Читать книгу Wir - Judith Kohlenberger - Страница 8
Vorwort
ОглавлениеDieses Buch wurde während des ersten Corona-Lock-downs im März und April 2020 verfasst. Selten wurde so oft ans „Wir“ appelliert wie in diesen außergewöhnlichen und herausfordernden Zeiten. In nahezu täglichen Pressekonferenzen, Liveschaltungen ins Bundeskanzleramt und Video-Sprechstunden riefen Bundeskanzler, Vizekanzler und die Minister*innenriege zu Einheit und Solidarität auf: „Jetzt müssen wir zusammenhalten!“, „Gemeinsam schaffen wir das!“, „Wir bleiben zuhause!“, „Wir lassen niemanden zurück!“ Die Liste an Stehsätzen zur Einschwörung der Bevölkerung auf den ultimativen Zusammenhalt ließe sich noch lange fortsetzen.
Die kontinuierliche An- und Ausrufung eines nationalen Schulterschlusses verdeutlichte bei näherer Betrachtung aber rasch, dass das inflationäre Wir nicht nur Einheit schaffen, sondern auch Spaltung erzeugen kann. Mitunter waren unter dem vermeintlich allumfassenden Wir nur ganz bestimmte Adressat*innen gemeint: Der Bundeskanzler wandte sich in seinen Ansprachen beharrlich an die „Österreicherinnen und Österreicher“ und klammerte so, bewusst oder unbewusst, die 1,4 Millionen in Österreich lebenden Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft aus. Die Ausgangsbeschränkungen schienen mit dem Bild einer sehr eng definierten Bevölkerungsgruppe im Hinterkopf verfasst worden zu sein, wie auch ihre Kommunikation in einer breit angelegten Infokampagne zeigte. Zu sehen war die klassische, gutbürgerliche Kernfamilie – Vater, Mutter, maximal zwei Kinder – in großzügigen Wohnlandschaften in sanften Weiß- und Beigetönen. Die Teenagertochter vorm eigenen Laptop, der kleine Sohn hilft der Mama artig beim Backen, Papa liest ein gutes Buch. Das hier dargestellte Wir war häuslich, wertkonservativ, weiß und sauber, mittelständisch, in jedem Sinne aufgeräumt und geordnet. Die Lebenssituation von Einpersonenhaushalten, Patchworkfamilien, alternativen Lebensund Familienformen und prekären Wohnsituationen wurde aus diesem scharf begrenzten Wir geflissentlich ausgeklammert.
Die Krise verengte also den Blick, führte aber gleichzeitig vor Augen, wer schon lange vor COVID-19 systematisch vom Wir ausgeschlossen blieb: Geflüchtete, Menschen mit nichtösterreichischer Staatsbürgerschaft, undokumentierte Migrant*innen, persons of color – in Österreich sind das oft Menschen, die eben nicht der bürgerlichen Mittelschicht angehören. 47 Prozent der Ausländer*innen und 43 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund sind als Arbeiter*innen tätig, das sind in etwa doppelt so viele wie Menschen ohne Migrationshintergrund.1 Herkunft und sozioökonomischer Stand sind somit oft eng miteinander verschränkt. Von der Corona-Krise waren diese Menschen als Systemerhalter*innen disproportional stark betroffen, gleichzeitig aber auch anhaltender Diskriminierung aufgesetzt und häufig von medizinischer Behandlung ausgeschlossen. Nicht nur in Zeiten einer Pandemie entscheidet die Zugehörigkeit zum Wir über Leben oder Tod.
Die Absicht dieses Buches ist, seinen Leser*innen die Bestärkung zu geben, dass ein anderes Wir möglich ist. Ein Wir, das niemanden zurücklässt. Ein Wir, das nicht auf Ausgrenzung oder Abwertung beruht, sondern auf Miteinander und Füreinander, das aber die vielen Diskussionen, Debatten bis hin zu offen ausgetragenen Konflikten, die eben jede Form der menschlichen Beziehung mit sich bringt, nicht ausklammert, negiert oder als Beweis für das Scheitern dieses Miteinanders versteht. Ein Wir, das sich im ständigen Zusammenwachsen und Zusammenraufen befindet und die damit verbundenen Schmerzen wahr- und ernst nimmt. Denn dem Wir, das dieses Buch imaginieren will, soll es nicht ums vielzitierte und noch öfter kritisierte „Gleichmachen“ gehen, ganz im Gegenteil: Die Abgrenzung vom und zum anderen ist ein psychologisches wie soziales Grundbedürfnis, mitunter sogar ein epidemiologisches. Es ist ein Wir, in dem auch das Du und das Ich Platz haben.
Um an solch einem neuen Wir zu arbeiten, braucht es eine gemeinsame Vision, wie dieses aussehen soll. Diese Vision kann nur gemeinsam erdacht, erarbeitet und erstritten werden. Eine erste Inspiration dafür mögen vielleicht die folgenden Seiten geben.