Читать книгу Schulgangster - Juli H. Kiel - Страница 7

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Malins Mutter schloss erschöpft durch ihren neuen Putz Job die Wohnungstür auf. Einmal in der Woche freitags durfte sie zwischen 18:00 und 21:00 Uhr Büros in einem Gebäude im Gewerbegebiet Süd putzen. Nachdem sie so lange überhaupt keiner Arbeit nachgegangen war, empfand sie selbst diese drei Stunden als anstrengend. Ihre Putzkollegen waren bereits im Training, sie hatten keine Mühe mit dem Arbeitspensum. Im Gegenteil, nach ihrer Ansicht war das Putzen von Büros noch eine der leichteren Arbeiten und sie hatten Energie für Scherze. Besonders oft brachte Karim sie zum Lachen. Sein Humor traf genau ihren Geschmack. Wie er mit einem trockenen Putzlappen auf dem Kopf den Wisch Mob als Mikrofon benutze, um die Gesangversuche der Kandidaten der Samstagabend-Castingshow zu imitieren ... lange hatte Beatrice nicht mehr so befreit gelacht. Karim erinnerte sie ab und an daran, dass das Schicksal noch viel härter zuschlagen kann. Die Repressalien in seinem Land, nur weil er sonntags in die christliche Kirche ging, waren nicht schön, aber noch zu ertragen. Doch als der Krieg damals seine Kleinstadt erreichte, floh er unter Lebensgefahr. Wie genau und wie oft er nur knapp dem Tod entronnen war - er hatte bisher nur Andeutungen gemacht.

"BEATRICE", rief Bronco, "Hast Du Bier eingekauft? Der Kasten ist LEER und deine faule Tochter hat nur ein Sixpack geholt. Das reicht nicht!!"

"Ich hab was dabei" antwortete Malins Mutter ohne Elan. Ihre Arme waren lang geworden beim Schleppen der beiden Sixpacks über die Treppe in den zwölften Stock. Eilig huschte sie in die Küche, um die Bierflaschen in den Kühlschrank zu legen. Platz genug war dort, es befanden sich kaum Lebensmittel im Kühlschrank. "Ist Malin gut zum Bus gekommen?" rief sie ins Wohnzimmer zurück. Im Fernseher plärrte sehr laut die Autosendung "Vroom" - entweder der Lärm verschluckte die Antwort und Broncos stierte wie immer mit einem Bier in der Hand auf die Mattscheibe und nahm nur die Autorennen war oder Bronco ignorierte Beatrices Frage.

Malin wollte gerade m Moment noch einmal klingeln, als Oma Amanda etwas außer Atem die Tür öffnete. Malin blickte in ein knallblaues Kleid mit einem großflächigen Blumenmuster. Sie riss die Augen erstaunt auf "Ist das Kleid neu?", fragte sie. "Schön, dass Du gut angekommen bist. Ich war ein wenig nervös, dass Du im dunkeln Busfahren musst. Die Bushaltestelle bei euch inmitten der Wohnblocks ...", Oma Amanda zögerte, "...Hauptsache Du bist jetzt hier. Lass Dich drücken!". Malin verschwand im blauen Blumenkleid und bekam einen Moment lang kaum Luft. "Ja ja, das Kleid ist neu, Du kennst doch die Boutique von Holger in unserem Stadtteilzentrum, naja und Holger hatte Sommerware ganz stark reduziert. Alles beste Qualität und der Originalpreis war ursprünglich sehr teuer. Ich wollte nur kurz reinschauen und `Hallo` sagen, aber stell Dir vor er hatte für seine Stammkundinnen Schnäppchen zurückgelegt! Ich hab musste dieses Kleid einfach mitnehmen!" plapperte Oma Amanda ganz enthusiastisch weiter. Malin kreisten beim Anblick der Blumen die Augen, ob das Kleid magische Kräfte hatte und sie hypnotisieren konnte?

