Читать книгу In meinem Bügeleisen ist beinahe Vollmond - Jules van der Ley - Страница 15
Bericht von einer pataphysikalischen Forschungsreise
ОглавлениеWenn man in einer Stadt zu Hause war, nach einer Weile dahin zurückkehrt und sich wieder zu Hause fühlt, dann ist es ganz absonderlich, wieder zu Hause anzukommen. So wirr wie dieser Satz war mir der Kopf, als ich gestern Abend im Hauptbahnhof von Hannover eintraf. Es war wie ein bizarrer Traum, den man lieber nicht haben möchte, so als wäre man in die Fremde verschlagen worden, ins Ausland, worin etymologisch das Wort Elend steckt. Unsere Vorfahren haben nämlich gedacht, die Leute im Ausland hätten nichts zu essen.
Ich hatte einmal eine Schwiegermutter, die diese uralte Vorstellung treulich bewahrte. Sie war nicht vom Gegenteil zu überzeugen gewesen, bis ich sie einmal in Aachen in den Zug geschubst und ins Ausland verschickt habe. Der Zug fuhr statt nach Köln nach Brüssel. Es war keine böse Absicht gewesen. Wir waren zu spät am Bahnhof angekommen, und ich war froh gewesen, dass der Zug noch da stand. Freilich entpuppte der sich nach dem Anrollen als der Zug in Gegenrichtung und riss zu meinem Entsetzen die gute Schwiegermutter nach Belgien davon.
Um sie vor einer langen, schrecklichen Fahrt ins tiefe Elend zu bewahren, rief ich im wallonischen Bahnhof Welkenraedt an. Bahnbeamte holten sie dort aus dem Zug. Meine Schwiegermutter sollte sich noch Jahre tief beeindruckt zeigen, erstens von den prächtigen Uniformen belgischer Bahnbeamter, dann von der sprachlichen Eleganz und ausgesuchten Höflichkeit. Sie redeten meine Schwiegermutter nämlich an mit: „Madame in Schwarz“.
Madame in Schwarz wollte natürlich ein Andenken an ihre Irrfahrt. In der Bahnhofshalle von Welkenraedt hing ein verstaubter Schaukasten mit belgischen Biergläsern. „Madame“ gab nicht eher Ruhe, bis einer der Bahnbeamten den Schlüssel für den Schaukasten besorgte und ihr ein Bierglas übergab, wofür er sich selbstverständlich weigerte, Geld anzunehmen. Diese generöse Tat war allerdings mit langer Wartezeit auf den Vitrinenschlüssel verbunden gewesen. Es handelte sich schließlich um einen Verwaltungsakt der Staatlich Belgischen Eisenbahngesellschaft. Da müssen Formulare in allen drei belgischen Amtsprachen ausgefüllt werden, und es ist die Genehmigung von höherer Stelle erforderlich, dass der belgische König die Dokumente zur Übergabe eines verstaubten Bierglases aus dem Bahnhof Welkenraedt an eine deutsche Madame in Schwarz nicht siegeln muss. Dank der beherzten Entscheidung des Bahnvorstands, den belgischen König außen vor zu lassen, konnten die Welkenraedter Bahnbeamten meine Schwiegermutter und ihr Bierglas rechtzeitig und würdevoll zum Gegenzug nach Köln geleiten. Das alles war für meine Schwiegermutter der Beweis, dass Ausland nicht gleich Elend sein muss. Es geht doch nichts über eigene Anschauung. Sie erst erweitert den Horizont.
Fast wäre es mir bei der Rückkehr aus Aachen lieber gewesen, so etwas wie den verwaisten Bahnhof von Welkenraedt vorzufinden, mit Lichtern, die für niemanden leuchten. Denn im lichterfunkelnden Hauptbahnhof von Hannover war ein unmenschliches Gerenne und Geschubse, dass ich mich kaum traute, den Koffer abzusetzen, um den Rollgriff auszufahren. Ich suchte eine stille Ecke auf, damit ich nicht mitgerissen wurde, hinaus in die Fremde. Und wäre die Menschenwoge verebbt, würde zurückweichen, dann fände ich mich am Ende in der furchtbarsten Einöde wieder. Kalt und finster wäre es. Dann würde in der Ferne das einzige Licht eines einsamen Hauses verlöschen, und ich wüsste nicht wohin …
Nirgendwo unter Tausenden Menschen ein vertrautes Gesicht zu sehen, ist auch nicht viel anders. Immerhin wusste ich wohin. Ach, und auf dem U-Bahnsteig grölten Fußballfans lauthals ihre Lieder, die wie eine versunkene Sprache aus der Steinzeit klangen. Wie gerne wäre ich vor sie hingetreten und hätte gesagt: „Ihr wirkt unsagbar doof. Ihr seid ja wohl eine Horde von Sturzblöden. Hoffentlich seid ihr nicht von hier und fahrt zurück in eure elende Heimat, obwohl ich glaube, dass keine hannöversche U-Bahn jemals solch verderbte Orte überhaupt anfährt, wo alle nur Inzucht betreiben. Wo Bruder, Schwester, Vater, Großvater, Tanten, Onkel und Schwippschwägerinnen – allesamt übereinander herfallen, nur eure Mütter nicht, weil sie es am liebsten mit Ziegenböcken treiben.“ Vermutlich hätte mich keiner von denen verstanden.
