatte einfach nicht die Kraft dazu.
Sie hatte auch nicht die Kraft, auf Kians lange Nachrichten zu reagieren. Sie hatte ihn erst einmal ignoriert, doch dann beschlossen, ihm ein Lebenszeichen zu senden. Er konnte nichts dafür, und er verdiente es nicht, dass sie ihn im Unklaren über ihr Überleben ließ.
»Selbst, wenn ihr den Job angenommen hättet, wärt ihr zu spät gekommen«, krächzte sie als Sprachnachricht ins Tablet. Sie war zu müde, zu sehr damit beschäftigt, von der Schwelle des Todes zurückzukommen, um zu tippen oder auch nur die Emotionen zu ertragen, die es erfordern würde, seine Nachrichten zu lesen oder zu hören.
Er antwortete erneut lange und ausführlich auf diesen einen Satz. Sie löschte die Nachricht, ohne sie zu lesen.
Er fühlte sich ebenfalls schuldig. Die Überlebensschuld eines Menschen, der mehrere Highways entfernt war.
Sie konnte ihm diese Schuld jetzt nicht nehmen. Sie konnte die Arbeit nicht tun, die das unweigerlich erforderte.
Das mit uns ist ohnehin vorbei, dachte sie, während sie an die sonnengelbe Decke der Krankenstation in Amíttown starrte und sich fragte, ob sie das Dröhnen der Bomber nur in ihrem Kopf hörte oder ob bald die nächsten Detonationen sie überlebend inmitten von Leichen zurücklassen würden.
Princess stürzte wie mit ihrer Maschine verschmolzen zwischen die Trümmerteile – sie feuerte kurz hintereinander auf zwei feindliche Schiffe und entkam in einem Funkenregen aus den Trümmern eines Bandits.
Als Kian sich sicher war, dass das Vid die Aufmerksamkeit der anderen im Hangar auf sich gezogen hatte, ließ er ein buntes Jingle der besten Manöver der anderen Daredevils ablaufen, inklusive seiner eigenen kleinen Stunts in den Trümmern während ihres Patrouillenflugs, aufgenommen aus seiner Cockpitkamera.
»Was soll der Scheiß?«, nahm die Prez, nun halbwegs nüchtern und griesgrämig, seine Mühen mit dem Schnittprogramm zur Kenntnis.
»Geile Flugmanöver, oder?«, fragte Kian herausfordernd.
Er hatte die anderen Daredevils im Hangar versammelt, der als silberne Röhre aus dem Asteroiden herausragte. Die Schotts vorn waren geschlossen, und der Hangar war, anders als bei Start und Landung, nun mit Luft gefüllt. Diese roch nach Öl und Treibstoff, nach verbranntem Lack und Gummi und dem angesammelten Dreck in den Ecken und an den Wänden. Die Magnetkatapultvorrichtungen waren bis auf zwei, die immer bereit waren, im Notfall Jäger ins All zu schießen, entspannt, und Dav lud die Kondensatoren wieder auf.
Alle anderen hatten sich um Kian versammelt, und er hatte das Video auf die Hülle von Princess’ Slipstream projiziert, auf der drei leuchtend türkise Markierungen prangten, für die drei Bandits, die sie abgeschossen hatte.
»Ich hab eine Idee, wie wir an Geld kommen und gleichzeitig die Firestarters so richtig smashen.«
»Passma auf, das interessiert mich sehr!« Bacon knuffte Deardevil in die Seite. Diese sah faltiger aus als sonst – das Untoxx, das sie sich nach solchen Trips einwarf, dehydrierte den Körper enorm, sorgte aber auch dafür, dass sie nur geringe Abhängigkeit nach dem, was sie zu konsumieren pflegte, entwickelte.
»Danai hier fliegt wie …«
»… ein Tengu!«, schlug Yokai vor.
»Ist das eine Art geflügelte Gottheit? Ich hab nämlich grad Wortfindungsstörungen auf der Suche nach einer geflügelten Gottheit«, sagte Kian, und Yokai nickte grinsend.
»Ein Tengu ist ein Yokai. Mit Flügeln.«
»Nice. Dann das.«
»Kinder«, rief Purple sie herablassend zur Ordnung. Ihre Sergeant-at-arms hatte nie viel für die Bälle übrig, die Kian sich mit den Yokai hin und her warf. Ihr wurde es schnell zu laut, außer, wenn die Kugeln ihr und ihren Enforcern bei Bodenmissionen um die Ohren flogen.
