Читать книгу 20.000 Meilen unterm Meer - Jules Verne, Jules Verne - Страница 6
Drittes Kapitel
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Diese brutale Entführung wurde mit Blitzesschnelle ausgeführt. Ich weiß nicht, welchen Eindruck die Entführung in den schwimmenden Kerker auf meine Genossen machte; ich jedenfalls fühlte einen eiskalten Schauer meinen Körper überrieseln. Mit wem hatten wir es zu tun? Offenbar mit einer neuen Art von Piraten, die auf ihre Weise Beute machten.
Sowie sich die enge Platte über mir wieder geschlossen hatte, war ich von tiefstem Dunkel umgeben. Meine an das Licht gewöhnten Augen konnten gar nichts wahrnehmen. Ich fühlte mit meinen nackten Füßen die Sprossen einer eisernen Leiter, woran ich mich klammerte. Ned-Land und Conseil wurden hinter mir hergeschleppt. Unten an der Leiter öffnete sich eine Tür und schloß sich rasselnd sogleich wieder.
Wir befanden uns allein. Tiefstes Dunkel umgab uns.
Ned-Land, wütend über diese Behandlung, machte nun seiner Entrüstung Luft.
„Tausend Teufel! Das sind gastliche Leute! Es fehlt nur noch, daß sie uns auffressen. Das würde mich nicht wundern, aber ich erkläre, sie würden mich nicht fressen, ohne daß ich protestiere!“
„Beruhigen Sie sich, Freund Ned“, meinte Conseil gelassen. „Wir sind noch nicht am Bratspieß!“
„Am Bratspieß zwar nicht“, versetzte der Kanadier, „aber im Bratofen sicherlich! Es ist stockfinster hier. Zum Glück habe ich mein Bowie-Messer bei mir. Der erste dieser Banditen, der Hand an mich legt . . .“
„Bringen Sie uns nicht durch unnütze Gewaltsamkeit in Gefahr. Wer weiß, ob man uns nicht Gehör gibt! Versuchen wir lieber erst festzustellen, wo wir sind!“
Ich ging umher und tastete. Fünf Schritte weit stieß ich auf eine eiserne Wand. Darauf wendete ich mich um und stieß gegen einen hölzernen Tisch, neben dem einige Schemel standen. Der Fußboden war mit einer dichten Matte aus neuseeländischem Flachs belegt, so daß man die Tritte nicht hörte. Conseil, der in die entgegengesetzte Richtung gegangen war, stieß in der Mitte der Kabine, die zwanzig Fuß lang und zehn breit war, mit mir zusammen. Die Höhe konnte Ned-Land, trotz seiner Größe, nicht messen.
Eine halbe Stunde verlief so, ohne daß unsere Lage sich änderte. Da plötzlich verwandelte sich das dichteste Dunkel in grellstes Licht. Der Glanz war anfangs unerträglich. Ich schloß unwillkürlich die Augen; als ich sie wieder öffnete, sah ich, daß die leuchtende Kraft aus einer geglätteten Halbkugel oben an der Decke der Kabine kam.
„Endlich! Nun ist’s hell!“ rief Ned-Land und setzte sich mit dem Messer in der Hand in Verteidigungsstellung.
„Aber unsere Lage ist ebenso dunkel geblieben wie vorher“, meinte ich.
Da rasselten die Riegel, die Tür öffnete sich, zwei Männer traten ein.
Der eine war klein, kräftig, breitschultrig, hatte einen dicken Kopf mit reichlichem schwarzen Haar, dichtem Schnurrbart, lebhaftem durchdringenden Blick, und seine ganze Persönlichkeit war von der südlichen Lebhaftigkeit eines Provencalen. Er sprach in meiner Gegenwart stets einen sonderbaren, durchaus unverständlichen Dialekt.
Der zweite hatte ungemein markante Züge, so daß ein Physiognom darin wie in einem offenen Buche lesen konnte. Selbstvertrauen und kalte Sicherheit strahlten aus den schwarzen Augen! Gelassenheit, ruhiges Blut, Energie und Mut. Der Mann war stolz, sein fester und ruhiger Blick schien hohe Gedanken zu bergen, und aus allem sprach unbestreitbar eine offene Seele.