In der U-Bahn dann setzte sich eine junge, vollschlanke Türkin vor mich. Sie hatte ein unglaublich schönes Gesicht und in ihren großen Augen schimmerten Tränen. Ich konnte nicht umhin, immer wieder zu schauen, ob ihre Augen überlaufen würden, was aber nicht geschah. Sie hatte einen Knopf von ihrem Smartphone im Ohr, und mit einem Mal entschloss sie sich, jemanden anzurufen, „wo bist du?“ zu fragen und zu sagen: „Du bist in 10 Minuten an der Was-weiß-ich-Straße!“ Das duldete keinen Widerspruch. Da müsste schon einer ein steinernes Herz haben, nicht zeitig am besagten Ort einzutreffen. Aber solche mit steinernen Herzen gibt es zuhauf. In Großstädten wird man oftmals ungewollt Zeuge kleiner Tragödien, vor denen man ebenfalls das Herz verschließen muss, was insgesamt einen unsozialen Gewöhnungseffekt mit sich bringt. So ist der urbanisierte Mensch ein Gleichgültiger, und je größer eine Stadt, desto gleichgültiger die Bewohner.
Gewohnt herzlich klang Jeremias Coster auf meinem Anrufbeantworter. Er bedauere sehr, dass wir uns in Aachen nicht hätten treffen können, sei jetzt aber den ganzen Abend zu Hause. Als ich ihn anrief, guckte er gerade einen Krimi und verabschiedete sich nach wenigen Sätzen. Coster hat es immer schon verstanden, was man verantwortliche Selbstsorge nennt. Sie ist das notwendige Prinzip, nicht ins Unglück zu geraten. Man kennt es schon in der Antike: Nur die verantwortliche Selbstsorge berechtige den Anspruch auf ein schönes Leben.
Das hat viel mit Selbstbegrenzung zu tun. Denn wer allem offen steht wie ein Supermarkt, in dem sich jeder bedienen kann, wann er grad lustig ist, gerät zuverlässig ins Unglück. Zwischen Anteilnahme und Selbstsorge die Balance zu finden, ist eine schwierige Übung. Ich habe schon zu lange nicht mehr nächtens in Costers Küche gesessen und beim Klang der “Gleisharfe” (Coster) vom nahen Aachener Hauptbahnhof getrunken und geredet, bis Coster demonstrierte, wie das geht, indem er entschieden aufstand und zu Bett ging.
Obwohl ich vier Tage in Aachen gewesen war, hatte ich Coster nicht treffen können. Mal war er unterwegs, mal ich, dann wieder hatten wir beide etwas anderes zu tun. Schön war es trotzdem, denn ich nächtigte bei einer Blogfreundin im Aachener Stadtzentrum, direkt beim Dom. Schaute ich hinaus, hatte ich ein quirliges Fenstertheater. Bereits morgens zieht der fröhliche Leierkastenmann Werner Wittpoth die Straße herauf. Aber ganz langsam, jeder Meter ein Weihnachtslied. Wittpoth lebt in Eschweiler, aber man kennt und mag ihn im Rheinland zwischen Bonn, Köln und Aachen. Er ist Contergan-Geschädigter und dreht seine Orgelkurbel mit einem Arm ohne Schultergelenk, weshalb er den Oberkörper beim Kurbeln auf und ab bewegen muss. Stets trägt er Frack und Zylinder, den er dankend lupft, wenn ihm einer etwas ins Körbchen legt. Leierkastenmusik, das Gedudel der Orgelpfeifen, muss man mögen und beurteilen ohne Ansicht der Person des Leierkastenspielers. Anders die Eigentümerfamilie Wirtz von Chemie Grünenthal, der Wittpoth im August dieses Jahres mit dem Leierkasten auf den Ohren lag, um Gerechtigkeit für Contergan-Geschädigte zu fordern. Diesmal hemdsärmelig und dem Anlass entsprechend ein bisschen dissonant.
Jetzt kurbelt er aber vorweihnachtliche Innigkeitsmelodien, deren Haltbarkeitsdatum längst abgelaufen ist. Als er schon den zweiten Tag die Straße heraufkommt, tun mir die Angestellten in den Geschäften leid, die das Türelürelü viel länger anhören müssen als vorbeieilende Passanten. Da schließen wir lieber das Fenster und wenden uns anderen Dingen zu, etwa dem Weihnachtsmarkt am frühen Morgen, wenn alle Buden noch ihre Läden geschlossen haben.
Offenbar werden um diese Zeit die Erstklässler durch die leeren Gassen getrieben, eine pädagogische Maßnahme, die beispielhaft für die Rolle der Schule in unserer Gesellschaft steht: „Seht Kinder, diese Läden öffnen sich für euch, wenn ihr immer fleißig lernt. Denn wer nicht lernt, was wir euch beibringen, hat in der wunderbaren Welt des Konsums nichts zu suchen.“ Und wie rasch werden da welche abgehängt. Kriegen niemals den Zugang zur vollen Dröhnung Konsumklingelblitzeling, müssen später immerzu früh aufstehen und Flaschen sammeln, die von nächtlichen Zechern abgestellt worden sind. Oder sie müssen Grußautomat werden wie der Mann vor dem Eingang von St. Foillan.
Es ist nämlich so: Wenn in Aachen viele Touristen zu erwarten sind wie etwa beim Weihnachtsmarkt, dann werden im Stadtzentrum vom Ordnungsamt die Bettler abgeräumt. Wer also betteln will, muss eine Dienstleistung erbringen, etwa sich in Folie einwickeln, das Gesicht mit Goldbronze verschmieren und auf einem Podest als Statue verharren. Bequemer hat es der Mann vor St. Foillan. Er patrouilliert vor dem Portal der Pfarrkirche und wünscht jedem Vorbeikommenden „Guten Morgen.“ Diesen Gruß lässt sich so mancher was wert sein und bezahlt. Reiche in unserer Gesellschaft, wie etwa der Langenscheidt-Erbe Florian Langenscheidt, propagieren den armen Staat. Der soziale Ausgleich werde zu Genüge von privaten Stiftungen, Benefiz-Galas und privater Mildtätigkeit gesichert, findet Langenscheidt. Man will eben alle zu Bettlern machen, weil Reichtum sich erst richtig genießen lässt, wenn man auch der Elenden gnädig gedenkt, damit man umso hemmungsloser und lustvoller dem Götzen Eigennutz dienen kann. Wenn Reiche eine Winzigkeit geben, sind von ihrer Mildtätigkeit überwältigt, und ihr rührseliges Glück ist vollkommen, wenn sie sich vergegenwärtigen, wie billig sie diese überwältigenden Gefühle bekommen haben. Fast möchte man mit ihnen ein Tränchen verdrücken.
Vermutlich wäre so ziemlich jeder von uns nicht anders, wenn der Reichtum über ihn herfallen würde wie ein Raubtier, das nur Herzen frisst. Darum brauchen wir einen starken Staat, einen ausgleichenden Staat, der sich der Armen und Geschundenen unserer Gesellschaft verantwortungsvoll annimmt. Wir brauchen eine Regierung, die Leuten wie der Familie Wirtz mutig auf die Füße tritt. Wir brauchen eine katholische Kirche, die ihre Grundsätze wahrhaft vertritt, damit sich die Bimmelei von St. Foillan und sonstigen Kirchtürmen nicht gar so bigott anhört. Man weiß nicht, warum sich der vorletzte Papst genötigt fühlte, ausgerechnet den IHK-Präsidenten und geschäftsführenden Gesellschafter der Firma Grünenthal, Michael Wirtz, zu empfangen.
Ob er in mildtätiger Stimmung war und den Gebrüdern Wirtz die Absolution erteilt hat für das schändliche Verhalten gegenüber den Conterganopfern? Die hat jedenfalls noch kein Papst empfangen. Vermutlich hasst man im Vatikan Leierkastenmusik und Stummelarme, sondern gibt sich nur mit großen Orgelpfeifen und jungen Kirchenmusikern ab, deren Finger bei Gelegenheit sanfter schmeicheln können.
Und wir brauchen eine Presse, die sich nicht ranwanzt an solche Leute, nicht vor lauter tumber Begeisterung “Papst Johannes Papst II.” schreibt, denn in die Zeitung zu kotzen, ist auch keine Lösung.
Wo, Herr Autor, bleibt denn das Positive Ihrer Forschungsreise? Es ist privat, liebe Leserinnen und Leser, man soll nicht laut davon singen. Nach vier schönen Tagen in Aachen fuhr ich zurück nach Hannover. In Düsseldorf musste ich in den ICE nach Berlin Ostbahnhof umsteigen. Auf meinem reservierten Platz saß ein Mann. Ich sagte: „Sie sitzen auf meinem Platz.“ Er murrte, über diesem Platz stünde nur, „Gegebenenfalls freigeben“, stand aber widerstrebend auf. Im Gang wandte er sich um und sagte: „Eigentlich hätten Sie mir Ihre Reservierung zeigen müssen“, wollte sie dann aber nicht sehen. Denn dieser berechtigte Vorwurf linderte seine Schmach. Verdammt, dachte ich, indem er mich nichts beweisen ließ, hat er mich ins Unrecht gesetzt. Welch ein elendes Geschubse in der Glitzerwelt.