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Zweites Kapitel

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Auf gut Glück

Die Fahrt des „Abraham Lincoln“ verlief lange ohne jeden Zwischenfall. Er durchfuhr alle nördlichen Meeresstriche des Stillen Ozeans, lief die signalisierten Walfische an, kreuzte in raschen Wendungen hin und her, ließ keinen Punkt von Japan bis zur amerikanischen Küste undurchsucht. Aber es gab nichts, nichts als das unermeßliche, öde Meer! Nichts, was einem riesenhaften Narwal, einem unterseeischen Inselchen, einer schweifenden Klippe noch sonst etwas Übernatürlichem geglichen hätte.

Da trat ein Rückschlag ein. Die Entmutigung machte zuerst einer Ungläubigkeit Platz. Es entstand an Bord eine Stimmung, die aus drei Zehntel Scham und sieben Zehntel Zorn bestand. Wie war man doch „einfältig, sich für eine Chimäre gewinnen zu lassen“. Jeder dachte nur mehr in den Stunden der Mahlzeit oder des Schlafes daran, die so sinnlos geopferte Zeit wieder nachzuholen.

So verfiel man von einem Extrem ins andere. Die wärmsten Verfechter der Unternehmung wurden nun zu den ärgsten Schmähern. Die Reaktion befiel alles, vom untern Schiffsraum bis zum Salon der Offiziere, und wäre nicht der Kommandant Farragut so hartnäckig gewesen, so hätte sich die Fregatte wieder entschieden nach Süden gewendet.

In diesem Sinne machte man dem Kommandanten Vorstellungen. Der aber hielt wacker stand. Die Matrosen verhehlten nicht ihre Unzufriedenheit, und der Dienst litt darunter. Ich will nicht sagen, daß an Bord ein Aufruhr entstand, aber der Kommandant Farragut fand doch, nachdem er geraume Zeit widerstanden, sich veranlaßt, wie einst Kolumbus, drei Tage Geduld zu verlangen. Wenn im Verlauf von drei Tagen das Ungeheuer sich nicht zeigte, sollte der „Abraham Lincoln“ die Heimkehr nach den europäischen Meeren antreten.

Dieses Versprechen wurde am 2. November gegeben. Es hatte zunächst zur Folge, daß der Mut der Mannschaft sich wieder hob. Der Ozean wurde wieder gründlich beobachtet; die Fernrohre kamen wieder in Tätigkeit. Es war wie eine letzte Herausforderung an den Riesen-Narwal.

Während der nächsten zwei Tage hielt sich der „Abraham Lincoln“ bei schwachem Dampf. Man gab sich alle Mühe, die Aufmerksamkeit des Tieres, falls es sich in dieser Gegend befände, zu erregen. Es wurden ungeheure Stücke Speck am Schleppseil ausgeworfen — zur großen Befriedigung der Haifische. Die Boote fuhren in allen Richtungen um den „Abraham Lincoln“, während er aufbraßte, und ließen keinen Punkt undurchsucht. Aber der Abend des 4. November kam heran, ohne daß das unterseeische Geheimnis sich enthüllte.

Am folgenden Tag, dem 5. November, lief der Termin ab. Nach diesem Termin mußte der Kommandant Farragut, seinem Versprechen gemäß, die Fahrt nach Südosten richten und die nördlichen Gegenden des Stillen Ozeans verlassen.

Die Fregatte befand sich damals unter dem 31° 15’ nördlicher Breite und 136° 42’ östlicher Länge. Die Landschaften Japans waren kaum zweihundert Meilen entfernt. Die Nacht nahte, es schlug schon acht Uhr. Die Mondscheibe, in ihrem ersten Viertel, war von Gewölk verschleiert. Das Meer schlug ruhige Wellen.

In diesem Augenblick befand ich mich vorn an Steuerbord, aufs Geländer gelehnt. Conseil, der in meiner Nähe stand, schaute vor sich hin. Die Mannschaft, auf den Tauen hockend, forschte am Horizont, der allmählich enger und düsterer wurde. Die Offiziere, mit ihren Nacht-Lorgnetten bewaffnet, beobachteten die zunehmende Dunkelheit.