"Jetzt wird aber gestartet, ich habe ein Diktat über die Stadtgeschichte rausgesucht. Heute liegt der Schwerpunkt auf dem Dehnungs-H", Oma Amanda zog Malin ins Haus, setzte ihre Lesebrille auf und schob sie sanft ins Wohnzimmer. Auf dem großen Esstisch aus Eiche waren die Lernunterlagen bereitgelegt. Amanda fiel ein Stein vom Herzen, sie hatte sich wirklich Sorgen gemacht um ihre Enkelin. Allein im Dunkeln im Hochhausviertel unterwegs, um dann noch Bus zu fahren. Doch ihr alter Polo war nicht in Ordnung und Herr Manz, ihr netter Nachbar, hatte den Motorfehler zwar schon gefunden, aber die bestellten Autoteile waren noch nicht geliefert worden. So konnte sie Malin nicht abholen und ihre Schwiegertochter Beatrice ... nun ja. Man musste ihr zu Gute halten, dass der Tod von Peter sie aus der Bahn geworfen hatte. Aber Beatrice hatte sich bis heute - nach drei ganzen Jahren -- immer noch nicht gefangen. Dabei litt Oma Amanda natürlich auch sehr unter dem Tod ihres Sohnes, aber sie hatte die Struktur in ihrem Alltag behalten. Die Routine half ihr oft über den Schmerz hinweg.

Oma Amanda beobachtete, wie Malin ihre Tasche im Flur ordentlich abstellte und in Zeitlupe zum Esszimmertisch ging. Etwas lustlos schob sie ihr Arbeitsequipment - den Block und den Kugelschreiber - zurecht und starrte geradeaus. "Können wir starten?" fragte sie gelangweilt. Diese Malin hatte nicht mehr viel mit ihrer Enkelin von früher zu tun, sinnierte Oma Amanda. Als die Familie noch intakt war, mit Peter, war Malin immer spritzig, zu einem Scherz aufgelegt und kreativ gewesen, manchmal zum Ärger der vernünftigen Erwachsenen. "Wie geht es Dir denn überhaupt?" fragte Oma. "Ok, alles ok" antwortete Malin verschlossen, aber sie schaute auf ihre Socken und räumte verlegen den Kugelschreiber von links auf die rechte Seite des Schreibblocks. ‚So ist das Gehirn nicht frei zum Lernen‘, überlegte Oma Amanda. Ihr war bewusst, dass es für Malin nicht einfach war. Leider hatte sie auch viel Schlechtes über die ihre Gesamtschule gehört. Ob ihr kleines Mädchen auch unter Druck stand? Malin erzählte mal wieder nichts. Also Strategiewechsel, "Weißt Du noch, als Du herausfinden wolltest, ob Teichpflanzen in einer höheren Wassertemperatur besser gedeihen als im Garten?", versuchte Oma Amanda Malin in gute Stimmung zu versetzen. "Ja klar", strahlte Malin, "ich hab mir sehr viel Mühe gegeben, die Badewanne mit Steinen, Kiesel und etwas Erde gut auszustatten. Nach dem Fieberthermometer zum Messen der Wassertemperatur habe ich im Medikamentenschrank lange suchen müssen. Aber ich wollte die Wasserpflanzen ja nicht kochen, sondern nur etwas wärmere Wachstumsbedingten schaffen". Oma Amanda lächelte, Kreativität war in ihren Augen eine ganz wichtige Eigenschaft. Davon konnte man auch als Erwachsener nie genug haben, gerade ihre Enkelin. Amanda hoffte, dass sie zukünftig von Malins Ideen - auch den verrückten - profitieren könnte. Sie wurde schließlich nicht jünger und könnte nicht ewig weitermachen.

"Ich les das Diktat wie immer einmal ganz vor und danach fangen wir mit dem ersten Satz an", sagte Oma Amanda mit ihrer besten Lehrerinnen-Stimme. Die hatte sie noch sehr gut drauf, auch wenn sie inzwischen seit 3 Jahren pensioniert war. Malin versuchte, sich auf den Text zu konzentrieren und hörte gut zu. Zu Beginn zumindest. Doch nach vier Sätzen hatte sie wie so oft den Faden verloren. "Also, erster Satz", setzte Oma wieder ein, "Die Geschichte des Dichterviertels reicht bis in das Jahr 1609 zurück." Malin begann zu schreiben, froh, dass sie einen Kugelschreiber benutzen durfte. In der Schule war das nicht erlaubt, so dass sie leider mit ihrer linken Hand oft über die frische Tinte wischte und sie verschmierte. Hmmm, "Jar" oder "Jaar" oder "Jahr" versuchte sie ihren Wortsalat zu sortieren. Gab es eine Regel dazu? Oder war das eines der Lernwörter? Ihre Gedanken kreiselten. Es viel ihr schwer, sich zu erinnern.

