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Wer ist Wir?

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Lassen Sie mich gleich vorweg mit dem Paradoxen beginnen: Das Wir gibt es nicht. Es existiert schlichtweg nicht. Klar, jede und jeder von uns existiert, aber eben als Individuum, nicht in der Summe. Egal wie viel man mit anderen gemeinsam hat, wie viel uns verbindet, welche Merkmale man teilt – es gibt immer etwas, was uns vom anderen unterscheidet. Politiker*innen können noch so oft ans Wir appellieren, keiner wird dadurch mit einem anderen verschmelzen. Das Du und das Ich lassen sich benennen, aufrufen, auf der Straße ansprechen, durch Namen appellieren, in der materiellen Welt anschauen und angreifen. Das Wir dagegen bleibt flüchtig, schwer fassbar, wandel- und undefinierbar.

Gleichzeitig gibt es ganz viele ungreifbare Wirs. Das kleinste Wir sind zwei Menschen, die sich als Einheit begreifen, etwa in einer Paarbeziehung oder einer Freundschaft, aber auch als Team im beruflichen Kontext. Ein Wir erlebt man tagtäglich als Teil einer Gemeinschaft, sei es als Familie, als Verwandtschaft oder Sippschaft, als Clique oder Sportteam, als Abteilung oder Organisation, als Verein oder Versammlung, als WhatsApp-Gruppe oder Freundesrudel, als Dorfgemeinschaft, Bezirks- und Landesangehörige*r und nicht zuletzt als Bürger*in in einem Staatswesen, in dem man natürlich nicht jedes andere Mitglied des Wir persönlich kennen oder gar mögen muss, um sich dennoch als Teil eines Gemeinsamen zu fühlen.

Der Politikwissenschaftler Benedict Anderson bezeichnete diese letztere Version des Wir als „imagined community“.2 Eine Nation sei das Paradebeispiel einer solchen sozial konstruierten Gemeinschaft, an die all jene, die sich dieser Nation zugehörig fühlen, glauben, auch wenn sie sich ihr ganzes Leben lang nie persönlich treffen, austauschen oder etwas tatsächlich Gemeinsames schaffen können. Um das Wir als diese Art der „imaginierten Gemeinschaft“ zu begreifen, brauchen wir eine minimale Vereinheitlichung, eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner, etwas, was uns vereint. Im Falle der Nation ist das rein formal unser Reisepass, also die Staatsbürgerschaft, aber auf der wesentlich wichtigeren emotionalen Ebene sind es vor allem vermeintlich geteilte Werte, Ansichten, Interessen, Einstellungen, Mentalitäten, Eigenschaften und Erfahrungen.

Genau das verdeutlicht bereits einen der Fallstricke in der landläufigen Wahrnehmung des Wir. Das Wir ist nie homogen, auch wenn manche dieser Wirs gerne den Anschein erwecken, sie wären es. Das Idyll einer absoluten Gleichheit ist so verführerisch wie trügerisch. Nun gibt es natürlich bestimmte Merkmale, die jedes Mitglied eines Wir teilt (zum Beispiel den gleichen Nachnamen, das Interesse an Tischtennis oder den gleichen Reisepass), aber auch viele andere, die sich unterscheiden (zum Beispiel der Vorname, das Alter oder die Hautfarbe). Das führt zu der Frage, welche der Merkmale erfüllt sein müssen, um Teil eines Wir werden zu dürfen, und welche optional sind. Nicht selten sind diese Merkmale bei näherer Betrachtung wesentlich weniger absolut und universell, als sie den Anschein erwecken, sondern kontextgebunden und variabel in ihrer tatsächlichen Bedeutsamkeit.

Das offenbart den zweiten Fallstrick, nämlich die Tatsache, dass wir alle Teil vieler verschiedener Wirs sind. Je nach Lebenssituation und Kontext werden wir diese Wirs aktivieren oder negieren, verstärken oder abschwächen, verstecken oder betonen. Das begründet sich in unserer persönlichen Identität und unseren unterschiedlichen sozialen Rollen, die wir tagtäglich einnehmen, aber auch aus dem politischen und rechtlichen Gefüge, in das wir eingebettet sind. Laut einer Umfrage des Market-Instituts aus dem Jahr 2018 verbinden 69 Prozent der Befragten mit „Wir“ ihr Heimatland Österreich, ähnlich viele ihre Familie und ihren Bekannten- und Freundeskreis. Mit anderen Zugehörigkeiten scheint man sich hierzulande schwerer zu tun. Während in Deutschland knapp 70 Prozent der Befragten Europa als „Wir“ definieren, sind es in Österreich nur 29 Prozent.3 Ein Zusammenspiel aus individuellen und strukturellen Gründen ist also dafür verantwortlich, dass uns die Zugehörigkeit zu einem ganz bestimmten Wir wichtig erscheint, dass es uns stolz macht und wir es vor uns hertragen, während wir ein anderes Wir lieber loswerden oder uns davon abgrenzen wollen. Das allerdings ist mitunter gar nicht so einfach.