Unwillkürlich fühlte ich mich in seiner Gegenwart beruhigt.
Freilich, ob dieser Mann fünfundreißig oder fünfzig Jahre alt war, hätte ich nicht angeben können. Er war von hoher Statur, hatte eine weite Stirn und gerade Nase, einen klar gezeichneten Mund, prachtvolle Zähne und feine Hände. Dieser Mann stellte unstreitig einen bewundernswerten Typus dar, wie ich ihn sonst nirgends getroffen habe. Seine Augen faszinierten! Welcher Blick! Wie drang er tief in die Seele.
Die beiden Unbekannten trugen Mützen aus Seeotterfell, Seestiefel aus Robbenfell und Kleider aus einem besonderen Gewebe, die große Freiheit der Bewegungen gestatteten.
Der größere der beiden, offenbar der Anführer der Leute an Bord, prüfte uns mit größter Aufmerksamkeit, ohne ein Wort zu reden. Darauf besprach er sich mit seinem Gefährten in einer Sprache, die mir nicht bekannt war. Es war ein volltönender, harmonischer, biegsamer Dialekt.
Der andere schüttelte den Kopf und fügte einige völlig unverständliche Worte bei. Darauf schien sein Blick mich direkt zu fragen.
Ich erwiderte in gutem Französisch, daß ich seine Frage nicht verstünde; er schien mich auch nicht zu verstehen, und so gerieten wir in einige Verlegenheit.
„Mein Herr möge immer unsere Geschichte erzählen“, sagte Conseil. „Diese Herren werden vielleicht einige Worte davon begreifen!“
Ich erzählte also unsere Erlebnisse, artikulierte klar alle Silben und überging dabei nicht das Geringste. Ich nannte unsere Namen und stellte in aller Förmlichkeit die Personen vor, den Professor Arronax, seinen Diener Conseil und den Harpunier, Meister Ned-Land.
Der Mann mit den sanften und ruhigen Augen hörte mir höflich und sehr aufmerksam zu. Aber in seinen Zügen konnte man nicht erkennen, daß er meine Geschichte verstanden habe. Als ich fertig war, sprach er kein einziges Wort. Es stand uns noch das Englische, als Weltsprache, zur Verfügung. Ich kannte die Sprache, ebenso wie das Deutsche, hinlänglich, um fließend darin zu lesen, verstand sie aber nicht korrekt zu sprechen. Jetzt aber galt es, sich verständlich zu machen.
„Nun“, forderte ich unseren Harpunier auf, „nun kommt an Sie die Reihe. Ziehen Sie, Meister Land, das beste Englisch, das je ein Angelsachse sprach, aus Ihrer Tasche, und bemühen Sie sich, glücklicher als ich zu sein.“
Ned ließ sich nicht lange bitten und wiederholte meine Schilderung; er sprach mit großer Lebendigkeit. Er beschwerte sich heftig, daß man ihn wider das Völkerrecht gefangen halte, fragte, welches Gesetz dieses gestatte, berief sich auf die Habeas-Corpus-Akte, drohte mit gerichtlicher Verfolgung, schrie und gab schließlich in ausdrucksvoller Weise zu erkennen, daß wir Hungers sterben würden.
Das entsprach zwar der Wahrheit, aber wir hatten es fast vergessen.
Der Harpunier wurde aber zu seinem bassen Erstaunen nicht besser verstanden als ich.
Da unsere Sprachkenntnisse erschöpft waren, war die Verlegenheit groß. Was nunmehr anfangen? Conseil suchte noch einen Ausweg:
„Wenn mein Herr zufrieden ist, will ich die Sache deutsch erzählen.“
„Wie? Du verstehst Deutsch?“ rief ich.
„Wie ein Flamländer, wenn Sie erlauben.“
„Ausgezeichnet! Fange nur schon an.“
Und Conseil erzählte in seiner ruhigen Weise unsere Geschichte zum dritten Mal. Aber auch das Deutsche half nichts.