»Jedenfalls haben wir mit ihr einen echten Fang gemacht«, fuhr Kian fort. »No yolo, ich mein ihre Jockeykünste. Und wir anderen sind auch gar nicht schlecht, besonders Eyegle und Bacon.«
»Jederzeit wieder, Süßer«, grinste Eyegle ihn an und wackelte mit den Augenbrauen über den schützenden Linsen, die xiese nach einer Cockpitexplosion überempfindlichen Augen bedeckten.
»Also, mein Plan.« Er tippte das Tablet an, und die Anzeige wechselte auf einen neongrellen Schriftzug, der nun über die Flanke der Slipstream tanzte. »STUNTFLUGCHALLENGE – FLY OR DIE (OF SHAME)« lasen die anderen.
»Wir fordern die Firestarters offiziell zu einer Challenge heraus. Und ziehen ihnen dann so richtig vor Bulldoxx die Unterhosen runter. Wir fliegen die Cauldron-of-Death-Route.«
Eine weitere Geste auf dem Tablet ließ den Cauldron of Death aufflackern: einen Teil des Hotpot-Asteroidenfelds, in dem sich Asteroiden um ein abgebautes Gravitoniumvorkommen so gruppierten, dass die Gesteinsbrocken eine Art Kessel um ein leeres Inneres bildeten. Der Cauldron of Death war durch den Abbau instabil geworden, durch Zusammenstöße gerieten Asteroiden aus ihren alten Bahnen und bildeten eine höchst gefährliche Kulisse für Rennen aller Art.
»Wir machen Verfolgungen, klassische Pursuits«, schlug Kian vor. »Das Los entscheidet, wer führt und wer folgt, und die Person, die hinterherfliegt, muss der Route genau folgen und alle Stunts imitieren. Ich hab mir die Firestarters genau angeguckt, sie setzen vor allem auf Feuerkraft statt auf Wendigkeit. Wir werden sie da absolut ausziehen. No yolo«, setzte er den Indikator hintendran, dass er nicht mit ihnen zu schlafen gedachte, egal, wie nackt sie waren. »Wir fordern sie öffentlich heraus, sodass sie es sich nicht leisten können, das auszuschlagen. Bulldoxx wird drauf bestehen, dass die Firestarters zeigen, dass sie die bessere Investition sind. Bulldoxx ist ganz scharf drauf, online Muckis zu zeigen.« Kian zuckte mit den Brustmuskeln, sein enges Shirt unter der Kunstlederkutte zeigte das so gut, dass Eyegle in Lachen ausbrach und selbst Kami anerkennend den Mund verzog. »Wir streamen natürlich, Purple organisiert uns zuverlässige Werbepartner und Wettbüros, und zack, haben wir Kohle und Ansehen im Kobeni-Gürtel.«
»Falls wir tatsächlich gewinnen und nicht uns total blamieren«, sagte Danai, und Kian starrte sie finster an.
Es gab jedoch gar keinen Grund, so subtil zu sein, Bacon pfiff sie aus, Marlene machte eine beleidigende Geste in ihre Richtung, und Yokai schrie: »Ich verlier doch nicht gegen Dipshits wie die!«
Danai hob die Achseln. »Wir sollten das vielleicht realistisch sehen, dieser Cauldron of Death sieht nicht besonders einladend aus.« Sie stotterte, wie immer außerhalb des Cockpits, und wirkte damit nicht mehr wie das kompetente Ass auf seinem Zusammenschnitt. Kian sah, dass Gear schräg hinter ihr das Blinzeln imitierte, das mit dem Stottern einher ging. Gear befand sich nicht in Danais Sichtfeld, aber dass Tabs sofort laut lachte, als Danai gegen Vokale anstotterte, entging ihr nicht.
Kian lehnte sich gegen das Fahrwerk seiner Manta und wartete ab, während die anderen Danai den Kopf zurechtrückten. Als sie unfair wurden und ihr vorwarfen, sie habe nur Angst, dass sich ihr goldenes Konzernlöffelchen im Arsch verbog, verschaffte er sich noch einmal Gehör. »Also, ihr seid dabei, oder was?«
Das Gegröle erfüllte den Hangar, und Kian hatte das gute Gefühl, ein Spiel zwar nach den Regeln gespielt, aber trotzdem gewonnen zu haben.
Danai sah weniger glücklich aus. Als die anderen ihm für seine brillante Idee auf die Schultern mit dem immer noch defekten Prospect-Schriftzug klopften und Bacon eine Flasche Mecha-Fusel von Dav organisierte, stapfte Danai durch die hinteren Schotts des Hangars ins labyrinthartige Innenleben des Devil’s Rock davon.
Die Daredevils stellten die bewaffneten Streitkräfte und die hauseigene Jockey-Gang für die etwa kleinstadtgroße Bevölkerung dar, die sich neben der Arbeit für ROFL und dem Abbau von seltenen Erden mit allem Erdenklichen von Gamefarming über Pilzzucht über Wasser hielt. Die Spielhölle des Loco Hana oberhalb des Gang-HQs war immer gut besucht, auch von außerhalb – andere Free-Turfler des Kobeni-Gürtels kamen her, um ihr Geld beim One-Arm-Bandit-Holo oder beim Cyberdoggo-Grubenkampf zu verlieren.
Manche Tunnel waren beengt und schlecht beleuchtet, meist die, die in die chaotisch in die alten Minen gebauten und ziemlich beengten Wohnviertel führten. Andere waren breit wie Einkaufsstraßen und mit in Mustern verlegten Dioden schummrig erhellt, hier trafen sich die Bewohnenden zum Essen und Reden. Die Wohnungen waren meist zu klein für Küchenzellen, und auch die Nasszellen ließen zu wünschen übrig. Große Kantinen und öffentliche Bäder bildeten daher feste Eckpunkte im Alltag.
Danai hatte keine Lust auf den Käfig ihrer viel zu dunklen Zelle, ihr war aber auch nicht nach den dämmrigen Korridoren, in denen sich die Normalsterblichen des Devil’s Rocks trafen. Überhaupt war einfach alles hier viel zu dunkel. Corp-Turf-Raumstationen gaukelten immerhin mit Bildschirmen Landschaften außerhalb des Fensters vor oder gewährten sogar Aussicht ins All. Im Devil’s Rock war alles aus Metall und klaustrophobisch verwinkelt.
Danais Weg führte von den breiten Passagen in die schmaleren und endete an einer Theke. Es war nicht das Loco Hana, und die Cocktails sahen tödlich aus, weshalb sie sich ein Bier bestellte. Die Musik wummerte laut, und da irgendwo immer Nacht war, wiegten sich bereits ein paar Körper auf der Tanzfläche, obwohl es nach der Norm-Tageszeit des Asteroiden kurz nach Mittag war.
Das Bier hatte einen leicht galligen Geschmack, aber vieles hier auf der Station schmeckte irgendwie unappetitlich wiederaufbereitet, und Danai begann, sich ein wenig dafür leid zu tun, dass sie hier gelandet war.
Ganze Sternensysteme lagen zwischen ihr und Valoun, doch sie hatte Valoun und Hadronic nicht davonlaufen können.
Selbstmitleid machte sich breit. Nun steckte sie ausgerechnet bei einer Bande toxischer Egosmasher fest. Ja, sie hatte die Corp-Turf-Regeln gehasst. Natürlich war sie die gewesen, die bei Vorgesetzten aneckte, ihr Ding durchzog, die Regeln überdehnte – was sie sich nur aufgrund ihres fliegerischen Talents (und der Unterstützung ihres Vaters, wie sie sich eingestehen musste) hatte leisten können. Eigentlich hätte ihr die Anarcho-Attitüde der Jockeys gelegen kommen müssen. Aber selbst bei Regeln, die ihr auf die Eierstöcke gegangen waren, hatte sie gewusst, wofür sie da waren: für Ordnung, Disziplin, und oft genug für den Schutz einzelner vor der Meute der anderen. Und war es wirklich gut, dass hier niemand gebremst wurde? Dass nichts diese Jockeys vor ihren eigenen Egos beschützte?
Danai war nicht für das Leben auf diesem Felsen gemacht.
Auf der Tanzfläche änderten sich nun Rhythmus und Licht, sodass ein paar Leute, die dem Teenageralter erst knapp entronnen waren, einen ziemlich kuschligen Tanz begannen, bei dem sich besonders die Person in der Mitte recht ansehnlich räkelte. Ihre Augen hingen an ihm, ohne dass sie viel dagegen tun konnte – sie war wirklich länger nicht mehr mit jemandem im Bett gewesen.
Gerade setzte sie ihr zweites Bier an, als ihr Tablet in der Jackentasche vibrierte. Da sie die meisten Notifs ausgeschaltet hatte, sah sie nach: eine Nachricht von Kian.
Sie wandte einem Typen, der sie gerade hatte anquatschen wollen, so abrupt die Schulter zu, dass diese ihn am Kinn streifte. Warum war er ihr auch so nah? War er einer von denen, die ihr in die Haare grapschen wollten? Oder hatte er ihren hungrigen Blick Richtung Tanzfläche fehlgedeutet? Dass sie sich im Frust, den sie wegzutrinken versuchte, an geschmeidig wippenden Hüften erfreute, hieß nicht, dass sie wahllos geworden war!
//Hey, wo bist du hin, heute kein Loco Hana? Es gibt doch was zu feiern
//Kein Interesse, danke
//Was ist los? War’s dir zu rau?
//Leck mich
//Okay, da ich das nur lese und keinen Tonfall höre: no yolo oder yolo?
//Du sollst mich nicht wirklich lecken, Prophet.
Sie sah, dass er tippte. Sah das Symbol verblassen. Sah es wieder erscheinen. Es blieb eine ganze Weile, dann verschwand es wieder. Er tippt irgendeinen anzüglichen Scheiß und löscht ihn dann wieder. Sie stützte den Kopf in die Hände. Diese Stimmung in der Gang, auf den Schwachstellen der anderen herumzureiten, widerte sie an. Es kam keine Nachricht von Kian, also beschloss sie, ihn aufzuklären.
//No yolo
//Ja, hab ich verstanden.
//Du hast mich durch die Trümmer fliegen lassen, um das danach für diese Stuntflugchallenge zusammenzuschneiden.
Sie war länger mit diesem Satz beschäftigt, das Bier ließ ihre Finger nicht immer die richtigen Felder finden. Die miese Laune breitete sich wie ein Sumpf in ihr aus.
//Ja, hab ich. Ich kann dir das erklären. Sollen wir uns treffen?
//Ich will gerade niemanden sehen.
Sie fuhr zu einem neuen Nebenmann herum, nein, eher eine Nebenfrau, die vertraulich eine Hand auf ihren Arm gelegt hatte. »Ich will gerade nicht angegraben werden, no verdammtes yolo, checkt ihr das!?«, zischte sie die Frau mit den schimmernden Metallaugmentierungen im Gesicht an, die den Mund verzog, dabei ein paar Metallzähne offenbarte und dann tanzen ging. Kurz fragte sich Danai doch, wie es wohl war, mit ihr herumzumachen, ob man das Metall in den Wangen wohl beim Küssen spürte. Dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf und wandte sich wieder dem Tablet zu.
//Der Zusammenschnitt tut mir nicht leid, der ließ dich besser dastehen als alle anderen von uns, Princess. Aber mir tut’s leid, dass die anderen ein bisschen eskaliert sind. Und ja, war meine Schuld. Ich hab’s falsch eingeschätzt, und das tut mir leid. Sie waren in so einer Stimmung, nach gestern, nachdem Marlene so ausgerastet ist, das musste irgendwohin. Und jetzt die Aussicht auf ein Rennen. So sind sie halt, das heizt ihnen ganz schön ein, und wenn dann jemand zögert, stürzen sich alle drauf, um zu beweisen, dass sie die Geilsten sind
//Und jetzt wirst du mir sagen, dass du und ich ganz anders sind, oder?
//Hey, das hier ist keine Anmache! Aber, ja, ich bin anders, denn ich entschuldige mich gerade bei dir.
Sie seufzte genervt und trank am lauwarmen Bier.
//Vielleicht sollte ich mir doch Anmachsprüche und keine Entschuldigungen von dir anhören. Deine Entschuldigungen sind ja noch fader.
//Hey, aber ernster gemeint. Ich weiß, dass es hart ist, neu dazuzukommen. Und dass es gut ist, wenn Leute da sind, die schon länger dabei sind und die hinter dir stehen. Und das hätte ich sein sollen, nachdem wir da draußen auf Patrouille waren und du meine Wingpal warst. Als ich dir von Neval erzählt hab.
//Ja, hättest du.
//Verzeihst du mir trotzdem?
//Nur, wenn du mir verrätst, welchen Anmachspruch ich verpasst hab. Was ist dein schäbigster? Mit dem du niemals jemals jemanden rumkriegst?
//Dein Vater muss ein Ingenieur sein, denn er hat dir Gravitonium in die Augen gesetzt und nun ziehen sie mich an.
//Wow. Uff. Der war …
//Schäbig?
//Superschäbig.
//Leg los, und ich sag dir, ob ich’s schäbig finde.
//Das ist dein Versuch, mich ans Flirten zu kriegen.
Daumen hoch von ihm. Zwinkersmiley von ihr.
//Also du flirtest lieber ohne Worte?
//Ich bin Stotterin, natürlich flirte ich lieber ohne Worte.
//Schriftlich geht auch?
//Geht auch.
Er schickte ihr ein unschuldig pfeifendes Gesicht. Sie musste wider Erwarten grinsen.
//Ich trinke hier in Ruhe ein Bier und sage allen, dass ich kein Interesse habe. Dir kann ich das gern auch sagen. Hier sind allerdings ein paar Leute, die gut tanzen können. Vielleicht schau ich sie mir einfach weiter an.
//Oder du setzt dich in eine nette Ecke und schreibst mir flirty Nachrichten. Was klingt nach dem besseren Abend?
Sie verschluckte sich fast am Bier, als sie mitten im Schluck lachen musste. Sie leerte das Glas und bestellte ein drittes. Dann sah sie sich um. Tatsächlich, es gab ein paar Ecken, in denen man ihr nicht über die Schulter aufs Tablet starren konnte und sie trotzdem die Tanzenden betrachten konnte. Als die im Takt der Musik mitwippende, kahlköpfige Person hinter der Theke ihr das Bier herüberschob, zahlte sie mit einem Wink ihres Tablets, nahm das Glas und schlenderte von der Theke über die Tanzfläche zu einem kleinen Tisch weiter hinten.
Die Gruppe der Tanzenden teilte sich kurz vor ihr, ließ sie für eine Millisekunde in ihre Mitte und dann hindurch.
Sie legte unter dem Tisch die Füße auf den zweiten Stuhl, damit bloß keiner auf die Idee kam, sich zu ihr setzen zu wollen, und versuchte, eine möglichst feindselige Aura auszustrahlen.
Dann starrte sie wieder ins Chatprogramm. Ein Emoji wackelte auffordernd mit den Augenbrauen.
//Okay, ich sitze jetzt an einem Tisch. Allein. Nur WitChat und ich.
Foto oder es ist gelogen!
[Du hast ein Foto aufgenommen]
//Überzeugend. Dann schieß los. Ich bin noch nicht interessiert, aber du gräbst mich an. Du bist gerade auf Smouldr über mein Profil gestolpert und willst wissen, ob du diesen heißen Typen aufreißen kannst.
//So klar definiert ist diese Situation?
//So ist sie zumindest in meinem Kopf. Und in deinem?
//Ich kann damit arbeiten.
Sie starrte angestrengt nachdenkend zur Decke. Sie hatte Julainne damals tatsächlich auf Smouldr angeschrieben, und sie konnte sich an Vieles aus ihrer Beziehung erinnern, aber nicht an ihre Eröffnungsnachricht. Sie würde mit etwas Neuem beginnen müssen.
//Nette Tattoos. Tā moko?
//Ehrlich? *Das* ist dein Anmachspruch?
//Hey, Leute, deren Tattoos *so* identitätsstiftend sind, wollen drauf angesprochen werden!
//Na ja, du hast recht. Ja, Tā moko, das ist die uralte Tattookunst meiner polynesischen Vorfahr:innen. Jede Linie steht für etwas Bestimmtes.
//Cool! Ich dachte, das kann man sich an jedem halbseidenen Raumhafen stechen lassen.
//Wow, du bist allererste Sahne im Angraben. Also, ja, das kann man auch, aber mein Tā moko ist nicht halbseidene kulturelle Aneignung, sondern the real deal.
Sie lachte erneut auf. Er diktierte das vermutlich, so schnell, wie seine Nachrichten ankamen. Sie brauchte länger – es war in dieser Ecke vielleicht noch lauter als an der Theke. Sie beschloss, Bezug auf ihre erste Begegnung mit seinem Pixxor-Profil zu nehmen.
//Die Linien an deinem Hintern, haben die auch Bedeutung?
//Du gehst ja ganz schön ran. Wir reden jetzt schon über meinen Hintern? Gefällt er dir?
//Schon, ja.
//Ist dir schon aufgefallen, dass dein Reflexmodder und meine Tattoos farblich zueinanderpassen?
