Читать книгу FUKUSHIMA - IM SCHATTEN - Juergen Oberbaeumer - Страница 7
3 Haben wir’s geahnt?
ОглавлениеLassen wir diesmal anfangen im Maerz 2011… einem anfangs ueberaus schoenen Monat! Mariko hat normalerweise im Maerz immer den Blues: letztes Jahr war’s anders! Wir freuten uns auf den heranziehenden Fruehling. Der Himmel war so blau. Nach dem langen Winter mit seinen Sorgen freuten wir uns so sehr auf den Fruehling! Alles begann zu spriessen und zu bluehen, das kleine wunderschoen hellblau bluehende Zeugs, in Deutschland wuerde man’s Lungenkraut nennen, breitete sich ueber die winterkahlen Beete unseres kleinen Gemuesegaertchens aus wie jedes Jahr, die kalten Winde des Februar wehten schwaecher, die Frostnaechte wurden seltener und die hart funkelnden Sterne des Orion begannen im Westen zu verschwinden. An manchen Tagen konnte man regelrecht das kommende Fruehjahr mit seinen Versprechungen riechen. Wir leben zwar imVerhaeltnis zu Europa relativ weit suedlich hier, in unserem Garten waechst eine strubbelige Palme – die genauso alt ist wie unsere Kinder, sagt Mariko immer, aber die Winter sind lang und kalt. Es gibt keine gute Heizung und keine gemuetlich warmen Stuben. Nachts sind es im Schlafzimmer nur drei, vier Grad ueber Null und im Grunde ist das ganze Haus von Dezember bis Maerz ein einziger, grosser Kuehlschrank.
Unser Haus ist alt, es ist ein „richtiges“ japanisches Haus wie es inzwischen nicht mehr allzuviele gibt, einstoeckig mit Tatamimatten in allen Raeumen ausser der Kueche, die einen einfachen, guten Holzfussboden aus Kiefernbrettern hat. Wir leben wie die Fuersten: so wie wir wollen. Freunde die uns besuchen sind immer ueberrascht: Das ist ja wie zu Hause bei den Grosseltern…
Freunde der Nacht: ihr seid vom Land und wisst nicht, dass dies inzwischen wieder hochmodern ist, „retro“, und in den Zeitschriften der Grossstaedte auf sorgfaeltig inszenierten Fotos einem schmachtenden Publikum teuer verkauft wird. Wir aber haben das noch in echt, und wir wissen, dass dieser Lebensstil bedroht ist in einem Land das hundertfuenfzig Jahre immer nur blind nach vorwaerts gerannt ist ohne sich umzuschauen.
Gerade deshalb ist es zukunftsweisend. Zurueck zum einfacheren Leben! Wir sind keine idealistischen Spinner, wir sind aber klug genug uns nicht von den immer greller toenenden Werbekampagnen fuer das gerade allerneueste Glueck einfangen zu lassen.
In einer fremden Kultur ist es schwer seine eigene Identitaet zu behaupten. Ohne irgendwelchen Kontakt zu anderen Deutschen, nicht mal anderen Europaeern, muss man schon sehr in sich ruhen, mit anderen Worten ein bisschen verrueckt sein um nicht voellig weggeschwemmt zu werden von den, je aelter man selber wird, immer fremdartiger werdenden Stroemungen der fernoestlichen Umgebung! Zum Glueck sind wir, meine Frau und ich, uns ganz einig in allen wichtigen Punkten und haben uns hier eine eigene kleine Insel des Gluecks geschaffen, dreihundert Quadratmeter eingezaeuntes bedrohtes Idyll. Unser eigenes „Fukushima“: was ja uebersetzt zufaellig „Gluecksinsel“ heisst. Eine bittere Ironie nach den Ereignissen des elften Maerz 2011 und seinen Folgen.
Wir waren nicht auf so etwas gefasst. Die oertliche Weisheit war: hier gibt’s keine schlimmen Erdbeben! Und tatsaechlich haben wir in all den Jahren nie eins gehabt. Die grossen Verwerfungen sind relativ fern von uns, Japan wimmelt ja foermlich von ihnen – jetzt haben sich natuerlich auch noch jede Menge neue Falten und Spalten aktiviert so dass wir auch bei uns nicht mehr so ganz entspannt sein koennen, na, was rede ich. Auch vor Tsunamis glaubten wir sicher zu sein: die Kueste der zwei noerdlicheren Praefekturen Miyagi und Iwate mit ihren fjordartigen, tiefen Buchten ist gefaehrdet wie jeder weiss – aber wir doch nicht! Und vor dem Naeherkommen des dritten apokalyptischen Reiters verschlossen wir jahrelang die Augen so gut wir konnten, obwohl wir seine fahle Maehre eigentlich schnauben hoerten.
Es hatte schon immer Probleme und Skandale in den Atomkraftwerken Dai-ichi und Dai-ni gegeben, besonders in der „Nummer Eins“, wie Dai-ichi heisst. Nummer eins der Luegen und Vertuschungen wie wir jetzt, viel zu spaet, besser und besser wissen und uns fragen: Wie konnte das sein? Natuerlich war uns schon bewusst, uns, im Gegensatz zu den technikglaeubigen und vertrauensvoll liberaldemokratisch waehlenden Menschen um uns herum, dass da am Strand ein Monster hockte. Gleich an der Nationalstrasse 6, aber durch ein Waeldchen gut abgeschirmt und so weit weg von Menschen, dass es fast unsichtbar war. Strategisch ideal gelegen, genial gefunden dieser Platz.
Weit genug vor den Toren der Stadt, zwischen ein paar kleinen Doerfern die es erst reich machte und dann vernichtete. Eine dunkle Wolke am Horizont – mehr waren diese zwei AKWs mit ihren zehn Reaktoren fuer uns nicht; wie ahnungslos wir waren.
Eine vage Bedrohung die uns immer davon abhielt weiter nach Norden zu gehen, in die schoene, unberuehrte Landschaft in die es uns eigentlich zog: mehr nicht. Uns aber nicht veranlasste hier wegzuziehen. Wie dumm wir waren nicht auf unser Gefuehl zu hoeren.
Andererseits – wie schwer es ist eine Umgebung zu verlassen in der man einmal Fuss gefasst hat: sehe ich jetzt. Wie die Fliege auf dem Klebeband zappeln wir hier und koennen uns doch nicht losreissen; wer ausser dem einen belgischen Cowboy auf seinem Jolly Jumper koennte schon den eigenen Schatten hinter sich zuruecklassen?
Grosse Ereignisse werfen aber ihre Schatten voraus weiss das Sprichwort, und auch wir haben einige verblueffende Dinge gesagt und getan, wenn ich mich erinnere an die Wochen vor dem Erdbeben. Ich habe jetzt mein Tagebuch von damals noch einmal gelesen unter der Perspektive: Habe ich das Unheil irgendwie kommen spueren? Und wundere mich ueber dies und das; ohne, dass uns damals etwas bewusst geworden waere. Natuerlich – das ist eben so. Irgendwas haben wir aber gespuert denke ich.
Makaber: wir sahen und kommentierten sarkastisch ein Video, den alten Schinken vom „China Syndrome“ mit Jack Lemmon und Jane Fonda: eine Woche vor den Ereignissen. In dem Film geht’s um eine Kernschmelze in den USA! Der geschmolzene Kern unterwegs in Richtung Erdmittelpunkt, und darueber hinaus nach China. Wir ahnten nicht wie bald wir genau das in unserer unmittelbaren Nachbarschaft haben wuerden, nur dass es jetzt gleich drei alles veraetzende Trumm Hoellenfeuer sind die in Richtung Suedatlantik, offene See vor Uruguay, weit draussen vor dem Rio de la Plata wandern.
Noch krasser ist Folgendes. Wir haben – hatten! – ein Lieblings-Onsen, „Misaki-koen“, in unmittelbarer Naehe des AKW Dai-ni, und damit also in der Todeszone. Sehr schoen war es da, man konnte da sogar im Freien das heisse Wasser geniessen, die Erinnerung kommt beim Schreiben so deutlich… den Mond ueber dem Meer aufsteigen sehen, wenn man genau am Einstieg, aus Natursteinen sehr schoen gemacht, links der kleinen Treppe im Wasser so sass, dass der eine Tragpfosten die beschissen blendende Laterne auf der Wiese zwischen Bad und fernerer Natur verdeckte. Das entdeckte ich bei meinem letzten Bad da! Mariko nebenan im Frauenbad: ob sie den gleichen Mond sah?
Auf dem Rueckweg vom Onsen, abends gegen acht, mit dem Auto diese kuenstliche Allee mit den faux chinois Strassenlaternen laengs, zurueck zur N 6, sahen wir eine Reklametafel fuer die Praefektur Fukushima; „beruehmt“ sollte Fukushima werden wurde darauf erhofft. „Wodurch denn bloss?“ spottete ich. „Beruehmt? Wenn ueberhaupt durch irgendwas dann hoechstens durch die verdammten Atomkraftwerke…“ wobei natuerlich impliziert war durch eine Katastrophe; mein Spott legte sich aber nicht in irgendeiner Form, als Vorahnung oder dergleichen, duester auf’s Gemuet, nein, wir erinnerten uns erst an diesen surrealistischen Dialog als wir gut eine Woche spaeter auf der Flucht vor eben dem sozusagen herbeigespotteten Ungeheuerlichen waren.
Waere uns die Bedrohung akut erschienen – haetten wir uns sicher nicht ausgerechnet an diesem letzten Besuch im Bad eine Zehnerkarte gekauft! Die koennen wir jetzt an die Wand nageln.
Ob die Voegel uns was sagen wollten? Wer kann die aber schon verstehen. Wir hatten drei 'Visionen'; die erste war ein praechtiger Graureiher der unversehens seine riesigen Schwingen schlagend hier im Garten vor unserem kleinen Teich stand. Schwang sich nach ein paar Augenblicken aufs Dach, hockte da („unheilverkuendend“?) waehrend Mariko und ich uns freuten und flog nach einigenAugenblicken hoch zum Tempel; auf die eine grosse Kiefer in deren Wipfel er manchmal zu sehen ist. Derselben, unter der ich ein paar Tage spaeter Zuflucht vorm Tsuanami nahm.
Die zweite war noch seltener. Es gibt die „japanische Nachtigall“, Uguissu, die als Fruehlingsbringer geliebt wird. Sie ruft unverkennbar melodisch mit einem Triller den jeder kennt auch, wenn er sonst kein Spatzentschilpen vom Kraechzen einer Kraehe unterscheiden koennte. Die Uguissu ist nun auch dadurch bekannt dass man sie nie sieht. Nie. Wie den Kuckuck bei uns. Aber zwei Tage vor dem elften Maerz hoerten wir eine ganz nah: im Strauch am Teich – und dann zeigte sie sich uns! Hoppte flink an den duerren Zweigen hoch und runter und floetete froh. Wir waren sprachlos vor Staunen!
Das dritte Orakel war ein Zug Schwaene, durch den blauen Mittagshimmel zurueck in den hohen Norden… Trompetend zogen sie, majestaetisch weiss, fort von uns in Richtung Nordwest. Wir winkten ihnen nach, das taten wir wirklich, wir sind manchmal so, ich lasse mich von Mariko mitreissen, und freuten uns mit ihnen: zurueck in die Heimat. Freuten uns auf den nahen Fruehling den wir in der sonnigen Frische des Maerzmittags so deutlich wahrnahmen!
Warum daraus aber ein Gedicht entstand das ich mit „Schwanengesang“ betitelte und in dem ich mich als 'verbannnt' bezeichnete, ein paar Tage nur vorausschauend sachlich korrekt, das weiss ich wirklich nicht. – Temporaer verbannt, genauer gesagt, denn wir sind zurueck!
Ausser den ungewoehlichen Besuchen der Uguissu und des Graureihers beobachteten wir weiter kein aussergewoehnliches Tierverhalten, weder waren unsere Katzen unruhig noch sonstwas. Wir waren in zweihundert Kilometer Entfernung vielleicht zu weit weg vom Epizentrum – seit dem grossen Beben von Lissabon 1755 wird doch sonst immer berichtet, Tiere haetten sich sonderbar verhalten! Ob’s nun am zweiten Weihnachtstag 2004 fluechtende Elefanten in Thailand waren oder Schlangen in China 2008 oder die Ameisen in Chile von denen Isabel Allende schreibt. Das groesste gemessene Beben ueberhaupt war dieses Chile-Beben von 1960: die Erde schuettelte sich mit einer Magnitude von M 9.5 und warf einen Tsunami auf der quer ueber den gesamten Pazifik raste und sogar hier in Japan 138 Menschen umbrachte wie ich nachlese. Zwischen fuenf und ueber sechs Metern hoch rollte der Tsunami damals hier an Land! Vom andern Ende der Welt kommend! Ob er bei uns in Iwaki Schaeden angerichtet hat? Es gibt keine Berichte.
Die Japaner reden nicht wie wir Deutschen ewig und drei Tage ueber die Vergangenheit! Vergessen so etwas schnell. Vielleicht weil Naturkatastrophen hier eher zum Alltag gehoeren als in Nordeuropa? Taifune, Erdbeben, Vulkanausbrueche, Tsunami – alles sind Dinge gegen die man sich nicht schuetzen kann. Man nimmt sie hin. Haelt sie aus – baut wieder auf was kaputtgegangen war und vergisst. „Erdbeben – Blitzschlaege – Feuer – der Alte…“ sind die sprichwoertlichen Plagen. Das Leben bringt von Tag zu Tag zuviel Schwierigkeiten, immer neue, um lange ueber verschuettete Milch zu klagen.
Und am Morgen nach dem Taifun ist das Wetter so unvergleichlich schoen! So klar ist die Luft: ich habe einige solcher Sonnenaufgaenge ueber dem aufgewuehlten Meer hier fotografiert, an meiner Lieblingsstelle, dem Felsen von Hattachi im Nachbarort Hisanohama und sah dabei einmal etwas sehr Seltenes aufleuchten, den „gruenen Blitz“ am oberen Rand der Sonnenscheibe. Leider war ich zu verbluefft um auf den Ausloeser zu druecken; das Phaenomen machte seinem Namen Ehre.
Das Gespraech mit „Lucky“ vom Februar ist im Nachhinein auch eigenartig. Lucky ist ein Typ der auch aus Deutschland kommt. Zwei Deutsche im gleichen gottverlassenen Kaff, hier am Rand der bewohnten, der bewohnbaren Welt kann man jetzt ja ungeniert sagen – wie ist das zu erklaeren? Wo wir schon von Seltsamkeiten reden. Ein Bayer ist er.
Aha, ein Muenchner! Wenn auch bestimmt nicht im Himmel… aber genauso unerschuetterlich wie der andere. Faehrt allerdings statt BMW stolz Harley Davidson: natuerlich mit einer blau-weissen Fahne am Heck.
Er hatte mich angerufen, wir kannten uns nur vom Hoerensagen, und bat mich um Auskunft zu Yotsukura: er wolle ein Haus hier kaufen, eine guenstige Gelegenheit. „Ja… nicht schlecht hier; die Leute anfangs etwas kalt“, haette Mariko zuerst empfunden, „bis man sie naeher kennenlernt. Auf der anderen Seite: die Atomkraftwerke in der Naehe… und dann der Strand: nur ein paar hundert Meter entfernt! Wenn da mal ein Tsunami kommt kannst Du laufen!“ sagte ich ihm Ende Februar.
Jetzt, „zwischen den Jahren“, bei einer Flasche Wein, tauschten wir uns nochmal ueber das Gespraech aus. Das war schon eigenartig! Dass ich, neben der salzhaltigen Seeluft als Gefahr fuer seine Harley Davidson ausgerechnet Tsunami und AKWs anfuehrte. Zwar irgendwie logisch, aber in der Naehe zum Ereignis das beides ausloeste und verband, dem Beben Staerke M 9.0 frappierend. Er hatte uebrigens grosses Glueck: das Wasser stand ihm bis einen einzigen Zentimeter unter der Schwelle der Eingangstuer. Weil sein Haus auf einem hohen Sockel steht, blieb im Gegensatz zu den stark beschaedigten Nachbarhaeusern bei ihm und seiner Frau alles unversehrt.Uebrigens ist das ein Mann, baumlang wie er ist, von dem man sprichwoertlich sagen kann ihn habe der Blitz beim Scheissen getroffen. Er sass naemlich auf dem Firmenklo als es losging! Auf dem „Donnerbalken“ – weist das jetzt etwa auf einen Zusammenhang in umgekehrter Richtung hin, Chaostheorie, ‘der Schmetterlingsfluegel und der Hurricane’? Es gibt ja viel Unerklaerliches…
Es lag was in der Luft. War das nur die allgemeine Weltlage, die „KRISE“? Oder etwas Anderes das mich veranlasste im Januar mein ueber’s ganze Haus in Schubladen und Tatami-Ritzen verstreutes Bargeld zu sammeln und einen echten Klumpen Gold dafuer zu kaufen? („Schubladensparen“ auch bei mir, 800 Milliarden Dollar liegen angeblich in ganz Japan in den Wandschraenken… kein Wunder bei den Null-Zinsen seit vielen Jahren. Deflation fast ununterbrochen seit dem Platzen der grossen Blase 1991…). Der dann kaum einen Monat spaeter im Sicherheitscheck des Flughafens Frankfurt, Weiterflug nach Muenster/Osnabrueck, die Beamten verblueffen und zu einer telefonischen Nachfrage animieren wuerde, ob das erlaubt sei? Es war; Hans im Glueck.
Mein Testament zu machen, meiner Frau eine Generalvollmacht auszustellen? Meine gesamten Konto, PIN, Kenn- und sonstige Nummern schoen uebersichtlich aufzuschreiben, unglaublich was man alles haben muss, und alles mit Kopien fertig zu machen? Meine Sachen zu ordnen wie vor einem – einem was?
Und was ist eigentlich mit meinen „Bunkerphantasien“? Die fallen mir auch jetzt erst wieder ein. Ich hatte im Februar fiebrige Naechte, war das eine Erkaeltung oder waren’s Zahnschmerzen, ich weiss es gar nicht mehr. Ich betrieb Weltuntergangsvorbereitungen… Ueberdreht lag ich Stunden um Stunden wach und plante. Ein Deutschlandticket zum 90. Geburtstag meiner Mutter war gekauft: ich freute mich und machte mir Gedanken, machte wahnwitzige Plaene. Wollte einen Keller bauen, ausserhalb des Hauses, unter der noch anzulegenden Terasse vor der Sousparterre-Wohnung die wie uns vor drei Jahren eingerichtet hatten. Von der Wohnung aus irgendwie begehbar… wie? Kann man sich fieberfrei gar nicht richtig vorstellen.
Und der Clou war, dieser Keller sollte nach Norden hin, wo das Gelaende in nicht zu grosser Entfernung in ein Wiesental abfaellt, in eine Grotte uebergehen: in der man mit Wasser vom Bach wahlweise heisse und kalte Baeder nehmen koennte denn ich wollte eine beheizbare Badewanne aufstellen. Irgendeine alte Wanne mit einer Moeglichkeit Feuer drunter zu machen! Wie so ein Kannibalenkessel. Das malte ich mir in den schoensten Farben aus!
Die Grotte aber wuerde vom Keller wiederum gut abgeschirmt sein; dem Keller als geheimen Rueckzugsort. Am Besten mit noch einem Geheimgang ins Freie! Davon phantasierte ich Stunden um Stunden, bis mir fast uebel war, und konnte es doch nicht stoppen.
Tatsache ist jedenfalls, dass wir uns damals die Wohnung eingerichtet hatten mit Toilette und Dusche auf kleinstem Raum, was heisst Wohnung, es sind ja nur ein Zimmer und eine Kueche; aber eben doch eine komplett eingerichtete Einheit, und dass uns dies winzige Appartement jetzt ganz genau richtig kam. Ein Rueckzugsgebiet wie es im Buche steht. Fuer eine Zeit wenn einem der Himmel auf den Kopf fallen will.
Meine Frau Mariko hatte auch schon laenger vage Aengste gehabt; grad als das Beben losging sprach sie mit 'Aichans Mama' am Telefon ausgerechnet ueber Erdbeben; es hatte einige „Vorbeben“ gegeben – die ich gar nicht registriert hatte. Wusste gar nicht, dass es „Vorbeben” gibt! „Ich glaube da kommt jetzt wieder eins!” warf sie den Hoerer auf und rannte raus ins Freie: 14:46 Uhr Ortszeit am elften Maerz 2011. Alle diese „Vorahnungen” kann man zwar erst im Nachhinein verstehen. Doch liegt das nicht in der Natur der Sache? Einen Kreis erkennt man eben erst als solchen, wenn er sich geschlossen hat! Der Anfang wird erst vom Ziel aus gesehen verstaendlich.
Noch eine Tagebucheintragung zu Leons geplantem Auslandssemester; grad zwei Tage vor dem elften Maerz war von der ICU in Tokyo die Annahme gekommen, lese ich wieder. Am Abend des 10. Maerz schrieb ich: „…ich habe nur Angst vor dem grossen Beben. Wenn es doch vorher kommen wuerde!“ Damit meinte ich allerdings das „Kanto”-Beben im Grossraum Tokyo das nach wie vor ueberfaellig ist und vor dem ich nach wie vor Angst habe. Das letzte Mal ereignete es sich 1923; es hatte eine Staerke von M 7.9 und forderte ueber 140.000 Tote. Es machte fast zwei Millionen Menschen obdachlos weil grosse Teile Tokyos abbrannten ohne, dass man dagegen etwas tun konnte. Ob mein Wunsch also erfuellt wurde? Kann ich nicht sagen! Ich habe immer noch grosse Angst davor. Vermeide Tokyo seit zwanzig Jahren so gut ich kann - es ist aber damit wohl so wie mit dem Tod in Isfahan aus der alten Geschichte.
