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Mittwoch, 07. Februar 2018

Jola

Am nächsten Morgen stand sie trotz immer wiederkehrender Übelkeit in der Trafik. Sie hatte es gestern nicht geschafft, sich bei Gabriel zu entschuldigen. Und obwohl sie wusste, dass es die falsche Entscheidung gewesen war, war sie wieder nach Hause gefahren. Lennon hatte ihr noch etwas nachgerufen, was sie aber nicht mehr verstanden hatte, weil in dem Moment die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war.

Aber heute würde sie zur Polizei gehen. Blöderweise fehlten ihr dazu noch die passenden Worte.

„Guten Tag. Ich habe vor zwei Tagen einen Menschen mit meinem Auto angefahren und danach panisch die Flucht ergriffen. Jetzt hat mich das schlechte Gewissen gepackt und ich wollte Selbstanzeige erstatten. Also, hier bin ich! Wo sind die Handschellen?“ – Keine gute Idee.

Ihr Handy in der Thekenlade vibrierte. Lennon. Sie öffnete die Nachricht, die er ihr eben per WhatsApp geschickt hatte: „Ich hoffe, du bereust dein beschissenes Verhalten.“

Was sollte sie darauf antworten? Sie entschied sich kurzerhand für: „Ich gehe heute noch zur Polizei.“

Jola atmete aus und ehe sie ihr Smartphone wieder in die Schublade schmiss, vibrierte es erneut.

„Lass das erstmal.“

Sie wollte gerade fragen, was er damit meinte, aber dann kam schon die nächste Nachricht: „Ich habe seiner Mutter gesagt, dass du heute nach der Arbeit vorbeikommst und ihr und ihrem Sohn was zu sagen hast.“

WAS?, hätte sie fast laut gerufen. Warum tut er so etwas? Ihre Knie zitterten. In diesem Moment kam ein Kunde zur Tür herein und sie warf ihr Smartphone in die Schublade, die sie daraufhin laut zuknallen ließ.

„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte der Mann grinsend, der ihr bekannt vorkam.

„Haben Sie nicht“, erwiderte sie verlegen und musterte ihn dabei. Dunkelblondes wirres Haar, groß, Drei-Tage-Bart, breite Schultern, dunkelgrüne wachsame Augen. Als ihr bewusst wurde, dass sie ihn etwas zu lange begutachtete, räusperte sie sich und fragte: „Was kann ich für Sie tun?“

Ihr Gegenüber brauchte einen Moment, um zu antworten. Auch er musterte sie, schließlich sagte er: „Ich hätte bitte gerne einen Lottoschein.“

„Wie viele Tipps?“

„Fünf, bitte. Mit Joker.“

„Alles klar.“

Jola druckte den Schein aus und kassierte das Geld dafür. Der Mann nahm das Stück Papier an und bedankte sich. Als er die Tür der Trafik öffnete, drehte er sich noch einmal zu ihr um und meinte etwas zögernd: „Sagen Sie, kann es sein, dass wir uns schon mal begegnet sind?“

Jola konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wo sie ihn zuvor getroffen haben sollte. In der Trafik war er ihr nie zuvor aufgefallen. Sie zuckte schließlich mit den Schultern und sagte: „Vielleicht. Aber ich wüsste nicht, wo.“

„Geht mir genauso.“

Er lächelte und verließ das Geschäft. Ihr Smartphone vibrierte wieder und zeigte eine neue Nachricht auf WhatsApp an: „Ich fasse das als Zustimmung auf.“

Um 12 Uhr sperrte Jola die Trafik ab. Über die Mittagszeit hatte das Geschäft geschlossen, Helgas Dienst begann erst in zwei Stunden. Als sie den Schlüssel herumdrehte, kam ihre Vorgesetzte auf sie zu.

„Hallo“, sagte Jola. „Du bist zwei Stunden zu früh. So arbeitswütig?“

„Grüß dich! Ach, nein. Bin gerade auf dem Weg zum Mittagessen mit meiner Tochter und meinen Enkeln … Sag mal …“ Helga kam ein Stück näher. „… was ist dir da denn passiert?“

Sie zeigte mit der Hand auf Jolas rechtes Auge. War ihr Make-up verwischt? Konnte man den ehemals blauen Fleck sehen? Falls ja, war es dem Mann mit dem Lottoschein aufgefallen?

„Schlägt dich dein Freund etwa?“, fragte Helga. Sie hatte noch nie um den heißen Brei herumgeredet, warum hätte sie ausgerechnet jetzt damit anfangen sollen?

„Nein“, erwiderte Jola schnell. „Das war eine blöde …“

Ja, wie sollte sie das beschreiben? Sie würde ihrer Chefin mit Sicherheit nichts von den Raufereien im Vollrausch erzählen.

„Halb so schlimm“, sagte sie stattdessen, sie wollte sich jetzt keine Geschichte ausdenken müssen.

„Wartet er zu Hause auf dich?“

„Nein, wirklich nicht“, versuchte sie, ihre Vorgesetzte zu beruhigen. „Lennon würde mir niemals etwas antun. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Mach dir keine Sorgen.“

Eilig verabschiedete sie sich, damit sie nicht weiter in Erklärungsnot kam. Eben hatte sie Helga nur die halbe Wahrheit gesagt. Lennon war durchaus imstande, ihr etwas anzutun – auch wenn es nur psychisch war. Sie wollte gar nicht daran denken, dass sie heute noch mit Gabriel und seiner Mutter reden musste.

