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Dienstag, 06. Februar 2018

Jola

Ihr Arbeitstag war heute erstaunlich ruhig verlaufen. Sie hatte keinerlei Begegnungen mit furchteinflößenden Personen, immerhin etwas. Auch die gruseligen Typen von gestern waren nicht wieder aufgetaucht. Dennoch hatte sie den ganzen Tag über ein mulmiges Gefühl, denn sie musste mit Lennon über den Zwischenfall reden. Sie wollte nicht, sie musste. Seit gestern überlegte sie fieberhaft, ob sie nicht doch zur Polizei gehen sollte.

Lennon hatte sich den ganzen Tag über nicht gemeldet. Ihr letztes Telefonat lief ja nicht gerade toll. Deshalb rief sie ihn am Abend an, nachdem sie zwei belegte Brote gegessen hatte. Nach dem dritten Freizeichenton nahm er ab. „Ja, hallo?“

„Hi. Wie … Wie geht es dir?“

„Ganz gut, auf der Arbeit war heute nicht viel los …“

Er fragte sie nicht nach ihrem Wohlbefinden. Nun gut, es gab Schlimmeres. Anscheinend war er noch etwas mies drauf wegen des letzten Telefonats, also beschloss Jola, sich erwachsen zu verhalten und sagte: „Ich hoffe, du bist mir wegen gestern nicht mehr böse … Glaubst du, könnten wir uns heute noch sehen?“

„Ich bin zu Hause, du kannst gern zu mir kommen.“

Ob er ihr nun böse war oder nicht, konnte sie aus dieser Aussage nicht wirklich heraushören. Immerhin lud er sie ein, zu ihm zu kommen – nur, was, wenn sie ihm wieder begegnen würde? Oder seiner Mutter? Das Risiko musste sie eingehen.

„Okay. Ich bin in einer Stunde da“, war Jolas Reaktion auf Lennons Vorschlag.

„Gut“, antwortete er.

Gut ist was anderes, dachte sie sich, nachdem sie das Gespräch beendet hatten.

Sie ließ sich Zeit, als sie ihre Sachen packte. Dabei fiel ihr auf, dass Lennon sie gar nicht eingeladen hatte, über Nacht zu bleiben. Aber sie waren immerhin ein Paar, sollte sie es also als Selbstverständlichkeit ansehen? Oder war er ihr etwa doch noch böse? Nur wegen einer kleinen Meinungsverschiedenheit? Das konnte nicht sein Ernst sein. Oder war es wegen etwas anderem? Hatte er womöglich genau zu dem Zeitpunkt, als Jola den Nachbarsjungen mit dem Auto angefahren hatte, aus dem Fenster geschaut? Wusste er von dem Zwischenfall? Eines stand auf jeden Fall fest: Sie würde es ihm heute sagen. Wenn sie sich ihm nicht anvertrauen konnte, wem dann? Etwa ihren Eltern? Nein, das würde sie nicht tun. Die beiden konnten ihr gestohlen bleiben. Reflexartig glitt ihre Hand auf ihre Wange, die schon so viele Schläge abbekommen hatte. Eine Träne löste sich aus Jolas Augenwinkel, als sie vorsichtig über ihre glatte Haut fuhr.

Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie ihren alten Polo im Innenhof parkte. Mit schnellen Schritten war sie vor Lennons Wohnungstür – sie hatte unterwegs keine unschönen Begegnungen, zum Glück. Sie sperrte auf und als sie ihre Schuhe ausgezogen und den Wohnraum betreten hatte, wurde sie von ihrem Freund mit einer Umarmung begrüßt. Er roch nach Gras, was sie etwas verwunderte. Sie hatte nicht gewusst, dass er auch unter der Woche rauchte. Aber sie fand es nicht weiter schlimm, deshalb sprach sie es nicht an.

„Alles klar? Willst du was essen?“, fragte Lennon.

„Nein, danke. Ich hatte schon was.“

Nun standen sie da. Jola wusste nicht, wie sie mit der Nervosität umgehen sollte. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, ehe sie aussprach, was schon längst fällig war: „Ich … Ich muss dir was sagen.“

Der erste Schritt war geschafft. Sie gingen ins Wohnzimmer. Als sie auf dem Sofa Platz nahmen, fragte Lennon: „Willst du mir endlich mal erklären, weshalb du gestern so komisch warst?

„Ja.“

„Dann schieß los.“

„Ich habe dir doch von den zwei Typen erzählt.“

„Ja?“

Warum tat sie das? Warum redete sie sich nun auf die zwei Männer vor der Trafik raus? Das hatte sie Lennon bereits erzählt.

„Haben sie dir gedroht?“, fragte er.

„Was? Nein! Nein! Also …“

„Haben sie oder haben sie nicht?“

Okay, das Gespräch ging in die völlig falsche Richtung. Schluss mit dem Theater, befahl sich Jola in Gedanken.

„Mit denen war nichts. Tut mir leid, ich weiß auch nicht, warum ich jetzt von denen zu reden begonnen habe.“

„Ich schon.“

„Was …“

„Weil du vom eigentlichen Thema ablenken wolltest.“

Erwischt. Also raus damit.