Und so nahm ich alle Reste meiner Jugendstudien zusammen und begann auf Lateinisch unsere Abenteuer zu erzählen. Cicero würde mich zwar damit in die Küche geschickt haben, doch brachte ich es mit viel Schweiß fertig. Es war ebenso fruchtlos.
Als auch dieser letzte Versuch gescheitert war, wechselten die beiden Unbekannten einige Worte in ihrer Sprache und zogen sich ohne irgendein Wort der Beruhigung zurück. Die Tür schloß sich hinter ihnen.
„Infam!“ schrie Ned-Land in zorniger Entrüstung. Da spricht man zu den Schuften französisch, deutsch, englisch, lateinisch, und keiner ist so höflich zu antworten!“
Wie er dies sprach, öffnete sich die Tür. Ein Steward trat ein und brachte uns Meerkleidung, Hosen und Weste, aus einem mir unbekannten Stoff. Ich zog sie augenblicklich an, und meine Gefährten folgten meinem Beispiel. Unterdessen hatte der Steward — stumm, vielleicht auch taub — den Tisch gedeckt und drei Gedecke aufgesetzt.
„Das hat doch etwas Gutes zu bedeuten“, lächelte Conseil.
„Bah!“ der Harpunier steckte noch tief in seinem Ärger, „was meinen Sie denn, was man hier speist? He? Schildkrötenleber. Lendenstück vom Hai, Beefsteak vom Seehund!“
„Nun, wir werden sehen“, sagte Conseil.
Die Gerichte, mit silbernen Glocken bedeckt, wurden symmetrisch auf das Gedeck gestellt, und wir setzten uns zu Tisch. Gewiß hatten wir es mit Leuten von Bildung zu tun, und fast hätte man glauben können, im Speisesaal des Hotel Adelphi zu Liverpool oder des Grand-Hotel zu Paris zu sein. Freilich, Brot und Wein mangelten gänzlich. Das Wasser war frisch und klar, aber es war Wasser —, was Ned-Land nicht behagte. Unter den Speisen, die uns vorgesetzt wurden, waren einige köstlich zubereitete Fische; aber von einigen Speisen, die übrigens vortrefflich waren, konnte ich nicht einmal sagen, ob sie dem Pflanzen- oder Tierreich entstammten. Das Tafelgerät war elegant und geschmackvoll. Jeder Gegenstand, Löffel, Gabel, Messer, Teller, hatten die gleiche Devise als Aufschrift:
MOBILES IN MOBILE
N
Beweglich im beweglichen Element! Diese Devise paßte genau auf das unterseeische Fahrzeug. Das N war ohne Zweifel der Anfangsbuchstabe des rätselhaften Mannes, der im Meeresgrund herrschte!
Ned und Conseil überlegten nicht soviel. Sie widmeten sich den Gerichten, und ich folgte bald ihrem Beispiel. Ich war schon sehr über unser Schicksal beruhigt, und es schien, daß unsere Wirte uns nicht Hungers sterben lassen wollten.
Aber es nimmt alles ein Ende auf Erden, selbst der Hunger von Leuten, die seit vierzehn Stunden nichts gegessen haben. Als unser Appetit befriedigt war, machte sich das Bedürfnis nach Schlaf gebieterisch geltend. Eine natürliche Reaktion auf die unendlich lange Nacht, die wir mit dem Tode zu ringen hatten.
„Meiner Seel, ich möchte gerne schlafen“, sagte Conseil.
„Und ich schlafe schon!“ grunzte Ned-Land.
Meine beiden Gefährten streckten sich auf die Matte der Kabine und sanken bald in tiefen Schlummer.
Ich aber vermochte nicht so leicht Schlaf zu finden. Zu viele Gedanken wirbelten in meinem Kopf, zu viele unlösbare Fragen drängten sich. Wo befanden wir uns? Welche seltsame Macht hatte uns gefangen? Ich fühlte — oder vielmehr glaubte es — wie das Fahrzeug zum tiefsten Meeresgrund hinabsank. Es befiel mich eine arge Beklemmung. Endlich ward mein Gehirn ruhig, meine Gedanken gingen über in Schlaftrunkenheit, ich versank in einen düsteren, aber tiefen Schlaf.