Als sie zu ihrem Auto ging, fielen ihr daneben zwei Männer auf. Sie unterhielten sich und rauchten Gras, was Jola anhand des Geruches sofort erkannte. Die Gesichter der beiden waren durch die Kapuzen ihrer Jacken fast zur Gänze verdeckt. Als Jola bei ihrem Auto ankam, verstummten sie und starrten sie an. Sie sperrte den Wagen auf und öffnete die Fahrertür des Polos, ohne die beiden anzusehen. Dann lachte einer der Kapuzenmänner auf, gleichzeitig rief der andere ihr zu: „He, du Fotze!“

Mit dem Zuschlagen der Autotür verstummte ihr saublödes Gelächter und Jola fuhr schneller zu Lennon, als sie es eigentlich vorgehabt hatte.

Im Innenhof angekommen, parkte sie neben der Hausmauer und ging rauf in Lennons Wohnung, während sich ihre Gedanken im Kopf überschlugen. Wer war der Mann in der Trafik gewesen? Warum hatten diese komischen Kapuzenmänner bei ihrem Auto gestanden? Und hatte sie sie vor zwei Tagen nicht schon vor dem Tabakwarenladen gesehen?

Sie betrat den Vorraum und wurde von ihrem Freund nur mit einem Kopfnicken begrüßt. Mehr hatte sie anscheinend nicht verdient.

„Warst du schon bei Gabriel?“, fragte er sie. Bei dem Gedanken an die bevorstehende Unterhaltung schnürte es ihr die Kehle zu. Sie würde nicht drum herumkommen. Jola schüttelte nur den Kopf und als Lennon nichts darauf sagte, drehte sie sich wortlos wieder um und verschwand aus der Wohnung. Sie ging ein Stockwerk nach oben. Mittlerweile war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob sie das alles nicht nur Lennon zuliebe tat.

Als sie auf die Klingel drückte, dauerte es lange, bis die Tür geöffnet wurde. Viel zu lange. Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien Gabriels Mutter in der Tür. Sie sagte nichts. Anscheinend war es während Jolas Arbeitstages zum Trend geworden, die Leute nicht mehr zu grüßen.

„Guten Tag“, begann sie. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“

„Du bist doch die Glotzerin, oder?“, fragte die alte unsympathische Schachtel. Einen Moment lang wusste Jola nicht, was sie damit meinte, dann kam ihr ihre erste Begegnung wieder in den Sinn: „Ich habe letztens nicht geglotzt, ich …“

„Ja, ja, ja! Nur, weil er das Down-Syndrom hat? Hast du ihn deshalb so angeglotzt? Lass meinen Jungen in Frieden, verstanden?“

Dass ihr Sohn an Trisomie 21 litt, war Jola bewusst. Auffällig an Gabriel waren seine Gesichtszüge, seine verdrehten Beine und seine Aussprache. Die körperliche Kraft, über die der junge Mann dennoch verfügte, war nicht zu unterschätzen, auch wenn seine geistige Entwicklung verzögert war. Deshalb fühlte sie sich so unwohl in seiner Nähe. Gabriels Stärke reichte aus, um jemanden zu verprügeln – oder, um selbstständig wieder aufzustehen, nachdem man ihn mit dem Auto angefahren hatte.

„Tut mir leid, aber Sie verstehen das völlig falsch, ich …“

„Sonst noch was? Ich verpasse sonst meine Serie auf ATV.“

„Ist Ihr Sohn zu Hause?“, fragte Jola, um endlich auf den Punkt zu kommen.

„Ich kann dir ein Foto von ihm geben, falls du wieder was zu glotzen brauchst“, erwiderte seine Mutter schnippisch.

„Was dauert denn hier so lange?“, hörte man plötzlich von unten. Lennon. Gott sei Dank. Jola konnte jede Hilfe gebrauchen. Im nächsten Augenblick erschien er auch schon und stellte sich neben sie.

„Ah, der Herr Kobatz. Was wollen Sie?“

Auch jetzt klang ihr Tonfall nicht viel freundlicher. Lennon legte seinen Arm um Jolas Schultern und antwortete: „Würden Sie bitte Gabriel an die Tür holen?“

Misstrauisch musterte die Alte die beiden. „Meinetwegen“, sagte sie mit grimmiger Miene und verschwand in der Wohnung. Kurz darauf ertönte ihre kratzige Stimme: „Sohnemann! Komm raus, da will dich jemand sehen!“

Sie bekam keine Antwort.

„He!“, rief sie, dann hörte Jola ein lautes Klopfen. Kurz darauf wurde anscheinend eine Tür geöffnet und die Stimme der Alten wurde noch lauter: „Was … Was machst du da? Lass deine dreckigen Griffel davon und komm mit. Du wirst erwartet! Und wisch dich ab, du Ferkel!“

Jola und Lennon sahen sich an. Mein Gott, was müssen das für Zustände sein, dachte sie sich. Bestimmt ging ihrem Freund gerade dasselbe durch den Kopf. Gabriels Lachen ertönte, kurz bevor er zur Tür kam.

„Hier ist er“, raunte seine Mutter und stellte sich neben ihren Sohn.

„Hallo“, sagten Jola und Lennon wie aus einem Munde. Außer einem tiefen Lacher war von Gabriel nichts zu hören. Jola begann langsam zu reden: „Vielleicht erinnerst du dich noch an das, was vor zwei Tagen früh am Morgen passiert ist. Im … Im Innenhof.“

„Du bi-bis hübsch“, stotterte Gabriel. „Du has mich fas hi-hi-hingelegt.“

„Was hast du?“, rief seine Mutter dazwischen. „Hast du meinem Jungen etwas angetan?“

„Es war ein Versehen“, sagte Jola schnell. „Es tut mir leid, ich habe ihn mit dem Auto angefahren, aber er ist gleich wieder aufgestanden und hat mir zugewunken. Ich will mich dafür entschuldigen. Es tut mir leid, