Читать книгу Be Nobody - Jules Lux - Страница 7
4 Onkel und Tanten
ОглавлениеLassen Sie uns noch kurz bei den Kinderlosen und im Privaten bleiben. Homosexuelle kennen die Kinderlosigkeit oft sehr gut und richten sich beispielhaft in ihr ein. In unserer Onkel-Tanten-Gesellschaft ist die Kinderlosigkeit ja nur deshalb schwer zu ertragen, weil die Familie immer noch hofiert wird – während es überhaupt nichts zählt, in Würde zu altern oder seine Umgebung mit Witz und Esprit zu erfreuen. Das „Altern in Würde“ ist nur eine Floskel, die niemand wirklich leben will. Wie wir alt werden, wie uns das Leben jenseits der sechzig oder siebzig glückt, ist für die Konsumgesellschaft nicht nur egal. Nein, schlimmer, das Nachdenken darüber gilt sogar als gefährlich. Mit dem Einbiegen auf die Zielgerade gibt es für die Klügeren selbstverständlich neue Werte, die mit der Geld- und Haben-Wichserei der jungen Jahre nur noch wenig zu tun haben. Erst recht, wenn man keine Kinder hat, und das, was man hat, plötzlich verschenken oder weggeben will. Viele Alleinstehende räumen mit Freude ihre Wohnung aus und stellen fest, wie herrlich es ist, nichts mehr zu besitzen. Sie negieren den Wert von Gegenständen und die Religion des sogenannten „Verdienens“. Sehr zum Ärger der Marktwirtschaft. Ein schönes Beispiel konnte ich neulich in einer Zeitung finden. Ganz hinten im Lokalteil berichtete ein Reporter vom Besuch in einem Hospiz und interviewte eine angeblich kurz vor dem Tod stehende Dame. Nach einer Lebensweisheit gefragt, sagte diese ohne Umschweife, dass Glück im Leben als Geschenk anzusehen sei, nicht als Verdienst. Beim Blättern auf den vorderen Seiten derselben Zeitung sprang mich dann die Werbung einer Möbelhauskette an: „Im Leben gibt es nichts geschenkt. Bei uns schon.“ Es ist gut zu wissen, dass auch das Leben von Möbelhausketten endlich ist und Menschen existieren, die andere nicht ständig auffordern, sich etwas zu verdienen.
Schwule und Lesben leben den Zweifel an der Verdienstorganisation namens Familie – und müssen sich oftmals eine ganz eigene, bessere Welt schaffen. Man muss ihnen dafür zujubeln. Bei vielen von ihnen sind eine Weisheit und ein Humor erkennbar, von denen der Durchschnittssenior nur träumen kann. Ich hoffe, geneigte Leserin, geneigter Leser, Sie wissen, was ich meine. Ein Freund von mir, stockschwul, lebt mit fünfzig Jahren zivilisierter und vitaler als viele vermeintlich heterosexuelle Familienväter gleichen Alters. Der Grund: Er nimmt sich selber nicht halb so wichtig und weiß um die Vergänglichkeit. Er hat im Leben einige Menschen begehrt, sie liebkost und rechtzeitig wieder verlassen. Er kennt den Wunsch, nur Körper sein zu wollen, also: ein Niemand zu sein. Diese körperliche Begierde kann befriedigt werden, wenn sich zwei Menschen gleichberechtigt gegenübertreten und die Liebkosung anderer Körper als wichtigen Teil des Lebens begreifen. Anonymer Sex ist deshalb verlockend, weil wir uns als normale, ambitionslose Menschen begegnen, als Wesen aus Fleisch, die sich mit anderen Wesen aus Fleisch vereinigen und lieben wollen. Eine Lobpreisung der Schöpfung, nichts anderes. Der Moment, in dem wir uns sexuell erregen oder auch schon verlieben, kennt keine Persönlichkeit oder den Wunsch, sich intellektuell auszutauschen oder im Kopf schon mal einen gemeinsamen Haushalt zu planen. Stellen Sie sich vor, Sie kämen in einen Club mit den Worten: „Hallo. Ich heiße Peter Meier. Ich arbeite seit sechs Jahren als Versicherungsvertreter, wohne im südlichen Teil der Stadt. Meine Hobbies sind…“ Niemand würde Sie anrühren. Im Gegensatz zum bürgerlichen Leben mit fester Adresse und Arbeitszeiten wünschen wir uns beim Sex Menschen zu sein, die keinerlei Alltagsleben haben, die nicht stundenlang vor Bildschirmen hocken und sich lieber dadurch definieren, dass sie einfach nur am Leben sind.
Der ganze Zivilisationsunsinn mit Name, Adresse und Beruf hat nichts mit unserem Eros und Ursprung zu tun. Im Gegenteil sogar. Er steht jeder körperlichen Anziehung entgegen. Herzen und umarmen wollen wir Wesen, über die wir noch nicht alles wissen, die zunächst mal mit ihrem Körper kommunizieren und, das hoffen wir klammheimlich für die Zeit nach den Liebkosungen, wunderbare Dinge denken. Natürlich wird man mit der Zeit ernüchtert. So wie ein Kleinkind auch irgendwann etwas „leisten muss“ und nicht allein auf seine Schönheit oder Herzigkeit bauen kann. Statt die durch den Nachwuchs wiederentdeckte Freude am Leben in Ehren zu halten, eine Freude, die die Kinderlosen täglich selbst herstellen müssen, quälen Eltern ihre Nachkommen irgendwann ideenlos mit Fragen zu Berufs- und Zukunftsplänen. Das Leistungsprinzip ist aber mit ein Grund, warum die Menschen irgendwann auseinanderdriften. Der Wunsch des Teenagers, seine Eltern zu verlassen, drückt die Hoffnung aus, irgendwo auf dieser Welt wieder wie ein Baby, gänzlich vorurteilsfrei und körperlich, allein aufgrund seiner Erscheinung, geliebt zu werden. Oftmals sind Onkel und Tanten ab einem gewissen Alter deshalb die besseren Eltern – sie verstehen, wo die Eltern den Kopf schütteln, sie ermuntern, wo die unmittelbare Umgebung keinen Weg sieht.
Hinter jedem Sex steckt der Glaube an die Anziehungskraft durch die Stille. Das ahnen auch Teenager, die das von Streitereien und Leistungstreiberei bestimmte Gequatsche ihrer Lehrer, Eltern und Mitschüler schneller satt haben als man gemeinhin glauben möchte. Die Lust auf eine andere Person passiert allein durch die Unwissenheit, mit wem wir es eigentlich zu tun haben. Wir sehnen uns nach dem Prototyp des attraktiven Menschen, der nicht mit sich und dem Broterwerb, sondern mit der Liebe und der Einfachheit beschäftigt ist: dem „Girl Next Door“ oder dem „schönen fremden Mann“. Wir wollen nicht wissen, dass wir im Alltag viele nicht-körperliche, peinliche Dinge tun, die einzig und allein der rationalen Welt frönen. Der Kampf ums Geld, um einen Beruf, der uns jede Luft zum Atmen nimmt, um Technikschnickschnack, doofe Hobbies und Wochenenden in der Autowaschanlage schaltet jede Lust aus und führt, im Gegenteil, sogar zu Aggressionen. Nicht umsonst ist Gewalt per se heterosexuell. Oder haben Sie schon mal gehört, dass es beim Christopher Street Day zu Krawallen kam?
Mit plötzlichen Attacken seitens braver Ehepaare und Familien ist hingegen jederzeit zu rechnen. Ich saß einmal in einer S-Bahn, in der zwei angetrunkene Ehepaare in den Fünfzigern, ordentlich frisiert und angezogen, zwei junge Männer Anfang zwanzig anpöbelten. Als die sich verbal wehrten, marschierten die älteren Herren tatsächlich in Richtung Jugend, um ihnen mit der Faust unvermittelt ins Gesicht zu schlagen. Die Runzeligen, die nichts gelernt haben außer Zeitunglesen und Häuschenbauen, gingen gegen die Schönen vor, die noch bis elf Uhr ausschlafen und sich ihre Sexualpartner aussuchen können. Mit ein paar mutigen Gästen konnte ich die Herrschaften gerade noch rechtzeitig auseinanderreißen. Die Lage danach: Die Jungs sahen mit ihren blutigen Lippen noch begehrenswerter aus, die Alten hatten ihre Bankrotterklärung abgegeben. Etwas subtiler und nur bedingt auflösbar sind die Attacken, die junge Familien in der Innenstadt, in Kaufhäusern und Einkaufsstraßen gegen ihre Mitmenschen reiten. Man soll bitteschön die Kinder durchlassen, Kinderteller auf die Speisekarte setzen, Parkplätze zur Verfügung stellen, überhaupt mal Platz machen. Es scheint so, dass sich der ganze angestaute Frust über das leidenschafts- und geheimnislose Ehe-, Berufs- und Familienleben, bei dem keiner zulasten seines Kontos zurückstecken will, hier entladen muss. Die Kinder werden nicht wie menschliche, neugierige Wesen, sondern wie Waffen über die öffentlichen Plätze und Anlagen getrieben. Anstatt den Kindern ein Vertrauen in die fremde Umgebung und die Menschen zu schenken, werden sie missbraucht, um den eigenen Status deutlich zu machen oder sich gegenüber den anderen Menschen, die einem der Rest der Woche piepegal sind, zu positionieren. Die Kleinen werden zur Seite gezerrt oder weiter geschleift, als verlängerter Arm ihrer Erzeuger missbraucht oder laut zur Raison gerufen. „Das Leben liegt vor dir“, bekommen sie ständig gesagt. „Das Leben liegt in dir“, sollte es heißen. Was vor allem noch kommt, ist der Versuch, den ganz eigenen Wert des Lebens aufzulösen und die Träume der Jugend einzusargen. Wie wir mit unseren Kindern umgehen, zeugt davon, dass wir durch Nachwuchs leider nicht klug werden und der Sex, mit dem er initiiert wurde, uns nicht logischerweise dazu gebracht hat, dem Phänomen Mensch an sich mehr zu vertrauen.
Übung: Fordern Sie von Ihren Mitmenschen morgen einmal genau nichts. Bestellen Sie keine Dinge, weisen Sie keine Handlungen an, ermahnen Sie zu nichts, lassen Sie sich nicht zu Vorschlägen hinreißen, schreiben Sie keine Mails oder SMS, rufen Sie niemanden an.