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3 Lob der Kinderlosen
ОглавлениеBesonders Frauen sind von der Religion des Erfolges betroffen. Zwischen Karriere und Kinderwunsch bewegen sich zahllose weibliche Leben. Ein bedauernswerter Zustand, der von unseligen Schwiegermüttern und im Karrierismus gefangenen Arbeitssimulanten beiderlei Geschlechts eifrig befeuert wird und mit Selbstbestimmung nicht zu verwechseln ist. Ist es nicht tragisch zu sehen, dass sich Frauen nicht mehr aufs Flirten verstehen, aufs Kaffeetrinken in einem Café oder auf einen ruhigen Spaziergang? Wer als wache, ausgeruhte Person zur Mittagszeit über eine belebte Straße flaniert und Blickkontakt mit den Damen dieser Welt sucht, weil er alles andere für aufgesetzt, abgeleitet oder schlicht töricht hält, wird natürlich immer ein oder zwei Exemplare finden, die mit den Augen antworten – andernfalls wäre diese Welt keine Welt mehr, sondern ein unpersönlicher Ameisenhaufen. Aber diese letzten Flirtwilligen, meist Töchter im Schlepptau beschäftigter Eltern, restfröhliche Studentinnen oder Damen im besten Alter auf Shoppingtour, stehen in einem Meer der Gehetzten mit festem Ziel und Termin. Aus deren Wesen spricht, wie beschäftigt sie sind, wie zielgerichtet, wie leblos.
Gestatten Sie mir, an dieser Stelle einen Toast auszubringen auf die kinderlose Frau mittleren Alters, deren Wert in Vergessenheit zu geraten droht. Ich hatte in meinem Leben das Glück, mehrere dieser beeindruckenden Wesen kennenzulernen. Frauen, die keine Kinder wollten oder bekamen, deren Leben nie auf irgendwelche Karriereweihen ausgerichtet war, und die, während andere ihre Seele an Promotionen und Bewerbungen verkauften, in sich ruhten, mit oder ohne Begleitung durch die Welt tollten – und dieser Welt dadurch so viel mehr gaben als alle Übermütter und weiblichen Vorstandsvorsitzenden zusammen. Ist es nicht ein weiterer fataler Irrtum, dass man als Mensch, auch als Kind, nur von seinen Eltern lernen kann? Oh nein, viel mehr lernt man von denen, die einem zufällig begegnen, in die man sich verliebt, die einen sprachlos zurücklassen und gerade so Zuversicht schenken. Ungebundene, kinderlose Frauen können eine Zuversicht ins Leben schenken, von der jede Weltreligion nur träumen kann. Mit einer solchen, völlig dem Leben zugewandten Bekannten streifte ich einmal tagelang lachend durch Orte und Landschaften. Sie gab den Menschen, die sie traf, eine unglaubliche Kraft. Sie spendete mit ihrer Persönlichkeit ein Urvertrauen ins Leben, das man spätestens in der ersten Schulklasse zugunsten eines lächerlichen Glaubens ans Lernen und Wissen abgestreift hatte. Dieses Urvertrauen hat nichts mit Geld oder Ansehen oder Erfolg zu tun, wohl aber mit Sicherheit. Es ist die Sicherheit, sich als freier Mensch fühlen zu dürfen. Als endlicher, erwachsener Mensch, der nichts braucht. Die alleinstehende Frau zählt zu den letzten Giganten dieser Welt.
Natürlich ist es keine Schande, Kinder ins Leben zu setzen. Der Übereifer, der dabei an den Tag gelegt wird, führt aber zu einer Unempfindlichkeit gegenüber der restlichen Welt, die weiterhin Freundlichkeit, Liebe, Lust, Trost braucht, zugunsten von Kindererziehung und Ehestreitigkeiten dann aber nicht weiter bedient wird. Warum sind Eltern nur noch ihren Kindern gegenüber Mensch? Warum wollen sie ihre Kinder taufen lassen und predigen zu Hause nur noch Bildung und Beruf und Geld? Welchen Sinn hat ein Kind, wenn wir es nicht deshalb auf die Welt setzen, um sich am Leben zu erfreuen? Sehr schnell flüchten sich Mütter und Väter in ihre trostlose Familienfabrik, die keine neuen Menschen hervorbringt, sondern nur reproduzierte. Ist es womöglich so, dass sich nur die Unperfekten und Gierigen fortpflanzen, die Bescheidenen jedoch erkennen, dass das Ende ihrer Kette erreicht ist und nicht mit neuen, womöglich gierigeren, dummen Nachkommen aufgefüllt werden sollte? Wer mag an Kinder denken, wenn er denkt? Wäre nicht viel gewonnen, wenn wir endlich mal einen anderen Menschen oder uns selbst als perfekt betrachten könnten, nach dem nichts und niemand mehr kommen muss? Wäre diese Zufriedenheit andererseits nicht ein perfekter Ausgangspunkt, um locker und leicht auf das Leben zu blicken und eben doch Kinder in die Welt zu setzen? Die Liebe zur Familie rührt leider von der Liebe zu den Dingen und dem angehäuften Plunder der letzten Jahrhunderte her. Wir können nichts abgeben, sondern wollen vererben. Wir wollen den Sinn nicht im Hier und Jetzt suchen, sondern in der nächsten Generation.
Oft sind Kinderlose die besseren Eltern. Vielleicht sollte man Kinder deshalb umverteilen und in die Obhut derer geben, die sich nicht mit mittelmäßigen Partnern in den letzten noch möglichen Jahren eine genauso mittelmäßige Existenz aufbauen wollen.
Die Kinderlosen wissen unendlich viel von der Zärtlichkeit, sie müssen sich Freundlichkeit bewahren, um gegen die dummen Fragen von Eltern und Angehörigen ankommen zu können, um weiter Kontakte zu knüpfen und Umarmungen abseits der eigenen Sippe zu erhalten.
Mit Anfang dreißig greift bei Frauen eine Panik um sich, ein offensichtlich der Gebärmöglichkeit geschuldeter Schwarzer Freitag. Wo jetzt ein Kind herkriegen, wer macht es, wer spielt mit Familie? Mit der Geburt des Kindes wird die Weltsicht nicht wieder erweitert, sondern sie bleibt verengt. Bei der Ansicht des täglichen Hauens und Stechens stehen Mutter und Vater nicht etwa resolut an der Seite des Kindes, um zu sagen: „Schau dir das an, wie abscheulich. So sollst du niemals rennen müssen.“ Nein. Diese zwei Volltrottel denken nur: „Und du sollst ganz vorne mitlaufen.“
Dass es mit neuen Menschen nichts wird, ist auch den Medizinern geschuldet, die bereits im Vorfeld mit gotteslästerlichen Methoden Fehlbildungen bei Kindern ausschließen wollen und werdende Eltern in Angst und Schrecken versetzen. Die moderne Gerätemedizin, nichts anderes als eine bestens florierende Angstindustrie, agiert nicht etwa neutral, sondern ganz im Sinne der Leistungsgesellschaft. Das Kind soll gesund sein – und dann eben klug und lernfreudig, geldgierig und arbeitsam. Diese Medizin ist ein Fluch, der keinen Respekt vor dem Leben hat. Mit ihren Zahlenreihen und teuren Computern haben sich die Ärzte zurück in die Steinzeit katapultiert, weit hinter den einfachen Dorfquacksalber, der ein bisschen am Bleistift drehte und während er auf den Baum vor seinem Fenster sah, den Hilfesuchenden mit einfachen Floskeln Mut und Kraft spendete. Leider ist der Quacksalber in Verruf geraten – und wir haben heute kühle, mit Prognosen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen um sich schmeißende Profis in Gemeinschaftspraxen vor uns. Jeder, der vor diesen Seelen- und leider auch Lebensverkäufern schnellstens Reißaus nimmt, ist zu beglückwünschen.
Übung: Lächeln Sie bei Ihrer nächsten Einkaufstour mindestens zwei Menschen unvermittelt an. Provozieren Sie dazu, zum Beispiel an einer Ampel, mindestens einen leichten Zusammenstoß. Halten Sie Worte wie „Hoppla“, „Oh je“ und „Entschuldigung“ bereit, wenn Sie zur Tat schreiten.