Denn: Die Zugehörigkeit zu manchen dieser Wirs können wir uns aussuchen (Tischtennisverein), viele andere sind aber zumindest teilweise vorgegeben (Familie, Nation). Zu Letzteren gehören vor allen Dingen die großen, bestimmenden Wirs unseres Daseins, darunter Geschlecht, soziale Klasse, Ethnizität und Nationalität. Auch manche dieser großen Wirs kann man ändern, aber oft nur unter Aufwendung erheblicher persönlicher wie materieller Ressourcen. Das Wir ist deshalb nicht beliebig, sondern determiniert vielfach unseren Lebensweg, unsere Chancen und Privilegien (siehe Kapitel Privilegien erkennen, S. 29) und sogar unsere Lebensqualität. Einer Market-Umfrage zufolge ist das Wir-Gefühl für 87 Prozent der Österreicher*innen wichtig für das eigene Leben, für 40 Prozent sogar sehr wichtig.

Die hohe Bewertung des Wir im Alltag ist nur folgerichtig, denn zum Wir zu gehören, impliziert nicht nur, gewisse Merkmale zu teilen, sondern bringt auch konkrete Rechte, Handlungsspielräume und Macht mit sich. Das zeigt sich wiederum am deutlichsten bei den großen Wirs unseres Lebens. „We the people“, beginnt die amerikanische Verfassung so hochtrabend wie eindringlich, und als Souverän hat dieses We bzw. Wir die Hoheit über das größte Gemeinsame, den Staat. Wer Teil dieses Wir ist, hat sich im Lauf der Geschichte der USA wie auch Österreichs teils radikal geändert, und das tut es auch heute noch. Noch immer kämpfen viele Menschen tagtäglich darum, an der Macht des Wir teilhaben zu dürfen.

So sind beispielsweise Migrant*innen in Österreich und in vielen anderen europäischen Ländern weiterhin vom Wahlrecht ausgeschlossen, weil sie nicht die Staatsbürgerschaft des Landes besitzen, in dem sie leben, arbeiten und Steuern zahlen. Allein in Österreich betrifft das 1,2 Millionen Menschen, in Wien mehr als ein Drittel der Wohnbevölkerung. Diese rechtlichen Gegebenheiten haben auch Auswirkungen auf das gefühlte Wir: Nur 48 Prozent der Befragten in der oben erwähnten Market-Umfrage betrachten Ausländer*innen und Migrant*innen als Teil des Wir, bei Geflüchteten sind es gar nur 45 Prozent.

Das Wir kann also nicht nur inkludierend, sondern auch exkludierend wirken, weil es notwendigerweise einer Abgrenzung von jenen bedarf, die eben nicht Wir sind (siehe Kapitel Abgrenzen, aber nicht abwerten, S. 57). Wir sind der Sportverein Grüne Wiese, weil wir nicht der Sportverein Rote Mamba sind. Wir sind Städter*innen, weil wir keine Provinzler*innen sind. Wir sind Österreicher*innen, weil wir eben keine Deutschen, Amerikaner*innen oder Nigerianer*innen sind. Diese Konzeption des Wir aus dem Negativen ist die banalste, aber gleichzeitig oft die eindrücklichste und emotionalste Form der Wir-Findung: Wir definieren uns über das, was wir alles nicht sind. Wir sind eben nicht die anderen.

Besonders gekonnt setzen nationale populistische Strömungen auf diese negative Definition des Wir, indem „das Volk“ gegen jene „da oben“ ausgespielt wird, also die Eliten, allen voran die EU, die aufgeklärte Wissenschaft, die etablierte Regierung, korrupte Bürokraten oder der jüdische Geldadel, aber auch gegen jene „da draußen“, also gegenüber Ausländer*innen. Bei genauerem Hinsehen beruht Letzteres aber weniger auf dem so banalen wie zufälligen Umstand, Außenstehende*r zu sein, sondern auf rassistischer Ablehnung. Es ist die Hautfarbe und weniger der Reisepass, die manche Menschen aus dem großen Wir des „Volkes“ ausschließt. Allein die Unterscheidung zwischen gut ausgebildeten Expats aus Ländern des globalen Nordens und bedürftigen „Asylanten“ oder „Wirtschaftsmigranten“ aus Ländern des Mittleren Ostens und globalen Südens verdeutlicht das akut. Schon die rhetorische Abgrenzung und Abwertung erzeugt eine Art innere Verteidigungshaltung, die durch ein diffuses Bedrohungsgefühl das eigene, enge Wir stärkt und auf Zusammenhalt einschwört. Der Ökonom und Nachhaltigkeitsforscher Fred Luks nennt das in seinem Buch Ausnahmezustand ein „kuhwarmes ‚Wir-Gefühl‘“, basiert es doch auf gesteigerter, oft unreflektierter Emotionalisierung.4