//Leuchtest du im Dunkeln, Kian?
//Hehe, ja. Und du?
//Ich kann’s runterregeln.
//Ich nicht. Das ist echtes, aber sehr gering dosiertes Mink-Öl. Das ist einfach mineralisch, daran kann ich nichts regeln.
//Stört das beim Einschlafen?
//Was, sind wir jetzt etwa schon im Bett?
//Wenn wir da wären, würden wir doch nicht schlafen, oder?
Sie nippte grinsend an ihrem Bier. Dafür, dass sie wirklich nicht wusste, ob sie ihn mochte oder nicht, baggerte sie ganz schön. Sie lehnte sich zurück, beobachtete die sich nun in einem schnellen, verschwitzten Stakkato schüttelnden Tanzenden und wartete auf seine Antwort.
//Sondern?
//Ich würde mir jede einzelne Linie genau ansehen und dich nach der Bedeutung fragen.
//Wo bist du gerade? Willst du dich treffen?
//So ungeduldig! Ich bin in einer dunklen Ecke und will mich nicht treffen. Und du?
//Ich bin gerade auf mein Zimmer gegangen.
Ich dachte, du feierst?
//Erst hatte ich ein zu schlechtes Gewissen, und jetzt kann ich mich nicht mehr aufs Feiern konzentrieren.
//Ich hoffe, du hast noch eine Hose an.
//Ich habe noch eine Hose an. Aber wenn nicht, würde ich lügen.
Sie lachte. Ihre Linke löste sich vom Bierglas und wanderte, ebenso zielsicher wie gedankenverloren, zwischen ihre Beine. Sie trug eine dicke Kunstlederhose, aber sie spürte die Berührung trotzdem. Unter dem Tisch und in der dunklen Ecke konnte niemand sehen, was sie tat.
Zwei der Tanzenden arbeiteten nun heftig knutschend und mit blanken, muskulösen Oberkörpern auf der Tanzfläche an ihrem eigenen Erregungszustand. Danai verschlang sie mit Blicken, vielleicht war sie ausgehungerter, als sie dachte. Nachdem Julainne mit ihr Schluss gemacht hatte, hatte sie sich auf den Job konzentriert. Zwei, nein, drei One-Night-Stands in einem Jahr und wenige Abende, an denen sie nicht erschlagen in ihr Bett gefallen war – vielleicht hatte sie sich nicht genug mit ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt.
Anders konnte sie es sich wirklich nicht erklären, warum ein paar Tanzende und ein Chat mit Kian sie so heiß machte.
Mit der Rechten tippte sie weiter. Sie spürte, dass es die Lust an der Gefahr war, die sie vorantrieb.
//Vielleicht sind wir einfach ehrlich, und du ziehst dich aus. Ich muss hier leider angezogen bleiben.
//Wenn das eine Falle ist, Princess.
//Was für eine Falle soll das sein?
//Du könntest Fotos verlangen.
//Und dann? Lade ich Dickpics von dir ins Datanet! Sag bloß, da gibts noch keine!
Ein Wust aus Emojis folgte. Sie lachte und rutschte auf dem Stuhl etwas tiefer. Vorsichtig, bloß nicht zu auffällig, öffnete sie den Reißverschluss ihrer Hose und schob ihre Hand zwischen Kunstleder und Unterhose.
//Du bist immerhin in deinem Zimmer. Ich bin hier in der Öffentlichkeit.
//Du könntest dir eine Toilette suchen.
//Wenn du den Laden hier sehen würdest, wüsstest du, dass die Toiletten mich nicht anmachen werden.
//Schick mir ein Foto.
//Wovon?
//Vom Laden. Von dir.
Sie machte eins nach vorn und eins nach hinten. Dann kippte sie das Tablet und fotografierte ihre Finger, die gerade so in der Hose verschwanden. Sie musste den Blitz benutzen, damit überhaupt etwas zu sehen war.
Ich habe gerade mit Blitzlicht meinen Schritt fotografiert, schoss es ihr durch den Kopf, aber die zweieinhalb Bier und ein Blick in die Runde überzeugten sie davon, dass niemand das sonderbar finden würde.
//Danai, das ist echt heiß
//Also, ist deine Hose jetzt aus oder nicht?
//Du darfst dir was wünschen.