"Unterstreich Dir das Wort mit Bleistift und wenn Du am Ende des Diktats Zeit bekommst, kannst Du noch einmal überlegen, ob dir die richtige Schreibweise einfällt. Und wenn nicht, es ist besser, nur ein Wort falsch zu haben als den Anschluss zu verpassen und vor lauter Aufregung den kompletten nächsten Satz zu verpassen." Omas Strategie klang ganz einleuchtend. Das hatte ihr noch keine ihrer Deutschlehrerinnen beigebracht. Warum eigentlich nicht? Malin versuchte, sich ganz auf den nächsten Satz zu konzentrieren.

"In einer Urkunde der Stadt Münsterstein wurde der Stadtverwalter des Dichterviertels erstmalig erwähnt." setzte Oma Amanda mit dem zweiten Diktatsatz wieder ein. Malins Hand verkrampfte sich. Oma Amanda blickte beklommen auf die zornige Falte, die sich auf Malins Stirn bildete und sie bemerkte, dass ihre Augen ganz glanzlos auf das Papier schauen. Oma konnte spüren, wie viel Kummer ihrer zarten Enkelin die Rechtschreibung bereitete. Der Weg, die Rechtschreibung zu lernen, war noch lang und sehr schwierig für Malin, das war eindeutig. Sie würde ganz viel Ausdauer und Mut brauchen, trotz ihrer Rechtschreibschwäche immer wieder neu zu üben und zu üben. ‚Aber es gibt keine Alternative‘, sinnierte Oma Amanda, Malin würde die Schule nicht schaffen, wenn die die Rechtschreibung - unter welchen Mühen auch immer - nicht erlernte. ‚Wenn ihr der Inhalt der Texte nur Freude machen würde, dann wäre das Lernen viel leichter‘, überlegte Amanda. ‚Geschichte zündet nicht, Texte über Tiere, Fahrzeuge, Kinderspiele habe ich schon diktiert, selbst aus Kochbüchern Textpassagen benutzt. Bisher war kein Volltreffer dabei. ‘ Oma Amanda Blick schweifte über ihre etwas in die Jahre gekommene IKEA-Bücherregalwand "Billy" mit den vielen Büchern aus den und blieb in der Botanik-Ecke hängen.

"Erwänt, erwähnt, erwehnt oder erwent?" überlegt Malin. Wut stieg in ihr hoch wie die Hitze beim letzten Federballmatch. Sie spürte wie ihr Kopf glühte. Außerdem fühlte er sich an wie ein Basketball: rot und groß, aber leer. Keine einzige Rechtschreibregel fiel ihr ein, all die mühsam eingeprägten Lernwörter - alle weg.

"Bilde den Infinitiv", gab ihre Oma sanft als Tipp.

"Erwähnen oder erwehnen", murmelte Malin mit zusammengebissenen Zähnen, "ich denke ich schreib das Wort mit Dehnungs-H." Plötzlich konnte sie sich wieder konzentrieren und sie erinnerte sich. "Klar, jetzt fällt der Groschen, ich schreib `erwähnen` mit a-Umlaut!" freute Malin sich. Ein kleiner Erfolg, Amanda freute sich ebenfalls und setzte ein wenig erleichtert das Diktat fort.