„Du hast recht“, seufzte Jola, selbst genervt von ihrem Zaudern. „Es ist was vorgefallen. Gestern. Noch bevor ich auf der Arbeit war.“

Lennon unterbrach sie nicht, also musste sie weiterreden: „Ich habe Gabriel gesehen.“

„Er wohnt hier, was ist daran also außergewöhnlich?“

„Ist es auch nicht …“

„Hör zu. Ich weiß, dass du ihm nicht traust. Aber glaub mir, er ist nicht so gefährlich wie du denkst.“

Oh, wenn er nur wüsste, was sie über diesen Mann dachte. Sie hatte gute Gründe, um sich vor ihm zu fürchten. Einmal musste die Polizei kommen, um ihn ruhig zu stellen, denn er hatte im Innenhof zwei gleichaltrige Männer geschlagen – richtig zusammengeschlagen. Er wusste nicht, wann es an der Zeit war, aufzuhören. Seine Mutter bekam erst was davon mit, als die Polizei eintraf und sie zur Rede stellte. Gabriel hatte lachend gesagt: „Ma, die zwei ha-haben mich wütend gemacht. Ich musste s-sie hi-hinlegen.“

Das waren seine Worte dafür gewesen. Er musste sie hinlegen, so einfach war das für ihn. Jola hatte Angst vor so einer Unzurechnungsfähigkeit und sie war sich sicher, dass er viele schlimme Dinge tat, von denen seine Ma und die Polizei nichts wussten.

Lennon fand das alles halb so schlimm. „Meine Güte, dann ist er eben mal ausgerastet, das kann jedem passieren“, hatte er damals gesagt, als er davon erfahren hatte. In diesem Punkt waren Jola und er also nicht einer Meinung.

„Ich habe ihn im Treppenhaus gesehen. Er hat mir so einen Schrecken eingejagt“, erzählte sie weiter, ohne auf Lennons vorherige Aussage einzugehen. „Dann bin ich zum Auto und wollte losfahren.“

„Und dann?“

„Dann bin ich irgendwo gegengefahren.“

„Das war ja klar. Was sage ich immer? Du brauchst ein Auto mit Piepsern!“

„Nein, ich brauche keine Einparkhilfe.“

„Damit wärst du bestimmt nicht gegen die Hauswand gefahren.“

„Es war nicht die Hauswand.“

„Nicht? Wo bist du sonst gegengefahren?“

„Ich …“

„Jetzt sag schon.“

„Gabriel.“

Für einen Moment schwiegen sich die beiden nur an.

„Du hast was?!“, schoss es dann aus Lennon heraus. „Sag mal, bist du verrückt?“

„Ich weiß, ich weiß, ich bin furchtbar. Er war plötzlich da und …“

„Hast du ihn verletzt?“

„Ich … Ich weiß nicht.“

Was? Warum weißt du das nicht?!“

„Ich … Ich bin …“

Was? Sag mir nicht, dass du weggefahren bist!“

„Doch.“

„Jo! Bist du bescheuert oder was? Sowas nennt man Fahrerflucht!“

„Ich weiß, wie man sowas nennt, ich bin schließlich kein Idiot!“

„Doch, das bist du. Denn genau sowas machen Idioten in so einer Situation: abhauen.“

„Ich habe gesehen, wie er wieder aufgestanden ist, ich dachte mir, …“

„Du dachtest gar nicht, Jo, gar nicht!“, brüllte Lennon und stand auf. Er schüttelte den Kopf, während er vor dem Wohnzimmertisch auf- und abging. Diese Worte verletzten sie zutiefst. Sie versuchte krampfhaft, die Tränen zurückzuhalten und die Situation zu retten, indem sie sagte: „Er hat mir zugewunken. So schlimm kann es gar nicht gewesen sein.“

„Hast du dich bei ihm entschuldigt?“

Darauf konnte Jola nichts sagen, obwohl die Frage nicht unerwartet kam. Stattdessen begann sie zu weinen. Lennons Augen weiteten sich. „Was ist nur los mit dir? Was stimmt nicht mit dir?“

„Es tut mir …“

„Kein Wort! Ich will kein Wort hören! Bei mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen!“

„Es sah nicht so aus, als hätte er Schmerzen.“

„Du hast ihn mit deinem Auto angefahren, Herrgott nochmal! Und er ist behindert! Der nimmt seine Schmerzen womöglich ganz anders wahr! Wahrscheinlich fängt er auch zu lachen an, wenn seine Mutter ihm eine scheuert.“

Lennon atmete einmal tief durch, ehe er fragte: „Warst du wenigstens bei der Polizei?“

Jola blickte beschämt zur Seite.

„Auch nicht? Mann, dir ist echt nicht mehr zu helfen.“

Mehr als ein Schluchzen konnte sie nicht mehr von sich geben. Ihr Freund zeigte kein Mitgefühl und sagte: „Weißt du was? Du gehst jetzt zu ihm und entschuldigst dich. Nicht wir, sondern du. Du ganz alleine. Steh mal gerade für die Scheiße, die du verzapfst.“

Das war nicht fair. Als würde er für alles geradestehen, was er anstellte. Aber in diesem Fall musste Jola ihm recht geben. Das war keine Rauschaktion gewesen, die in einer harmlosen Schlägerei endete. Sie hatte bei vollem Bewusstsein einen Menschen mit einem Auto angefahren.

Lennon wurde langsam ungeduldig. „Wenn du nicht sofort zu ihm rübergehst und dich entschuldigst, kannst du gleich wieder nach Hause fahren.“

Das war zu viel für Jola. Sie nahm ihre Tasche und ging.

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