„Na, Conseil“, sagte ich zu meinem braven Diener, „nun ist noch zum letzten Mal Gelegenheit, zweitausend Dollars einzustreichen.“

Ehe Conseil antworten konnte, ließ sich eine laute Stimme vernehmen. Ned-Land rief: „Hoiho! der fragliche Gegenstand unterm Wind, quer vor uns!“

Sofort stürzten Mannschaft, Kommandant, Offiziere, Matrosen und Schiffsjungen hin zum Harpunier, selbst die Ingenieure verließen ihre Maschine, die Heizer ihr Feuer. Es wurde Befehl zum Einhalten gegeben, und die Fregatte fuhr nicht weiter, als ihre Kraft noch reichte.

Es herrschte völlige Dunkelheit, und so trefflich des Kanadiers Augen waren, so fragte ich mich doch, wie er denn nur sehen gekonnt und was er gesehen. Mein Herz klopfte zum Zerspringen.

Aber Ned-Land hatte sich nicht geirrt, und wir alle sahen den Gegenstand, auf den er mit der Hand wies.

Zwei Kabellängen vom „Abraham Lincoln“ entfernt schien das Meer an der Oberfläche beleuchtet. Es war nicht bloß ein Phosphoreszieren, man konnte sich nicht irren. Das einige Klafter unter dem Wasserspiegel verborgene Ungeheuer warf den sehr starken, aber unerklärlichen Glanz an die Meeresoberfläche, von dem schon mehrere Kapitäne berichtet hatten. Diese prächtige Ausstrahlung mußte von dem Träger einer starken Leuchtkraft herrühren. Die auf der Meeresfläche erleuchtete Stelle bildete ein ungeheures, sehr langes Oval, in dessen Zentrum ein glühender Brennpunkt von unerträglichem Glanz Strahlen warf, die, stufenweise schwächer, allmählich erloschen.

„Eine Anhäufung phosphoreszierender Elementarteilchen“, rief einer der Offiziere.

„Nein“, ich widersprach mit Überzeugung. „Niemals können die Pholaden und Salpen ein so starkes Licht erzeugen. Dieser Glanz ist seiner Natur nach elektrisch . . . Übrigens, sehen Sie, sehen Sie! Es ändert seine Stelle; bewegt sich vor-, rückwärts! Da! Es stürzt auf uns los!“

Allgemeines Geschrei auf der Fregatte.

„Still!“ befahl Kommandant Farragut. „Steuer unterm Wind, Maschine rückwärts!“

Die Matrosen stürzten sich auf das Steuer, die Ingenieure zu ihrer Maschine.

Der „Abraham Lincoln“ drehte sich links, beschrieb einen Halbkreis.

„Steuer rechts! Maschine voran!“ rief Farragut.

Die Befehle wurden ausgeführt, und die Fregatte entfernte sich rasch von der leuchtenden Stelle.

Besser, sie wollte sich entfernen, aber das Wundertier näherte sich mit doppelter Geschwindigkeit.

Wir waren außer Atem. Bestürzung machte uns stumm und unbeweglich. Das Tier spottete unser; es schwamm um die Fregatte herum und umzog sie mit elektrischen Streifen. Dann entfernte es sich zwei bis drei Meilen, indem es einen phosphoreszierenden Streifen hinter sich ließ, wie die Lokomotive ihre Dampfwirbel. Es wollte nur aus der Entfernung seinen Anlauf nehmen und schoß plötzlich vom dunklen Horizont aus mit furchtbarer Schnelligkeit auf den „Abraham Lincoln“ los, hielt jedoch in einer Entfernung von zwanzig Fuß auf einmal an, verschwand, als wäre die Quelle der glänzenden Ausströmung mit einem Male versiegt! Darauf kam es auf der andern Seite des Schiffes wieder zum Vorschein, sei es, daß es um dasselbe herum oder darunter schwamm. Jeden Augenblick konnte ein Zusammenstoß erfolgen, der uns vernichtet hätte.

Ich wunderte mich allgemach über die Manöver der Fregatte. Sie floh, griff nicht an. Sie wurde verfolgt, statt zu verfolgen, und ich sagte dem Kommandanten meine Meinung. Seine sonst so festen Züge zeigten eine unbeschreibliche Bestürzung.