Dieses spontane, freudentrunkene Gefühl, Teil eines größeren Ganzen, eines Kollektivs zu sein, kennen wir alle aus dem Alltag: Der Sieg der eigenen Fußballmannschaft oder der erfolgreiche Abschluss eines Teamprojekts stärken unser Wir-Gefühl abrupter und nachhaltiger als jede trockene, abstrakte Anrufung des Kollektiven. Hinter all der Emotion im Siegestaumel steht aber in beiden Fällen harte Arbeit und gemeinsame Anstrengung. Etwas im Team geschafft zu haben, fühlt sich nicht nur wegen des schlussendlichen Erfolgs so gut an, sondern auch wegen des gemeinsam zurückgelegten Wegs, wegen der zusammen überwundenen Hürden, wegen der Höhen und Tiefen, die wir kollektiv gemeistert haben. War die gegnerische Mannschaft ohnehin von Beginn an unterlegen, fällt die Freude über den Sieg wohl weit weniger euphorisch aus, als wenn gleich zu Beginn unser Mittelfeldstürmer ausgewechselt werden musste, wir ein schweres Foul erlebt haben und der Schiedsrichter nicht unbedingt zu unseren Gunsten entschieden hat. Das alles sind Widrigkeiten, die einer gemeinsamen Anstrengung bedürfen, und die wir schlussendlich gemeinsam gemeistert haben.

Mit unseren Kolleg*innen wachsen wir dann zusammen, wenn das gemeinsame Projekt viele schwierige Schritte enthält, uns Überstunden und Wochenendarbeit abverlangt, die Finanzierung unsicher bleibt und uns an unsere Grenzen bringt. Wir erleben, dass der Feiertagsdienst leichter zu bewältigen ist, wenn wir ihn gemeinsam bezwingen können, wenn wir unsere individuellen Stärken, aber auch Schwächen einbringen dürfen. Das Erkennen und Annehmen dieser Schwächen aller Teammitglieder ist es aber auch, was den Weg zum Erfolg steinig macht und uns als Team auf die Probe stellt. Die eine von uns kann zwar exzellent Feedback geben und Fehler anderer erkennen, aber selbst keine guten Texte formulieren. Ein anderer schafft das Texten mit links, hat aber Schwierigkeiten mit der grafischen Darstellung, für die jemand Talent zeigt, der ganz andere Vorstellungen vom Gesamtkonzept hat. Einer hat am Wochenende Kinderbetreuungspflichten und fällt deshalb immer genau dann aus, wenn die anderen in den Endspurt gehen. Wie gehen wir damit um, wenn bei der Endpräsentation alle vorne stehen wollen, es aber nur Platz für drei von uns gibt? Wer darf, wer muss das letzte Wort haben? Wessen Stimme hat wie viel Gewicht; und darf die teilzeitarbeitende Kollegin genauso viel mitbestimmen wie der Kollege, der abends als Letzter das Büro verlässt, oder nur so viel wie die Praktikantin?

Die Erarbeitung des Wir (denn ja, es ist Arbeit) ist also nicht einfach, bequem oder selbsterfüllend, sondern häufig das genaue Gegenteil. Das gilt nicht für ein Wir-Gefühl in der Mannschaft oder im Fußballverein, sondern auch für die großen Wirs dieser Welt, allen voran jene der Nation. „Das demokratische ‚Wir‘ ist keine Tatsache, die man einfach so konstatieren kann, sondern ein anstrengender Prozess, bei dem Zugehörigkeit immer wieder neu ausgehandelt und erstritten wird“, wie es der deutsche Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller in seinem Essay „Was ist Populismus?“ formuliert.5

Dafür gibt es zahlreiche historische Beispiele, allen voran die Tatsache, wie sich unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen nach und nach ihre politische Teilhabe in Form des Wahlrechts erstritten haben. Demokratisch betrachtet waren Frauen noch vor hundert Jahren nicht Teil des Wir, zumindest nicht Teil des Wahlvolks und damit des Souveräns. Heute vollziehen sich, wenn auch langsam und unter großer Anstrengung, weitere Debatten um die Öffnung des Wahlrechts, etwa für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung oder Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Ähnlich wie Suffragetten beim Kampf um die Erweiterung des Wir ins Gefängnis oder gar ums Leben kamen, demonstrierten im Arabischen Frühling unterdrückte, rechtlose und von Armut betroffene Bürger*innen für mehr Mitbestimmung, gegen Korruption und für Schutz vor einem repressiven Sicherheitsapparat.