Wie lange dieser Schlaf gedauert haben mochte? Zweifellos recht lange, da er uns von unseren Strapazen völlig wiederherstellte. Ich wachte zuerst auf. Meine Gefährten rührten sich noch nicht und lagen wie Säcke regungslos da.
Voller Freude fühlte ich meinen Kopf frei, meinen Geist klar. Ich besah mir unsere Zelle . . .
Und doch hatte sich nichts geändert. Der Kerker war noch Kerker und die Gefangenen noch in Haft. Der Steward hatte nur während unseres Schlafes die Tafel abgedeckt. Eine baldige Änderung unserer Lage war durch nichts angezeigt, und ich fragte mich ernstlich, ob es unser Los sein werde, ewig in diesem Käfig zu leben.
Ned und Conseil erwachten. Sie rieben sich die Augen, streckten die Arme und waren in einem Augenblick auf den Beinen.
„Mein Herr hat gut geschlafen?“ fragte mich Conseil mit gewohnter Höflichkeit.
„Sehr gut, mein Lieber. Und Sie, Meister Ned-Land?“
„Tief, Herr Professor.“ Und er begann zu schnuppern. „Irre ich nicht, so atme ich Seeluft. Na, da hätten wir die Erklärung für das zischende Brausen, das wir hörten, als der vermeintliche Narwal dem ‚Abraham Lincoln’ in Sicht kam. Aber Herr Arronax, ich habe keine Ahnung, wieviel Uhr es ist, außer daß es höchste Zeit für ein Mittagessen wäre . . .“
„Mittagessen, Ned? Sagen Sie wenigstens Frühstück, denn wir haben offenbar den folgenden Tag von gestern.“
„Also haben wir volle vierundzwanzig Stunden geschlafen.“ Conseil war sachlich wie immer.
„Das glaube ich“, lachte ich.
Ned-Land geriet vor Hunger immer mehr in Zorn, und ich befürchtete trotz seines Versprechens eine Explosion, falls ihm ein Mann von den Leuten an Bord in den Wurf käme.
Noch zwei Stunden lang steigerte sich Ned-Lands Zorn. Der Kanadier rief, schrie, aber vergebens. Die blechernen Wände waren taub. Es war, als sei das Fahrzeug ausgestorben. Es lag unbeweglich, keine zitternde Bewegung der Schraube war zu spüren. Hatte man es in die Tiefe versenkt? Das düstere Schweigen um uns war erschreckend.
Da ließ sich von außen ein Geräusch vernehmen. Fußtritte hallten auf dem metallenen Boden. Die Riegel wurden weggeschoben, die Pforte öffnete sich, der Steward trat ein.
Bevor ich mich nur regen konnte, um ihn zurückzuhalten, war der Kanadier über den Unglücklichen hergefallen, hatte ihn zu Boden geworfen und faßte ihn bei der Kehle. Der Steward drohte zu ersticken.
Conseil war bereits bemüht, das halb erwürgte Opfer den Händen des Harpuniers zu entreißen, und ich war im Begriff, ihm dabei zu helfen, als mich plötzlich eine französische Anrede an meinen Platz bannte:
„Beruhigen Sie sich, Meister Land, und Sie, Herr Professor, wollen mich anhören!“
Es war der Kommandant an Bord, der dies sprach.
Ned-Land sprang auf. Der Steward verließ auf einen Wink seines Herrn wankend die Zelle; aber — so zauberhaft wirkte der Wink des Kommandanten — nicht eine Gebärde verriet den Groll, den dieser Mensch gegen den Kanadier tragen mußte. Schweigend harrten wir auf das Weitere.
Der Kommandant, an eine Ecke des Tisches gelehnt, die Arme gekreuzt, beobachtete uns mit gespannter Achtsamkeit. Man konnte meinen, er bereute die soeben gesprochenen Worte.