Oma Amanda beobachtete Malin, während sie die nächsten Sätze diktierte. Sie sah, dass Malin sich ehrlich bemühte. Ihre Finger waren ganz weiß, so fest hielt sie den Kugelschreiber umklammert. Die senkrechte Denkfalte in der Mitte ihrer Stirn verlieh ihrem zarten Gesicht einen sehr konzentrieren Ausdruck. Ihre Wangen waren rosa. Jedes Wort war eine Herausforderung, jeder Satz Schwerstarbeit für ihre Enkelin, das war gut zu erkennen. Zum Glück, dachte Oma Amanda, lernt Malin mit Biss. Den wird sie brauchen, für eine lange Phase, bis die deutsche Rechtschreibung endlich in ihrem Gehirn verankert ist. Sie hoffte nur, dass Malin zur Kreativität, ihren lustigen Ideen, zurückfand.

"WARUM MUSST Du so schwierige Wörter diktieren?" platzte Malin unvermittelt. Amanda zuckte zusammen, ihre Gedanken waren etwas abgeschweift, so dass sie den Ausbruch nicht erwartete. Malin schnauzte weiter: "Das ist doch ganz großer MIST. Ich hab keine Lust mehr. Lass mich bloß in RUHE mit dem Diktat". Sie sprach das Wort Diktat voller Ekel aus und warf ihren Kugelschreiber über den Tisch. Malins aufgestaute Wut entlud sich an ihrer einzigen Verbündeten.

"Warum quälst Du mich damit, Oma? Ich bin sowieso zu blöd, ich lern die Rechtschreibung nie, ich schaff die Klasse nicht. Das ist total sinnlos!!!!" motzte sie immer noch weiter. Malin stand so ruckartig auf, dass der Mahagoni-Holzstuhl auf den weißen, dicken Teppich fiel. Sie schnappte sich ihre Tasche und stampfte über die Treppe in ihr Zimmer. Oma Amanda hörte die Zimmertür im ersten Stock laut klappen. Sie seufzte.

Amanda suchte traurig den Kugelschreiber. Malin brauchte ganz viel Hilfe in Deutsch. Warum konnte Beatrice sich nicht vernünftig um ihre Tochter kümmern und ihr mit den Anforderungen der Schule helfen? Amandas typischer Elan war wie weggeflogen. Sie entdeckte den Stift im weichen Teppich, unter den Tisch gerollt. Wie ist er da bloß hin gerollt? Amanda ging langsam auf die Knie und hielt sich dabei am Tisch fest. Das linke Knie knackte laut. "Oh, meine Arthrose wird ja immer schlimmer", sprach sie zu sich selbst. Amanda angelte den Kugelschreiber und zog sich an der Tischplatte aus Mahagoniholz wieder hoch in den Stand. Sie ging auf die andere Seite des Esstisches und bückte sich, um den schweren Stuhl wieder aufzurichten. Die Stühle und der passende Tisch stammten von ihren Eltern. Es waren über die vielen Jahrzehnte, die sie in Gebrauch waren, schöne Erinnerungen verknüpft. Die Spuren - kleine Kratzer - störten Amanda nicht, im Gegenteil. Sie hatten halt Geschichte und der Stoff, mit dem sie die Stühle beim letzten Mal hatte beziehen lassen, bildete eine gelungene Brücke zu ihrem sonst recht modernen Einrichtungsstil. Oma Amanda bückte sich, um nach der Lehne des Stuhls zu greifen, als das andere Knie knackte. Es war spät geworden. Oma öffnete sehr leise die Tür zu Malins Zimmer. Malin lag eingekuschelt in der schönen Bettdecke - auf gutes Bettzeug legte Amanda schon immer Wert - und atmete regelmäßig und tief. Sie schien fest zu schlafen. Amanda zog die Tür leise zu.

Malin wachte durch das Geräusch der Haustür auf. Sie rieb sich die Augen und suchte nach dem Wecker. 00:06 leuchtete die Anzeige in rot. Mitternacht, dachte Malin, da habe ich ja schon zweieinhalb Stunden geschlafen. Aber wodurch bin ich aufgewacht, war das wirklich die Haustür? Oma würde wohl kaum um diese Zeit Besuch bekommen. Und irgendwohin gehen würde sie mitten in der Nacht wohl auch nicht. Oder? Malin setzte sich auf, knipste die Nachttischlampe an und suchte ihre Hausschuhe.

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