„Herr Arronax“, erklärte er mir, „ich weiß nicht, mit welch furchtbarem Geschöpf ich es zu tun habe, und ich will nicht unvorsichtig in dieser Dunkelheit meine Fregatte aufs Spiel setzen. Wie soll man auch nur das Unbekannte angreifen, wie sich verteidigen. Warten wir den Tag ab, dann wollen wir die Rollen wechseln!“

„Sie haben, Kommandant, über die Natur des Tieres keinen Zweifel mehr?“

„Nein, mein Herr, es ist offenbar ein Riesen-Narwal, und dazu ein elektrischer.“

„Vielleicht kann man ihm ebensowenig nahekommen wie einem Zitterfisch!“

„Ja, und wenn das Tier die Kraft eines Blitzschlages besitzt, so ist es das Fürchterlichste, das jemals aus des Schöpfers Hand gekommen ist. Deshalb, mein Herr, werde ich vorsichtig sein.“

Die Nacht über blieb die ganze Bemannung auf den Beinen, an Schlaf konnte niemand denken. Da der „Abraham Lincoln“ sich an Schnelligkeit nicht mit dem Gegner messen konnte, so hielt er sich bei schwachem Dampf und fuhr langsam weiter. Der Narwal dagegen machte es der Fregatte nach, ließ sich auf den Wellen wiegen und schien entschlossen, den Schauplatz des Kampfes nicht zu verlassen.

Um Mitternacht aber verschwand er; oder besser gesagt, er „erlosch“ wie ein gewaltiger Leuchtturm. War er geflohen? Sieben Minuten vor ein Uhr morgens aber vernahm man ein betäubendes Zischen, als ob ein Wasserstrahl mit äußerster Heftigkeit emporgeschleudert würde.

Der Kommandant, Ned-Land und ich befanden uns gerade auf dem Vorderdeck und schauten starr durch das tiefe Dunkel.

„Ned-Land“, fragte der Kommandant, „Sie haben oft das Zischen der Walfische gehört?!“

„Jawohl, Kapitän! Aber noch niemals von solchen Walfischen wie dem da, der mir zweitausend Dollars verschafft hat.“

„Richtig, Sie haben ja ein Recht auf den Preis. Aber sagen Sie mir, ist denn dieses Getöse nicht das gleiche wie das der Walfische, wenn sie Wasser aus ihren Luftlöchern ausstoßen?“

„Ganz dasselbe, aber unvergleichlich stärker. Ein Irrtum ist gar nicht möglich. Das Tier gehört zum Walfischgeschlecht. Wollen morgen bei Tagesanbruch zwei Wörtel mit ihm reden!“

„Wenn es Lust hat, Sie zu hören“, meinte ich nicht ohne Ironie.

„Kann ich ihm nur auf vier Harpunenlängen nahe kommen“, der Kanadier war schlagfertig, „so wird es mich wohl anhören müssen.“

„Werd’ Ihnen ein Walfischboot zur Verfügung stellen!“ meinte der Kommandant. „Das heißt aber auch, das Leben meiner Leute aufs Spiel setzen!“

„Und auch das meinige!“ entgegnete einfach der Harpunier. Da waren wir wieder still.

Gegen zwei Uhr morgens zeigte sich die leuchtende Stelle wieder fünf Meilen vom „Abraham Lincoln“. Trotz der Entfernung, trotz des Brausens des Meeres und Windes hörte man deutlich die schweren Schwanzschläge des Tieres und sogar sein keuchendes Atmen.

‚Na’, dachte ich, ‚ein Walfisch von der Kraft eines Kavallerieregiments, ein hübsches Tier!’

Man war zum Kampf gerüstet. Das Gerät zum Fischen lag bereit. Es wurden die kleinen Harpunenstücke geladen, auch die langen Büchsen mit Explodierenden Kugeln, die selbst den stärksten Tieren tödliche Wunden beibringen. Ned-Land hatte seine Harpune, eine fürchterliche Waffe, in der Hand.

Um sechs Uhr begann der Tag zu grauen; mit dem ersten Schimmer der Morgenröte verschwand der Glanz des Narwals. Um sieben Uhr war es völlig Tag geworden, aber ein dichter Morgennebel fiel ein und beschränkte die Sicht. Zorn und Enttäuschung machten sich breit.

Ich kletterte auf die Stangen des Hintermastes. Einige Offiziere saßen schon oben auf den Masten.

Um acht Uhr stieg der Nebel allmählich auf. Der Blick wurde wieder frei und rein.

Plötzlich ließ Ned-Land sich wieder vernehmen:

„Der fragliche Gegenstand hinten links!“

Die Blicke aller richteten sich dahin.

Eine und eine halbe Meile entfernt sah man einen langen, schwärzlichen Körper einen Meter über den Wellen emportauchen. Sein Schwanz erregte mit gewaltigen Schlägen einen ungeheuren Wirbel. Blendend weißes, unendlich ausgedehntes Kielwasser bezeichnete in langer Kurve die Bahn des Tieres.