Nach einer kleinen Pause sprach er mit ruhigem, eindringlichem Ton in die bange Stille:
„Meine Herren, ich spreche Französisch, Englisch, Deutsch und Latein. Ich hätte Ihnen also gleich bei unserer ersten Zusammenkunft antworten können, aber ich wollte Sie erst kennenlernen. Ihr vierfacher, übereinstimmender Bericht hat mich auch über Ihre Persönlichkeit aufgeklärt. Ich weiß nun genau, wen der Zufall des Schicksals zu mir geführt hat.“ Und er nannte unsere Namen.
Ich verneigte mich stumm. Da mir keine Frage gestellt war, konnte ich nichts antworten.
Der Mann sprach leicht, ohne Pathos. Seine Sätze waren klar, seine Ausdrücke richtig. Und dennoch fühlte ich, daß er nicht mein Landsmann war.
Er fuhr folgendermaßen fort:
„Es ist Ihnen gewiß aufgefallen, daß ich so lange mit meinem zweiten Besuch gezögert habe. Allein ich wollte reiflich erwägen, welche Maßnahmen ich Ihnen gegenüber zu ergreifen hätte. Ich habe lange geschwankt. Sehr bedauerliche Umstände haben Sie in die Nähe eines Mannes gebracht, der mit der Menschheit gebrochen hat. Sie stören durch Ihre Anwesenheit meine Existenz . . .“
„Ohne es zu wollen“, warf ich ein.
„Ohne zu wollen?“ der Unbekannte hob seine Stimme. „Verfolgt mich der ‚Abraham Lincoln’ wider Willen auf allen Meeren? Haben Sie sich wider Willen an Bord dieser Fregatte eingefunden? Sind Ihre Kugeln wider Willen gegen mein Schiff abgeschossen worden? Hat mich Meister Ned-Land wider Willen mit seiner Harpune zu treffen versucht?“
Er sprach immer gereizter. Doch ich hatte auf alle diese Beschuldigungen eine ganz natürliche Antwort zu geben und gab sie.
„Mein Herr“, begann ich, „Sie wissen ohne Zweifel nicht, was in Amerika und Europa über Sie geredet worden ist. Sie wissen nicht, daß verschiedene Unfälle, die sich durch einen Stoß Ihres unterseeischen Fahrzeuges ereigneten, die öffentliche Meinung auf beiden Kontinenten außerordentlich aufgeregt haben. Ich verschone Sie mit den zahllosen Hypothesen, mit denen man die unerklärliche Erscheinung, deren Geheimnis einzig in Ihrer Hand lag, zu erklären suchte. Aber wissen Sie, daß wir bei der Verfolgung meinten, ein starkes Seeungeheuer zu jagen, von dem der Ozean um jeden Preis befreit werden müsse.“
Ein verhaltenes Lächeln auf den Lippen, fuhr der Kommandant in ruhigerem Tone fort:
„Herr Arronax, Sie werden wohl nicht zu behaupten wagen, daß Ihre Fregatte nicht ebenso ein unterseeisches Boot verfolgt und kanoniert hätte, wie ein Ungeheuer?“
Diese Frage brachte mich in Verlegenheit, denn gewiß hätte Kommandant Farragut nicht das leiseste Bedenken gehabt, es zu tun. Er hätte es geradezu für seine Pflicht gehalten, ein solches Fahrzeug ebenso wie einen Riesen-Narwal zu vernichten.
„Sie müssen also verstehen, daß ich Sie als Feinde zu behandeln durchaus berechtigt bin.“
Ich blieb die Antwort schuldig. Wozu? Wir befanden uns in der Gewalt dieses Mannes.