//Ich wünsche mir, dass du sie ausziehst. Dein Shirt auch, es gibt nichts Lächerlicheres als Leute, die keine Hose mehr anhaben, aber noch ein Shirt.
//Prinzessinnen erfüll ich alle Wünsche.
Sie streichelte sich langsam durch den Slip hindurch. Sie musste die Hand ein wenig verrenken, aber die Aufregung, mit einem Bier, einem Tablet und der Hand in der Hose in einer dunklen Kneipenecke zu sitzen, machte das wieder wett.
//Okay, also, der Wunsch wäre hiermit erfüllt.
//Foto oder es ist gelogen
//Wovon genau?
//Ich bin einfach gespannt, wie sehr du leuchtest.
//Dickpic? Also, darf mein Schwanz drauf sein oder eher nicht?
//Dein Schwanz sollte unbedingt drauf sein. Leuchtet er?
Sie lachte, als sie auf Senden drückte, legte das Tablet kurz ab und trank sich einen guten Schluck Mut an.
Das Foto gab ihr eine Antwort. Er hatte von der Brust abwärts an sich herabfotografiert. Die Tā-moko-Linien schimmerten in einem sanften Türkisblau auf seiner Brust, seinem Bauch, seinen Beinen. Sein Schwanz war nur an der Wurzel tätowiert, sie sah, dass Wellenlinien blau durch die Haare schimmerten. Er war steif, und ohne bisher mit mehr als zwei Männern geschlafen zu haben, fand sie ihn ganz ansehnlich, so sehr, wie man Pimmel eben ansehnlich finden konnte. Sie schob zwei Finger am Rand ihrer Unterhose vorbei. Mit links war sie wirklich ungeübt.
//Was würdest du machen, wenn du hier wärst?
//Oh, ich stelle mir gerade vor, *du* wärst hier. Unter dem Tisch. Mit deinem Mund zwischen meinen Beinen.
//Da ich leuchte, wären wir nicht gerade unauffällig.
//Ich stelle mir vor, das wäre egal
//Ich stelle mir vor, du wärst in meinem Bett. Würdest dich auf mich setzen.
//Ich könnte dir jetzt was Enttäuschendes sagen.
//Oh nein. Was?
//Ich steh mehr auf Fummeln. Irgendwie waren Körperteile ineinander nie so mein Ding.
//Und das gilt auch für meine Fantasie?
//Es muss doch realistisch bleiben.
//Okay, also, was dann?
//Denk dir was anderes aus!
//Nachdem ich es dir in der Kneipe mit der Zunge gemacht hab, sitzt du jetzt trotzdem auf mir. Ich bin nicht in dir drin, aber wir reiben uns aneinander. Ist das gut?
Sie stellte es sich vor, und ihre Finger imitierten diese Fantasie gut.
Sie schickte ihm einfach nur einen Like-Daumen. Ihr Gehirn fing an, ein wenig auszusetzen. Sie wusste nicht, ob sie mittlerweile einfach nur wie eine sabbernde Einsame aussah, die sich über ihrem Tablet selbst befriedigte, aber es war ihr in diesem Zustand auch egal. Eine neue Nachricht von ihm:
//Mach ein Foto von dir. Von deinem Gesicht. Ich will wissen, wie du gerade aussiehst.
//Du auch!
Sie bewegte ihre Finger langsam zwischen ihren Lippen hoch und runter, ihr Herz klopfte, ihr Hirn fühlte sich butterweich an. Den Reflexmodder hatte sie zum Glück ausgeschaltet, auch wenn der bei Orgasmen wirklich nicht zu verachten war. Sie machte ein Selfie. Sie fand, dass sie relativ gefasst aussah. Nur ihre Augen erzählten, was gerade in ihrer Hose lief. Sein Selfie war ähnlich, die dünnen Linien auf Stirn und Nase gaben dem Foto im Dunkeln etwas beinahe Unkörperliches, sein breiter Mund war leicht geöffnet, seine Augen geschlossen. Sie starrte auf das Bild, und stellte sich vor, er läge unter ihr.
Eine neue Nachricht kam an, diesmal als Soundfile.
»Kommst du?« Sie hielt sich das Tablet ans Ohr und drückte auf das Symbol, um seine Stimme zu hören. Er sagte es atemlos und leise. »Kommst du?« Sie ließ es noch einmal, zweimal, dreimal ablaufen, dann sank sie auf ihrem Stuhl noch ein wenig weiter abwärts und hauchte ihm ein »Ja« in den Chat.