Die Fregatte kam näher, und ich konnte es genau beobachten. Die Berichte des „Shannon“ und der „Helvetia“ hatten seine Größe übertrieben, ich schätzte seine Länge auf höchstens zweihundertundfünfzig Fuß. Seine Dicke zu schätzen war schwierig, aber im ganzen schien mir das Tier in den drei Dimensionen wohlproportioniert.

Während ich das phänomenale Geschöpf beobachtete, schleuderte es aus seinen zwei Luftlöchern Strahlen von Dampf und Wasser, die gegen vierzig Meter hoch stiegen. Daraus konnte ich über die Art seines Atmens mir eine bestimmte Meinung machen. Es mußte zu den Wirbeltieren gehören, der Klasse der Säugetiere, Gruppe der fischförmigen, Ordnung der walfischartigen. Über die Familie war ich mir noch nicht klar. Das Weitere hoffte ich mit Gottes und des Kommandanten Hilfe bald bestimmen zu können.

Die Mannschaft harrte mit Ungeduld der Befehle ihres Kommandanten, der, als er das Tier genau besehen, den Ingenieur rufen ließ.

„Heizen Sie stärker, bis zu voller Dampfkraft“, befahl er ihm.

Dreimaliges Hurra erschallte. Die Stunde des Kampfes hatte geschlagen. Nach wenigen Augenblicken entströmten schwarze Dampfwolken dem Rauchfang der Fregatte, und das Verdeck zitterte unter den Schauern der Kessel.

Der „Abraham Lincoln“, von seiner gewaltigen Schraube getrieben, fuhr schnurgerade auf das Tier los, das ihn bis auf halbe Kabellänge gleichgültig an sich herankommen ließ. Da machte es eine Wendung zur Flucht, blieb aber in der gleichen Entfernung.

Diese Verfolgung dauerte etwa dreiviertel Stunden, ohne daß die Fregatte dem Tier auch nur zwei Klafter abgewann. Es war klar, daß man so es nie erreichen würde.

Kommandant Farragut war wütend.

„Ned-Land!“ Er schrie wild den Namen des Harpuniers.

Der Kanadier kam.

„Na, Meister Land? Werden Sie mir jetzt noch raten, meine Boote ins Meer zu lassen?“

„Nein, Kapitän, denn dieses Tier läßt sich so nicht fangen.“

„Was soll man also tun?“

„Womöglich die Dampfkraft steigern! Mit Ihrer Erlaubnis will ich mich auf den Wassersteg verfügen und, sobald wir auf Harpunenlänge kommen, harpunieren!“

„Tun Sie das, Ned“, stimmte der Kommandant zu und gab Befehl: „Volldampf“.

Ned-Land begab sich auf seinen Posten. Die Schraube drehte sich auf höchsten Touren, und der Dampf strömte aus den Klappen. Man fuhr mit äußerster Kraft.

Aber das verdammte Tier schwamm mit gleicher Geschwindigkeit.

Noch eine Stunde lang setzte die Fregatte dieses Manöver fort, ohne eine Klafter zu gewinnen! Ein stiller Zorn ergriff die Mannschaft; die Matrosen fluchten!

Der Ingenieur wurde abermals gerufen.

„Haben Sie den höchsten Grad des Dampfes?“ fragte der Kommandant.

„Ja“, erwiderte der Ingenieur.

„Noch stärker feuern!“

Der Ingenieur gehorchte. Aber das Ungeheuer „heizte“ ohne Zweifel auch, denn es holte ebenfalls auf.

Welch eine Verfolgung! Einige Male konnte man dem Tier nahekommen. Ich war ungemein erregt.

„Wir bekommen es! Wir bekommen es!“ rief der Kanadier. Sowie er aber die Harpune auf das Ungetüm schleudern wollte, entwischte es mit einer unvorstellbaren Schnelligkeit. Und selbst bei unserer höchsten Kraft schien es die Fregatte durch sein Spiel zu höhnen!

Um zwölf Uhr waren wir noch nicht weiter als um acht. Nun entschloß sich Kommandant Farragut zu drastischeren Mitteln.

„Zum Teufel! Das Tier ist schneller als der „Abraham Lincoln“! Nun, wir wollen sehen, ob es seinen Spitzkugeln sich auch entziehen wird. Bedienung! An das Geschütz vorne!“

Die Kanone des Vorderkastels wurde unverzüglich geladen und aufgeprotzt. Die Kugel wurde abgeschossen, sie fuhr aber einige Fuß über dem Tiere weg.