Das Kanto-Beben hat eine Frequenz von etwa siebzig bis neunzig Jahren und ist damit jedenfalls ueberfaellig. Unseres hier kam wie der Blitz aus blauem Himmel, niemand hatte das auf dem Radar gehabt. Es kam doch. Erdbeben sind so schwierig vorherzusagen. Eigentlich kann es noch niemand. Es werden Wahrscheinlichkeiten angegeben wie: In den naechsten zehn Jahren wird sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent ein Beben der Magnitude M 8.0 da und da ereignen – was zu ungenau ist um Menschenleben retten zu koennen.
Das naechste ganz grosse Beben auf das man sich hier vorbereitet ist das „Nankai“–Beben weit suedlich von Tokyo. Auch ein furchtbarer Tsunami wird da entstehen – Staedte an der ganzen, langen Kueste bereiten sich vor so gut sie koennen: es werden Lehren gezogen! Es werden sogar einige Teile gefaehrdeter Staedte voellig aufgegeben – der Schock dieses Tsunami war zu gross um die Leute nicht wachzuruetteln. Hunderttausende von Toten werden im schlimmsten Fall befuerchtet! Grauenhaft.
Warum aber die Regierung Noda sich immer noch Sand in die Augen streuen laesst und glauben will, dass das AKW Hamaoka, sowieso in sehr bebengefaehrdeter Lage, durch eine 21 Meter hohe Mauer vor dem Meer geschuetzt werden kann? Es ist zum Verruecktwerden.
Ein Buch! muesse ich schreiben, schnell! solange das Thema „Fukushima“ aktuell sei erklaerte mir Leon mit alttestamentarischer Bestimmtheit als wir Sylvester spaetnachmittags zum Baden ins „Kanpo-no-Yado“, dem Hotel fuer Postangestellte fuhren, mit der Venus schon sehr sehr tief ueber den Bergen; ich mit dem Gefuehl: da wird eh nix draus! weil ich mit dem vermaledeiten „Kanpo-no-Yado“ immer nur Pech gehabt hatte. Mal war’s geschlossen gewesen, und dann der Tag mit Bernd und seiner Schwalbe… Saori musste sich umziehen, Saori musste sich schminken waehrend ich auf dem Parkplatz (ich hatte mich extra beeilt!!) in der Hitze kochte. Als sie dann endlich fertig waren und wir zum Strand gingen, wo mir Bernd eroeffnete, dass er gar nicht schwimmen wollte, war ich dermassen in Brast, dass ich voller Verachtung meinen beruehmten Koepper in zehn Zentimeter tiefes Wasser machte: der mir zu Bernds bleibender Belustigung einen steifen Nacken und eine schoene Schramme an der Stirn eintrug! Mich aber in wunderbarer Weise – auf der Stelle beruhigte.
Das also ist „Kanpo-no-Yado“, und ich war nicht sehr ueberrascht als uns ein Schild am Eingang darauf hinwies, dass der Badebetrieb fuer andere als Hotelgaeste seit 17:00 Uhr beendet sei. Mit einer tiefen, bedauernden Verbeugung bestaetigte es das freundliche Maedchen am Empfang. Ich fuehlte mich – bestaetigt, was sonst.
Aus lauter Frust gingen wir viel zu teuer essen in eine Bar am Wasser, ganz in unserer Naehe: deren zweiter Stock den Tsunami ueberlebt hatte.
Ein Buch! Lieber Leon; als ob ich nicht wuesste was ein BUCH ist, eins das den Namen verdiente, sagen wir mal. Als ‘Leser’, hallo Arno Schmidt noch mal, als Buecherwurm seit dem „Gluecklichen Loewen“ weiss ich was ein Buch ist. Lese seit Weihnachten zum zweiten Mal die „Entdeckung des Himmels“ von Harry Mulisch, lese und staune voller Ehrfurcht. Auch voll Scham, dass ich damals zu May sagte es haette mir nur so lala gefallen! Markus und sie laesen es sich vor, hatte sie mir erzaehlt, und mich gefragt wie ich’s denn gefunden haette.
Wieder eine Suende gegen den heiligen Geist also, eine von denen die nicht verziehen werden koennen: ich war zu dumm das Grossartige an Markus und May zu wuerdigen – sich so ein dickes Buch gegenseitig vorzulesen. Nur weil mich der etwas sehr amerikanische Schluss der Geschichte ermuedet hatte! Nein, mehr als das: weil ich ueberheblich war und bin. Darum. So verdammt ueberheblich. Zum Steine erweichend bloed dazu – meine eigene Tochter und ihren Freund so lauwarm abzufertigen, das ist typisch fuer mich, immer noch, immer noch. Ich denke dann, dass ich ehrlich bin: wer sagte noch, dass der Deutsche grob ist, wenn er glaubt ehrlich zu sein?
So ist es jedenfalls bei mir. Auch nach all den Jahren in kultivierter Umgebung! Ist ja auch nicht einfach. „Du musst Dein Leben aendern!“ – Aber wie? Die Japaner sind wirklich klueger mit ihrer Hoeflichkeit. Bedeutend klueger! Sind menschlicher, das heist auch, behutsam. Und gar nicht so doof wie die deutschen Medien sie immer darstellen, wirklich nicht. Schaefchen sind sie zwar oft, in der Masse einer Stadtgesellschaft geht es auf die Dauer gar nicht anders, wie die Woelfe von der Wall Street vielleicht auch bald feststellen werden, aber bloed sind sie trotzdem nicht. Naiv aus Ueberzeugung zu sein? Fuenfundachtzig Prozent der Zeit ist es eine bessere Strategie mit den Schafen zu bloeken als einsam in die Nacht zu heulen! Leider nicht immer; besonders eben nicht wenn Woelfe mitbloeken. Schreibe jetzt also auch als Bussuebung, bekenne hier oeffentlich meine Mittelmaessigkeit: sollte dies je an die Oeffentlichkeit gelangen!
May hatte ja das Thema „Buch“ eigentlich als Erste angerissen, mit Markus zusammen erfand sie Titel um Titel fuer eine therapeutische Uebung die sie mir empfahl. „Du musst vielleicht dein ganzes Leben mal aufschreiben um klarer zu sehen“ riet sie und stellte das unter Ueberschriften wie „Der alte Mann und das Mehr“ – aber das ist eigentlich eine zu traurige Geschichte. Lassen wir das.
May: danke auch fuer das Buechlein „Wo die Liebe ist da ist auch Gott“ von Leo Tolstoi. Angefangen mit „Huetet das Feuer“ war jede einzelne Erzaehlung eine Mahnung und ein Wegweiser. Was ich hier jetzt versuche aufzuschreiben ist also nichts vom Kaliber eines „Buchs“ und hat auch keine tragenden Weisheiten fuerchte ich: es ist einfach ein Bericht ueber Tage und Stunden, „norari kudari“ wie meine ungeduldige Frau so eine Redeweise immer schilt: um acht Ecken rum. „Komm auf den Punkt!“ nennt Leon sie, aber es braucht Zeit auf den Punkt zu kommen. Habe Geduld mit mir, mein Sohn…Ich habe kein Feuerwerk abzubrennen wie Harry Mulisch und bin auch keine klare Flamme wie Tolstoi der weiss wieviel Erde der Mensch braucht; was ich aufzuschreiben habe ist eher wie das unsichere Feuerchen ein paar zusammengeknuffter Seiten alter Zeitung, wie es Marikos Mutter und alle alten Muetterchen Japans zum Totenfest „Obon“ und den Equinoxen auf dem Friedhof entfachen um daran muehevoll eine Hand voll Raeucherstaebchen in Glut zu setzen. Gelingt es zuletzt werden die Staebchen aus der Huelle genommen die sie in der Mitte haelt wie eine Banderole und auf die Grabsteine des Familiengrabs verteilt. Die Grabsteine wurden bereits gewaschen, Blumen sind schon aufgestellt. Man legt die Haende zusammen und gedenkt der Toten: an die zwanzigtausend sind es diesmal; und wieviel kommen noch? Man geht dann nach diesen kleinen Diensten der Dankbarkeit und des Gedenkens fuer gewoenlich erleichtert und in guter Laune von dannen, Tee und etwas Suesses sind schon vorbereitet: das Leben ist nicht so leicht totzukriegen.Mehr als alles andere ist dies eine Meditation, ist es der Versuch selbst wieder die Fuesse auf die Erde zu kriegen.
Gestern frueh im Bett, nach einem der schweren, nichtsnutzigen Traeume die ich letztens habe, machte das Wort „Closure“ sich so breit in meinem Kopf dass ich anfing nachzudenken und mir DA ploetzlich klarmachte wie sehr ich in der Luft haenge. Dass Mariko es ueberhaupt mit mir aushaelt! (gut, das wundert mich schon ueber zwanzig Jahre… aber jetzt nochmal anders…) Merkt sie nicht wie realitaetsfern ich geworden bin? Unfaehig meine grosse Entscheidung zu treffen – unfaehig wirklich in den Spiegel zu sehen? Ist sie vielleicht selber so, sind wir alle hier in der Nachbarschaft der still und leise vor sich hin brennenden Reaktoren so? Schlafwandler, Traumtaenzer, lebende Leichname? Oder nicht? Das ist die Frage aller Fragen – und sie ist nicht zu beantworten.
„Denial“ ist doch die erste der Phasen durch die man nach einem Schock geht, ob es eine Krebsdiagnose ist oder der Verlust eines geliebten Menschen: ES ist doch eigentlich gar nicht wahr! Es ist doch ganz anders – sagt man sich, unter Umstaenden schliesslich erfolgreich. Schafft sich selbst damit eine neue, eine andere Realitaet – wie gut wenn es gelingt! Es gelingt aber nur, wenn man an sich selber glaubt, an seinen guten Stern, an seinen Weg.
Schliesslich sind wir doch geuebt im „Verleugnen“, oder „Abwehren“; wer denkt denn schon staendig daran, dass er mitten im Leben…? Die allerwenigsten! Ich bin einer davon; jeden Tag denke ich an ihn, den guten zeitlos alten Freund der kleinen Momo, und meine hier nicht Beppo Strassenkehrer, auch nicht Nicola den Maurer, und erst recht nicht den Geschichtenerzaehler Girolamo. „Bist Du…?“ fragte sie ihn, und er laechelte: antwortete aber nicht gradlinig, der Meister der Stunden und Minuten.
„Closure“ – wie dies Wort so vor mir stand fuehlte ich ploetzlich, dass dies Schreiben fuer mich etwas zum Abschluss bringen wird. Kann. Muss. Sollte. Will?
Es ist ja alles in einem selbst, das Gift so wie die Medizin. Wer hat mich denn schliesslich vor so vielen Jahren hier hin geschubst, wenn nicht ich selber? Ueber eine Entfernung von ziemlich genau 10.000 Kilometer punktgenau nach Iwaki – eine saubere Leistung, Respekt. Andererseits waere es auch allzu schwach nach so einem langen Anlauf JETZT nicht den grossen Sprung zu schaffen, den Sprung heraus aus der Traegheit. Den Sprung zurueck: in die Wirklichkeit! Wirken moechte ich so gern nach 27 Jahren Einsamkeit. Wenn ich Menschen erreichen koennte mit diesem Bericht! Mut machen koennte. Zeigen koennte was wirklich wichtig ist; nicht, dass ich mich fuer besonders befaehigt hielte – aber im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen meiner Sprache habe ich Erfahrungen machen muessen, die es vielleicht wert sind geteilt zu werden. Ich moechte mir durch das Schreiben auch selbst darueber klar werden was wichtig ist, „learning by doing“ oder auch „learnig by wooing“: ich werbe um Aufmerksamkeit. Auch meine eigene! Wie kann man anders etwas ueber sich erfahren als im Spiegel des Gegenueber, auch wenn der Gegenueber die Tasten des Keyboards sind auf denen meine Finger ein skurilles Muster weben. Der Schirm auf dem ich Worte stehen sehe: „An Audience of One“. Egal. Ich will’s versuchen! Meine Familie wird’s verstehen.
Und ich mich selbst ein bisschen besser kennenlernen. Meine Familie; besonders meine Frau – eine Figur-Grund-Gestalt! Je mehr ich von „mir“ schreibe desto klarer umrissen wird unausgesprochen auch Mariko erscheinen; sie, die mich und die Kinder traegt, treu wie die gute Erde selber, ein kleines Stueckchen davon, ein Gaertchen eben wie wir es hinterm Haus haben und nun nicht mehr bebauen koennen. Kleine Leute sind wir, unauffaellig und um unsere Existenz kaempfend wie alle unsere Nachbarn hier in diesem kleinen Fischeroertchen Yotsukura, Ortsteil der Stadt Iwaki.
So bescheiden wir sind: das Tableau auf dem sich dieser Bericht entfaltet ist gewaltig.