„Ich habe lange geschwankt“, fuhr er fort. „Ich hatte keine Verpflichtung, Sie gastlich aufzunehmen. Wenn ich mich von Ihnen trennen wollte, hätte ich kein Interesse daran gehabt, Sie wiederzusehen. Ich hätte Sie wieder auf die Plattform meines Schiffes bringen lassen können, auf die Sie sich geflüchtet hatten; ich wäre in die Tiefe getaucht und hätte Ihr Dasein vergessen. War ich nicht dazu berechtigt?“
„Ein Wilder vielleicht“, warf ich ein, „aber nicht ein zivilisierter Mensch.“
„Herr Professor“, seine Worte waren schärfer geworden, „ich gehöre nicht zu denen, die Sie zivilisiert nennen! Ich habe mit der ganzen menschlichen Gesellschaft gebrochen, aus Gründen, die ich allein zu beurteilen berechtigt bin. Ich befolge also auch nicht ihre Regeln und fordere Sie auf, sich bei mir nie auf diese zu berufen.“
Das sagte er klar und bestimmt. Zorn und Verachtung strahlten aus dem Auge des Unbekannten, und ich sah, daß das Leben dieses Mannes eine furchtbare Vergangenheit hatte. Er hatte sich außerhalb der menschlichen Gesetze gestellt und sich auch von diesen unabhängig gemacht.
Nach einer langen Pause ergriff der Kommandant wieder das Wort:
„Ich habe also geschwankt, aber ich habe gedacht, mein Interesse lasse sich mit dem natürlichen Mitgefühl vereinigen, auf das jedes menschliche Wesen Anspruch hat. Sie sollen an Bord meines Schiffes bleiben, weil das Schicksal Sie hierher verschlagen hat. Sie sollen frei sein, und zum Entgelt für diese Freiheit will ich Ihnen nur eine einzige Bedingung auferlegen. Ihr Wort, sie anzunehmen, genügt mir!“
„Sprechen Sie, ich hoffe, diese Bedingung kann ein Ehrenmann annehmen?“ versprach ich.
„Ja, und ich will Sie Ihnen gleich mitteilen. Es wäre möglich, daß gewisse unvorhergesehene Ereignisse mich nötigen, Sie auf Stunden oder Tage in Ihrer Kabine einzuschließen. Da ich niemals Gewalt anzuwenden wünsche, erwarte ich in diesem Fall, mehr wie in jedem andern, freiwilligen Gehorsam. So tragen Sie keine Verantwortlichkeit, sehen nichts, was nicht gesehen werden darf. Sind Sie mit dieser Bedingung einverstanden?“
Es gingen also an Bord des Fahrzeugs Dinge vor, die von Leuten, die nicht außerhalb der sozialen Gesetze standen, nicht gesehen werden durften!
„Wir nehmen sie an“, sprach ich für uns alle.
Dann fuhr er etwas sanfter fort:
„Jetzt erlauben Sie mir, Herr Arronax, Ihnen vollständig mitzuteilen, was ich zu sagen habe. Ich kenne Sie, Herr Arronax. Sie, wenn auch nicht Ihre Gefährten, werden sich vielleicht über das Schicksal, das Sie an mein Los fesselt, nicht so sehr zu beklagen haben. Sie finden unter den Büchern, die zu meiner Lieblingslektüre gehören, das Werk über die großen Tiefen des Meeres, welches Sie herausgegeben haben. Ich habe es öfters gelesen. Sie sind in diesem Werk so weit vorgedrungen, als es die Wissenschaft auf der Erde Ihnen möglich machte. Aber Sie wissen nicht alles, haben nicht alles gesehen. Lassen Sie mich Ihnen also sagen, Herr Professor, daß Sie die an meinem Bord verbrachte Zeit nicht bereuen werden. Sie sollen im Land der Wunder reisen. Staunende Bewunderung wird Ihre Seele erfüllen. Das ununterbrochen Ihren Augen dargebotene Schauspiel wird Sie nicht leicht abstumpfen. Ich will eine nochmalige unterseeische Reise um die Welt — wer weiß?, vielleicht die letzte —vornehmen, um meine Studien zu wiederholen, und Sie sollen mein Studiengenosse sein. Von diesem Tag an werden Sie sehen, was noch kein Mensch zu sehen vermochte — denn ich und die Meinigen zählen nicht mehr —, und unser Planet wird Ihnen durch meine Vermittlung seine letzten Geheimnisse mitteilen.“
Ich kann es nicht leugnen; diese Worte des Kommandanten machten einen tiefen Eindruck auf mich. Er hatte mich an meiner schwachen Seite gepackt, und ich vergaß auf einen Augenblick, daß die Anschauung dieser erhabenen Dinge die verlorene Freiheit nicht aufwiegen konnte. Allerdings rechnete ich auf die Zukunft, um diese wichtige Frage zu lösen.
„Noch eine Frage, die letzte“, sagte ich, als dieser unerklärliche Mensch Anstalten traf, sich zurückzuziehen.
„Reden Sie, Herr Professor.“
„Mit welchem Namen darf ich Sie nennen?“
„Mein Herr, ich bin für Sie nur der Kapitän Nemo, und Sie nebst Ihren Gefährten sind für mich nur die Passagiere des Nautilus.“
Der Kapitän Nemo rief. Ein Steward erschien. Der Kapitän erteilte ihm seine Befehle in der fremdartigen Sprache, die ich nicht erkennen konnte. Darauf wendete er sich zu dem Kanadier und Conseil mit den Worten:
„Ein Mahl wartet in Ihrer Kabine auf Sie. Folgen Sie gefälligst diesem Manne.“
„Das läßt man sich gerne gefallen!“ erwiderte der Harpunier.
Conseil verließ mit ihm endlich diese Zelle, worin sie seit länger als dreißig Stunden eingeschlossen waren.
„Und nun, Herr Arronax, unser Frühstück ist bereit. Erlauben Sie mir, daß ich vorausgehe.“
„Wie Sie befehlen, Kapitän.“
Ich folgte dem Kapitän Nemo, und sobald wir aus der Tür getreten waren, gingen wir durch einen elektrisch erleuchteten, etwa zehn Meter langen Gang, dann öffnete sich vor uns eine zweite Tür.
Wir traten nun in einen Speisesaal, der in strengem Stil möbliert und ausgeschmückt war. An seinen beiden Enden befanden sich hohe Anrichtetische aus Eichenholz mit eingelegten Verzierungen, und auf Fachbrettern prangten Fayence, Porzellan und Glasgefäße von unschätzbarem Wert. Das Silbergerät glänzte in den Strahlen, die von einer erleuchteten Decke herabfielen, deren Glanz durch feine Gemälde gemildert war.
In der Mitte des Saales stand ein reich besetzter Tisch. Der Kapitän Nemo wies mir meinen Platz an:
„Setzen Sie sich und essen Sie. Sie müssen ja einen furchtbaren Hunger haben.“
Das Frühstück bestand aus einer Anzahl Gerichte, die lediglich das Meer geliefert hatte, und einigen, deren Beschaffenheit ich nicht erkennen konnte. Ich gebe zu, daß es gut war, aber mit einem besonderen Beigeschmack, an den ich mich leicht gewöhnte. Diese verschiedenen Speisen schienen mir reich an Phosphor zu sein, und ich dachte mir, sie müßten aus dem Meere stammen.
Kapitän Nemo blickte mich an. Er erriet meine Gedanken:
„Die meisten dieser Gerichte sind Ihnen wohl unbekannt, doch können Sie sie ohne Besorgnis genießen. Sie sind gesund und nahrhaft. Auf Nahrungsmittel von der Erde habe ich lange verzichtet und befinde mich darum nicht übler. Meine kräftige Mannschaft genießt dieselbe Nahrung wie ich.“
„Sind diese Speisen alle Erzeugnisse des Meeres?“
„Ja, Herr Professor, das Meer befriedigt alle meine Bedürfnisse. Bald werfe ich meine Zugnetze aus und ziehe sie zum Bersten voll wieder herein. Bald gehe ich mitten in diesem Element, das dem Menschen unzugänglich zu sein scheint, auf die Jagd und erlege Wild in meinen unterseeischen Waldungen. Meine Herden weiden, gleich denen des alten Hirten Neptun, ohne Furcht auf dem unermeßlichen Wiesenland des Ozeans. Ich habe da ein ungeheures Besitztum, das ich selbst nutzbar mache und das von der Hand des Schöpfers aller Dinge stets eingesät wird.“
Ich blickte den Kapitän Nemo mit einigem Erstaunen an.