„Ein anderer, der es besser versteht!“ rief der Kommandant, „und fünfhundert Dollars dem, der die höllische Bestie trifft!“

Ein alter, graübärtiger Kanonier mit ruhigem Blick und kalten Gesichtszügen trat hinzu, richtete und visierte lange. Ein Schuß krachte, und die Mannschaft jubelte Hurra.

Die Kugel traf, aber nicht regelrecht; sie glitt an der runden Fläche ab und fuhr ins Meer.

„Teufel!“ schrie der Kanonier erbost, „der Kerl ist sechs Zoll dick gepanzert!“

„Verdammt!“

Die Jagd ging von neuem an, und der Kommandant sprach zu mir:

„Ich gebe nicht auf und sollte die Maschine zum Teufel gehen!“

„Ja“, erwiderte ich, „Sie haben recht!“

Man mochte hoffen, das Tier werde ermüden; aber es verflossen Stunden ohne ein Anzeichen von Ermüdung.

Übrigens muß man anerkennen, daß der „Abraham Lincoln“ mit unermüdlicher Ausdauer kämpfte. Aber es kam die Nacht und hüllte das unruhige Meer in Dunkel.

So glaubte ich denn schon, unsere Expedition wäre zu Ende, und wir bekämen das Tier nicht mehr zu Gesicht. Ich irrte. Um zehn Uhr fünfzig Minuten kam die elektrische, helle Stelle wieder zum Vorschein, drei Meilen von der Fregatte, so rein und stark wie in der vorigen Nacht.

Der Narwal schien unbeweglich. Vielleicht schlief er vor Ermüdung und wiegte sich in dien Wogen? Das wollte der Kommandant benutzen.

Er erteilte seine Befehle. Der „Abraham Lincoln“ fuhr mit schwachem Dampf vorsichtig, um seinen Gegner nicht zu wecken. Man trifft nicht selten die Walfische auf offener See in tiefem Schlaf und greift sie dann mit Vorteil an. Ned-Land hatte manche während des Schlafes harpuniert. Der Kanadier begab sich wieder auf seinen Posten am Bugspriet.

Die Fregatte näherte sich geräuschlos, hielt zwei Kabellängen weit von dem Tier an. Man hörte an Bord keinen Atemzug, tiefes Schweigen herrschte auf dem Verdeck. Wir befanden uns keine hundert Fuß von dem glühenden Brennpunkt, dessen Glanz zunahm und die Augen blendete.

In dem Augenblick sah ich am Geländer des Vorderkastells Ned-Land über mir, wie er mit starker Hand die fürchterliche Harpune schwang. Kaum zwanzig Fuß von dem Tiere entfernt, schleuderte er mit kräftigem Arm seine Waffe; ich hörte laut das Anprallen derselben, als habe sie einen harten Körper getroffen.

Die elektrische Helle erlosch plötzlich, und zwei enorme Wasserstrudel entluden, gleich einem reißenden Strom, sich auf das Verdeck der Fregatte, warf die Mannschaft zu Boden, zerriß die Bindseile.

Ein furchtbarer Stoß schleuderte mich über die Sente ins Meer.

Ich wurde sofort etwa zwanzig Fuß in das Meer gerissen. Als guter Schwimmer verlor ich bei dem Untertauchen nicht den Kopf. Zwei kräftige Stöße mit den Fersen brachten mich wieder an die Oberfläche.

Sofort suchte ich die Fregatte. Hatte die Mannschaft mein Verschwinden gemerkt? Hatte der „Abraham Lincoln“ sich gedreht? Hatte der Kommandant Farragut ein Boot ins Meer gelassen? Durfte ich auf Rettung hoffen?

Tiefes Dunkel ringsum. Ich sah im Osten eine schwarze Masse verschwinden, deren leuchtende Feuer in der Ferne verloschen. Es war die Fregatte. Jetzt hielt ich mich für verloren.

„Zu Hilfe! Hilfe!“ schrie ich. Ich vermochte kaum mehr eine Bewegung zu machen.

Meine Kleider hinderten mich. Sie klebten im Wasser an meinem Leibe. Ich sank unter! Die Luft ging mir aus . . .!

„Zu Hilfe!“ Nun kam das Ende.

Mein Mund schluckte Wasser! . . . Wasser. In den Abgrund versinkend zappelte ich . . . Plötzlich wurden meine Kleider von kräftiger Hand gefaßt, ich fühlte mich ungestüm an die Oberfläche des Meeres emporgezogen, und ich hörte, ja, ich hörte diese Worte mir ins Ohr geschrien:

„Wenn mein Herr die große Güte haben will, sich auf meine Schultern zu stützen, wird er viel bequemer schwimmen.“

„Du!“ gurgelte ich, „du!“

„Ich“, Conseil sprach ruhig wie daheim, „und zu meines Herrn Befehl!“

„Der Stoß . . . hat dich . . . zugleich mit mir . . . ins Meer geschleudert . . .?“

„Keineswegs. Da ich in meines Herrn Dienst stehe, bin ich ihm nachgesprungen.“

Der Brave! Aber mein Hirn arbeitete fieberhaft.

„Und die Fregatte?“ fragte ich.

„Die Fregatte!“ Conseil legte sich wieder auf den Rücken, „ich glaube, mein Herr wird wohl tun, nicht allzuviel auf sie zu rechnen!“

„Weiter . . .!“

„Hörte ich die Leute noch am Steuer rufen: Schraube und Steuer zerbrochen . . .“

„Zerbrochen?“

„Ja, durch den Zahn des Ungeheuers. Schlimm für uns, ‚Lincoln’ ist nicht mehr imstande, zu steuern!“

„Dann sind wir verloren!“

„Vielleicht.“ Conseil war seelenruhig. „Doch wir haben noch einige Stunden vor uns, und in einigen Stunden kann man viel zustande bringen!“

Die unverwüstliche Kaltblütigkeit Conseils gab mir wieder Mut. Ich konnte wieder schwimmen; aber da meine Kleider mir anklebten wie ein bleierner Mantel, so konnte ich nur mit äußerster Mühe aushalten. Conseil bemerkte es.

„Erlaube mir, mein Herr, einen Schnitt zu machen.“

Und er steckte eine Messerklinge unter meine Kleider und zerschnitt sie in einem Zug von oben bis unten. Darauf riß er sie mir rasch vom Leibe, während ich für uns beide schwamm.

Ich leistete Conseil denselben Dienst, und wir schwammen nebeneinander weiter.

Jedoch war die Lage darum nicht minder bös. Vielleicht hatte man auf der Fregatte unser Verschwinden gar nicht bemerkt, oder sie konnten, weil ihr Steuer zerbrochen war, nicht unterm Wind zu uns zurückkommen. Man konnte also höchstens auf die Boote rechnen.

So mußten wir uns darauf einrichten, so lange wie möglich aushalten zu können. Während der eine mit gekreuzten Händen und gestreckten Beinen unbeweglich auf dem Rücken lag, schwamm der andere und bugsierte ihn gleichzeitig vorwärts. Nach zehn Minuten löste einer den anderen ab, um unsere Kräfte zu sparen und es einige Stunden, vielleicht bis zum Tagesanbruch, auszuhalten.

Schwache Aussicht auf Rettung! Aber wir hatten die Hoffnung und waren unser zwei. Wir mußten durchhalten!

Der Zusammenstoß der Fregatte mit dem Tier war etwa um elf Uhr abends erfolgt. Ich rechnete also, daß wir bis zum Sonnenaufgang acht Stunden zu schwimmen hätten, was mit äußerster Anstrengung durch gegenseitige Ablösung möglich war. Das Meer war ziemlich ruhig und machte uns wenig müde.

Gegen ein Uhr morgens fühlte ich mich äußerst erschöpft. Meine Glieder wurden unter heftigen Krämpfen steif. Conseil mußte mich stützen, unser Geschick lag allein in seiner Hand. Bald hörte ich den armen Burschen keuchen; er atmete kurz und beklommen. Ich sah ein, daß er nicht lange mehr aushalten konnte.

„Laß mich! Laß mich!“ bat ich ihn.

„Meinen Herrn im Stich lassen! Niemals!“ stieß er hervor. Da leuchtete der Mond ein wenig zwischen dem Gewölk hervor, und die Meeresoberfläche schimmerte in seinen Strahlen. Wieder kam Leben in uns. Ich konnte den Kopf aufrichten und umherblicken. Da, die Fregatte, etwa fünf Meilen von uns! Aber von Booten nichts! Ich wollte rufen. Aber meine geschwollenen Lippen vermochten es nicht. Ich hörte Conseil wiederholt um Hilfe rufen. Wir hielten ein wenig an und horchten. Da glaubte ich Antwort zu hören!

