Читать книгу Martin von Tours - Judith Rosen - Страница 8

|7|Die Macht der Erinnerung

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Liebe aber wird in Ewigkeit nicht ausgetilgt, Barmherzigkeit besteht für immer.

Jesus Sirach 40,17

Im Vorfeld des 11. März 2013 entspann sich eine heftige Diskussion.1 Der Vorsitzende der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen schlug vor, das Fest des heiligen Martin samt seinen Bräuchen in ein Sonne-Mond-und-Sterne-Fest umzubenennen. Er begründete seinen Vorstoß mit der Sorge um muslimische Kinder, denen keine christlichen Traditionen aufgedrängt werden sollten. Nicht nur Christen protestierten. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman A. Mazyek, stellte klar: „Das Leben des heiligen Martin ist doch geradezu vorbildlich, auch für Muslime.“

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel am 21. Februar 2015 Papst Franziskus zum ersten Mal im Vatikan besuchte, schenkte er ihr eine Medaille mit dem Bild des heiligen Martin. Franziskus erklärte, dass er die Medaille gerne Regierungschefs in die Hand lege, weil der ausgebreitete Mantel sie an ihre wichtige Aufgabe erinnere, ihr Volk und die Armen zu schützen. Der argentinische Papst verehrt den Bischof von Tours, ist der Heilige doch zusammen mit der heiligen Clara Patron der Stadt Buenos Aires und der gleichnamigen Diözese, der Jorge Mario Bergoglio als Bischof von 1989 bis zu seiner Papstwahl 2013 vorstand.

|8|Weit bekannt ist Martin als Patron der Armen und Gefangenen, der Polizisten und Soldaten, der Reisenden und der Kaufleute.2 Weniger bekannt ist, dass er auch Schutzheiliger der Flüchtlinge ist. Der dritte Bischof von Tours ist aktueller denn je.

Martins Leben und vor allem sein Nachleben sind eine Erfolgsgeschichte, die auszumalen der demütige Mann Gottes sich verbeten hätte. „Toujours Martin de Tours“ reimte sein moderner Nachfolger auf dem Bischofsstuhl von Tours, als sich 1997 das Todesjahr des Heiligen zum 1600. Mal jährte.3 Das elegante Wortspiel bringt das eigentliche Wunder des viel gerühmten Wundertäters auf den Punkt: die Jahrhunderte überdauernde Erinnerung an einen zweifellos charismatischen Mann. Seine ungebrochene Popularität gründet vor allem auf einer Geste der Barmherzigkeit, die zur Ikone christlicher caritas wurde: Das Bild des Soldaten, der im französischen Amiens seinen Mantel teilt, um einen frierenden Bettler zu wärmen, prägte Generationen von Kindern und trug vielleicht mehr zu ihrer christlichen Sozialisation bei als manche Unterweisung im Religionsunterricht.

Was wissen wir vom heiligen Martin? Ohne die Schriften seines Zeitgenossen und Bewunderers Sulpicius Severus so gut wie nichts. Seine Vita Martini, drei Briefe und drei Dialoge, welche die Martinsvita ergänzen, bilden die Grundlage für alle Martinsbiographien von der Antike bis heute, so für Paulinus von Périgueux im fünften und Venantius Fortunatus und Gregor von Tours im sechsten Jahrhundert.4

Dem modernen Verfasser einer Martinsbiographie stellt sich die Frage: Wie weit darf man dem rhetorischen Feuerwerk des einzigen antiken Zeugen trauen? Das herauszufinden ist die Aufgabe der vorliegenden Biographie und vielleicht auch des Lesers, der sich ein persönliches Bild von Martin machen möchte. Möglicherweise stellt er sich ebenfalls die Frage: Was ist die historische Wahrheit über Martin? Es könnte sein, dass die Antwort weniger eindeutig ausfällt, als er sich erhofft hat.

|9|Nach 1700 Jahren, nach den antiken Lebensbeschreibungen, den mittelalterlichen Legenden, der modernen Forschung und dem traditionellen Brauchtum liegt jedoch eine Erkenntnis nahe: Martin von Tours war und ist eine Herausforderung: historisch, literarisch und spirituell.

Martin von Tours

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