Читать книгу Gesammelte Erzählungen - Jules Verne - Страница 19
ОглавлениеAber diese Tätigkeit beschäftigte mich nicht völlig. Das alte Dokument machte mir in den Gedanken viel zu schaffen. Mein Kopf glühte, und eine unbestimmte Unruhe ergriff mich. Ich ahnte eine bevorstehende Katastrophe.
Nach Verlauf einer Stunde waren meine Klappersteine geordnet. Darauf wiegte ich mich in dem großen Lehnstuhl, den Kopf rückwärts, die Arme baumelnd. Ich zündete meine Pfeife an, deren lange krumme Röhre am Kopf mit dem Bild einer Nymphe geziert war, und ergötzte mich daran, die Fortschritte der Verkohlung zu beobachten, wodurch die Nymphe zu einer vollständigen Negerin geworden war. Von Zeit zu Zeit lauschte ich, ob sich nicht Tritte auf der Treppe vernehmen ließen. Nichts zu hören. Wo mochte mein Oheim eben sein? Ich sah ihn in Gedanken die schöne Allee der Altonaer Straße entlang laufen, gestikulierend, mit kräftigem Arm die Kräuter zerschlagen, Disteln köpfen und die Schwäne in ihrem Frieden stören.
Wird er triumphierend oder entmutigt heim kommen? Sollte er das Geheimniß heraus bekommen haben? So fragte ich mich, und nahm maschinenmäßig das Blatt Papier in die Hand, worauf die von mir geschriebenen unverständlichen Zeilen sich befanden. Ich wiederholte:
»Was bedeutet dies?«
Ich versuchte die Buchstaben so zu gruppieren, daß sie Worte bildeten. Unmöglich. Man mochte sie zu zwei, drei, fünf oder sechs zusammenstellen, es kam durchaus nichts Verständliches heraus. Doch ließ sich aus dem vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten Buchstaben das englische Wort »ice« bilden, aus dem vier-, fünf- und sechsundachtzigsten das Wort »sir«. Endlich erkannte ich mitten in dem Dokument auf der dreißigsten Zeile die lateinischen Worte »rota«, »mutabile«, »ira«, »nec«, »atra«.
Teufel, dacht’ ich, diese letzteren Wörter könnten wohl meinem Oheim Auskunft über die Sprache des Dokuments geben! Und da sehe ich gar, auf der vierten Zeile noch das Wort »luco«, das einen »heiligen Hain« bedeutet. Zwar auf der dritten Zeile ist das Wort »tabiled« zu lesen, welches ganz hebräisch aussieht, und auf der letzten die Wörter »mer«, »arc«, »mère«, die rein französisch sind.
Darüber konnte man den Kopf verlieren: Vier verschiedene Sprachidiome in einer sinnlosen Phrase! In welchem Zusammenhang konnten die Wörter »Eis«, »Herr«, »Zorn«, »grausam«, »heiliger Hain«, »wechselnd«, »Mutter«, »Bogen«, »Meer« stehen? Das letzte und erste allein ließen sich leicht an einander reihen: es wäre nicht zu verwundern, wenn in einem auf Island geschriebenen Dokument von »Eismeer« die Rede wäre. Aber den übrigen Teil des Geheimschriftstücks zu begreifen, war doch eine andere Aufgabe.
Ich rang also mit einer unlöslichen Schwierigkeit; mein Gehirn erhitzte sich, meine Augen blinzelten bei dem Blick auf das Blatt; die hundertzweiunddreißig Buchstaben schienen um mich herum zu hüpfen, wie die Silbertropfen, die in der Luft unseren Kopf umflimmern, wenn das Blut stark dahin dringt.
Es wandelten mich Phantasiegesichte an; der Atem ging mir aus; ich bedurfte Luft. Unwillkürlich fächelte ich mich mit dem Blatt Papier, so daß seine Vorder- und Rückseite abwechselnd mir vor Augen kamen. Wie war ich überrascht, als ich bei einem solchen raschen Umwenden vollkommen lesbare Wörter zu erkennen glaubte, lateinische Wörter, z.B. »craterem«, »terrestre«.
So drang auf einmal ein Lichtstrahl in meinen Geist; diese einzigen Spuren führten mich auf den Weg der Wahrheit; ich hatte das Gesetz der Chiffre gefunden. Um das Dokument zu verstehen, brauchte man nicht einmal quer über auf die Rückseite des Blattes zu lesen! Nein.