„Hast du gehört?“ stammelte ich.

„Ja! Ja!“

Und Conseil stieß wieder verzweifelte Hilferufe aus. Es war nicht zu zweifeln, eine Menschenstimme antwortete uns!

Conseil nahm seine äußersten Kräfte zusammen, um, auf meine Schulter gestützt, sich halb aufzurichten und umherzuschauen; dann sank er erschöpft zurück.

„Was hast du gesehen?“

„Ich habe gesehen . . .“ stammelte er, „ich habe gesehen . . . reden wir nicht . . . reden wir nicht . . . nehmen wir alle Kraft zusammen . . .!“ Ich war zu erschöpft, um zu fragen. Außerdem bugsierte Conseil mich fortwährend. Manchmal hob er den Kopf empor, blickte vor sich, rief wieder, und eine andere Stimme ließ sich immer näher vernehmen. Kaum vermochte ich es noch zu hören, meine Kräfte gingen zu Ende; meine Finger spreizten sich; meine Hand versagte mir die Stütze; mein krampfhaft geöffneter Mund füllte sich mit Wasser; ich erstarrte vor Kälte. Zum letzten Mal hob ich den Kopf empor, dann versank ich . . .

Im selben Augenblick stieß ein Körper gegen mich; ich klammerte mich an. Ich fühlte, daß man mich an die Oberfläche zog, daß meine Brust wieder aufatmete, dann wurde es Nacht um mich . . .

Gewiß bin ich durch das kräftige Reiben, womit man mich bearbeitete, bald wieder zu mir gekommen. Ich schlug ein wenig die Augen auf . . .

„Conseil!“ stammelte ich.

„Mein Herr hat mich gerufen?“ Conseil war schon zur Stelle.

Da erkannte ich im Dämmer eine Gestalt.

„Ned!“ rief ich.

„In eigener Person, mein Herr, um mir meine Prämie zu holen!“ erwiderte der Kanadier.

„Auch von dem Stoß ins Meer geschleudert . . .?“ Ich rang nach Worten.

„Ja, Herr Professor, aber ich war besser daran als Sie, da ich sogleich auf einem schwimmenden Inselchen festen Fuß fassen konnte.“

„Inselchen?“

„Ja, oder besser, auf unserem Riesen-Narwal.“

„Erklären . . . bitte . . . Ned.“

„Klar, warum meine Harpune nicht eindringen konnte und stumpf geworden ist.“

„Warum . . .?“ Ich hörte mich müde mit leiser Stimme fragen.

„Weil dieses Tier, Herr Professor, von Eisenblech gemacht ist!“

Ich mußte mich ein wenig sammeln und meine Erinnerungen beschwören. Ich wurde plötzlich munter.

Die letzten Worte des Kanadiers bewirkten in meinem Denken eine plötzliche Wandlung. Ich klomm rasch nach oben auf das Geschöpf oder den Gegenstand, der, halb unterm Wasser, uns als Zuflucht diente. Ich probierte mit dem Fuß. Offenbar war es ein harter, undurchdringlicher Körper, nicht der weiche Leib eines großen Seesäugetieres. Aber der harte Körper konnte auch eine knochenartige Schilddecke sein, wie bei den urweltlichen Tieren, und ich hätte jetzt das Ungeheuer unter die Reptilamphibien zu zählen, wie die Schildkröten und Alligatoren. Alles das schoß mir durch den Kopf.

Nein! Der schwärzliche Rücken, auf dem ich mich befand, war glatt poliert, nicht schuppig. Er ließ, wenn man ihn anklopfte, einen Metallton hören, und so unglaublich es auch war, er schien aus eingebolzten Platten gemacht.

Ein Zweifel war nicht mehr möglich. Das Tier, das Ungeheuer, das Naturphänomen, das die ganze gelehrte Welt, die Einbildungskraft der Seeleute verrückt und irre geleitet hatte, war — — mochte man es auch wider Willen anerkennen — ein noch erstaunlicheres Wunder, ein Phänomen von Menschenhand.

„Aber dann mußte dieses Fahrzeug doch eine Maschine und eine Mannschaft haben.“ Ich war noch völlig verwirrt.