„Ich begreife wohl, Kapitän, daß Ihre Netze Ihnen vortreffliche Fische für die Tafel liefern; aber nicht, daß Sie Wasserwild in Ihren unterseeischen Wäldern jagen; unbegreiflich, daß auch nur das kleinste Stück Fleisch unter Ihren Gerichten ist.“
„Ich habe auch niemals Fleisch von Landtieren auf dem Tisch.“
„Und das hier?“ Ich wies auf einen Teller, auf dem noch einige Filets lagen.
„Was Sie für Fleisch halten, Herr Professor, ist nichts anderes als Meerschildkröte. Ebenso ist diese Leber vom Delphin, die Sie für Schweineragout nehmen würden. Mein Koch versteht sich vortrefflich darauf, diese verschiedenen Produkte des Meeres zuzubereiten und aufzubewahren. Kosten Sie nur alle diese Speisen. Diese Konserve von Holothurien würde ein Malaie für das beste Gericht auf der Welt halten. Jene Sahne dort ist von der Milch von Seesäugetieren, und der Zucker kommt von dem großen Fucus des Nordmeeres; endlich erlauben Sie mir, Ihnen von dem Anemonen-Konfekt anzubieten, das dem schmackhaftesten Obst gleichkommt.“
Ich kostete mehr aus Neugierde, während der Kapitän Nemo mich durch seine unwahrscheinlichen Berichte ergötzte.
„Ja, dieses Meer, Herr Arronax“, fuhr er fort, „gewährt mir nicht nur diese vortreffliche Nahrung, sondern auch Kleidung. Die Stoffe Ihrer Kleidung sind aus den Fasern einiger Muscheln gewebt und mit antikem Purpur gefärbt. Das Parfüm auf der Toilette Ihrer Kabine ist aus Seepflanzen destilliert. So sind Ihr Bett, Ihre Feder und die Tinte aus Produkten gemacht, die das Meer liefert. So ist es mit allem, wessen ich bedarf.“
„Sie sind ein Freund des Meeres, Kapitän.“
„Jawohl! Das Meer bedeckt sieben Zehntel der Erdoberfläche, und der Seewind ist rein und gesund. In dieser unermeßlichen Einöde ist der Mensch doch nie allein; denn er fühlt das Leben um sich herum; ein übernatürliches, wundervolles Dasein rührt sich da allenthalben; und wirklich, Herr Professor, finden wir die drei Naturreiche, Mineralien, Pflanzen und Tiere, zur Genüge repräsentiert. Das Tierreich am stärksten durch vier Gruppen von Pflanzentieren, drei Klassen Gliedertiere, fünf Klassen Mollusken, drei Klassen Wirbeltiere, Säugetiere, Reptilien und die unzählige Menge Fische. Diese Abteilung des Tierreiches allein zählt dreizehntausend Gattungen, wovon nur der zehnte Teil den süßen Gewässern angehört. So ist das Meer eine ungeheure Wohnstätte der Natur. Es herrscht darin die äußerste Ruhe. Das Meer ist außerhalb der Macht der Tyrannen. Auf seiner Oberfläche können sie noch Ungerechtigkeit üben, sich bekämpfen, alle Schrecken verüben. Aber dreißig Fuß unterhalb hört ihre vorläufige Gewalt auf. Ach! Mein Lieber, im Meeresschoß allein ist Unabhängigkeit! Da allein fühlt man sich frei!“
Mitten in diesem enthusiastischen Ausbruch verstummte der Kapitän plötzlich. Hatte er sich zu weit aus seiner gewohnten Zurückhaltung reißen lassen? Er ging einige Augenblicke in großer Bewegung umher. Als er wieder ruhig geworden, wendet er sich zu mir:
„Jetzt, Herr Professor, wenn Sie den ‚Nautilus’ besichtigen wollen, stehe idi zu Ihren Diensten.“
Kapitän Nemo stand auf. Ich folgte ihm.