Das gemeinsame Wir wird also aus Streit, Debatte und Auseinandersetzung geboren, wer es pathetisch mag: aus Blut, Schweiß und Tränen. Diese Geburt des Wir ist nicht final, sondern vielmehr ein stetiger, lang andauernder, äußerst dynamischer Prozess. Ein Prozess, der gar nie abgeschlossen sein kann, eben weil immer neue Gruppen ins Wir drängen, während es andere gibt, die sich ob dieses Hineindrängens bedroht fühlen und es zu verhindern suchen. So war etwa die Frage „Gehört der Islam zu Österreich?“ noch vor fünfzig Jahren unvorstellbar; mittlerweile trauen sich selbst Politiker*innen rechts der Mitte immer weniger, die Frage absolut zu verneinen. In relativ kurzer Zeit hat sich die Konzeption des Wir also ziemlich radikal verändert, und sie tut es weiterhin. Die neuen und die neu hinzukommenden Teile des Wir sind im stetigen Austausch, vom vorsichtigen ersten Beschnuppern bis hin zur offenen Konfrontation. Vielleicht führt uns das zu einer neuen, auf den ersten Blick wenig optimistisch stimmenden Definition: Das Wir ist ein ständiger Streit, den wir aushalten müssen (siehe Kapitel Wachstumsschmerzen aushalten, S. 45).

Aber vergessen wir nicht die produktive Seite von Streit, Konflikt und Auseinandersetzung, die ich persönlich, selbst als gelernte Österreicherin, viel mehr schätze als andauernde, vermeintliche, schale Harmonie. Dabei sind uns vielleicht die privaten Wir-Gefühle näher als das nationale, demokratische Wir. Wer nicht im sozialen Vakuum lebt, weiß, dass jede Familie, jede Paarbeziehung, jede Freundschaft auf ständigem Ausverhandeln beruht, dass sich die Qualität einer privaten Beziehung erst dadurch zeigt, wie offen wir Konflikte thematisieren. Das raten uns nicht nur zertifizierte Paartherapeut*innen und Psycholog*innen, das haben die meisten von uns schon am eigenen Leib erfahren. Nur Beziehungen, in denen die absolute Gleichgültigkeit Einzug gehalten hat, sind konfliktfreie Beziehungen. So mühsam unsere negativen Gefühle wie Eifersucht, Wut oder Traurigkeit sind, so deutlich führen sie uns auch vor Augen, dass uns das Gegenüber, welches diese Gefühle auslöst, nicht egal ist. Eben weil wir noch immer Teil eines gemeinsamen Wir sind und deshalb Anteil daran nehmen, wie es einem anderen Teil dieses Wir mit uns geht. Dauernde Harmonie macht nämlich kein besseres, inklusiveres, gleichberechtigteres Wir, sondern höchstens Magendruck.

Wie in jeder zwischenmenschlichen Beziehung Streit immer auch ein Ausdruck für emotionales Investment in ebendiese ist und das Gegenteil von Teilnahmslosigkeit darstellt, so können in einem affirmativen Verständnis gesellschaftliche Konflikte, Reibungen und Debatten als Ausdruck der genuinen Anteilnahme am Gemeinwesen gelesen werden. Die gesellschaftliche wie politische Situation, ob national oder global, ist vielen eben nicht (mehr) egal; etwas Wichtiges, Fundamentales steht auf dem Spiel, auch deshalb, weil heute mehr soziale Gruppen denn je a stake in the game haben und ihre Stimmen einbringen können. Nun gilt es, dieses offenkundige emotionale Investment auch tatsächlich als etwas Positives, Produktives zu begreifen und sein Potenzial für ein gestärktes Wir zu nutzen.

Der erste Schritt zum produktiven Streit ist die Reflexion: Sich selbst zu kennen und die eigene Position ehrlich und ungeschönt wahrzunehmen, ist notwendig, bevor man sich dem Gemeinsamen zuwendet. Dazu gehört auch zu verstehen, inwiefern wir alle durch Zugehörigkeit zu ganz unterschiedlichen Wirs Tag für Tag profitieren, ohne es zu wollen oder gar zu bemerken.

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