„Offenbar“, gab der Harpunier zu, „dennoch hat diese schwimmende Insel seit den drei Stunden, die ich sie bewohne, noch kein Lebenszeichen von sich gegeben.“

„Das Fahrzeug ist nicht gefahren?“

„Nein, Herr Arronax. Es läßt sich von den Wellen schaukeln, ohne sich selbst zu bewegen.“

„Aber wir wissen doch, daß es eine große Geschwindigkeit hat. Da es dazu nun eine Maschine haben muß und einen Maschinisten, der sie bedient, so schließe ich daraus . . ., daß wir gerettet sind.“

„Hm!“ Ned-Land schien nicht ganz überzeugt.

Im selben Augenblick, wie zum Beweis meiner Folgerung, entstand am hinteren Teil dieses seltsamen Fahrapparates ein Brausen, offenbar von einer Schraube, und los ging es. Wir hatten nur noch Zeit, uns an seinem oberen Teil, der etwa achtzig Zentimeter über das Wasser emporragte, fest anzuklammern. Zum Glück war seine Geschwindigkeit nicht übermäßig.

„So lange als es sich horizontal bewegt“, brummte Ned-Land, „habe ich nichts dagegen zu sagen. Aber wenn es ihm einfällt, unterzutauchen, gebe ich keine zwei Dollars für mein Leben!“

Es wurde also höchste Zeit, sich mit den Lebewesen im Innern dieser Maschine in Verbindung zu setzen. Ich suchte nach einer Öffnung, einer Luke; aber die aneinanderstoßenden Platten waren festgefügt und wie aus einem Stück.

Zu alledem ging der Mond eben unter und ließ uns in tiefem Dunkel. Wir mußten den Tag abwarten, um Mittel, ins Innere des Fahrzeuges zu dringen, ausfindig zu machen.

Also hing unsere Rettung einzig vom Belieben der geheimnisvollen Leiter dieses Fahrzeuges ab, und wir waren, wenn sie untertauchten, verloren! Sonst aber zweifelte ich nicht an der Möglichkeit, mit ihnen in Verbindung zu treten. Wenn sie sich ihre Luft nicht selbst bereiteten, so mußten sie von Zeit zu Zeit an die Oberfläche des Meeres heraufkommen, um ihren Vorrat an Luft zu erneuern. Darum mußte es eine Öffnung geben, die das Innere des Fahrzeuges mit der Atmosphäre verband.

Die Hoffnung auf Rettung durch den Kommandanten Farragut mußte man völlig aufgeben. Wir waren mit geringer Geschwindigkeit westwärts getrieben. Die Schraube schlug die Wellen mit mathematischer Regelmäßigkeit und tauchte von Zeit zu Zeit auf, um ihr phosphoreszierendes Wasser hoch emporzuspritzen.

Gegen vier Uhr morgens nahm die Schnelligkeit des Fahrzeuges zu. Wir konnten uns bei dem vollen Wellenschlag kaum gegen ein Weggespültwerden schützen. Zum Glück fand Ned einen auf dem Rücken der Platte eingelassenen Ring, an den wir uns festklammern konnten.

Aber auch die böse, lange Nacht ging vorüber. Ich kann mich nicht aller einzelnen Eindrücke entsinnen. Nur einEreignis tritt mir klar hervor. Wenn mitunter Meer und Wind ruhig waren, glaubte ich unbestimmte Töne, eine flüchtige Harmonie ferner Akkorde zu hören. Was für Geschöpfe lebten in diesem seltsamen Fahrzeug? Welche mechanische Kraft bewirkte seine wunderbare Schnelligkeit?

Der Tag erschien, und der Morgennebel umhüllte uns! Er zerteilte sich bald. Ich wollte gerade unsere Plattform untersuchen, als ich fühlte, wie diese sich allmählich senkte.

„He! Tausend Teufel!“ schrie Ned-Land und trat mit dem Fuß gegen die hallende Platte, „so öffnet doch, ungastliche Leute!“

Aber wie sollte man sich bei den betäubenden Schlägen der Schraube vernehmbar machen? Zum Glück hielt die Bewegung inne. Man vernahm im Ihneren des Fahrzeuges ein Rasseln heftig gerüttelten Eisenwerkes.

Eine Platte öffnete sich; ein Mann kam zum Vorschein, stieß einen sonderbaren Schrei aus und verschwand sofort wieder.

Einige Augenblicke darauf erschienen schweigend acht starke Burschen mit maskiertem Gesicht und zogen uns in ihre fürchterliche Maschine hinein.

20.000 Meilen unterm Meer

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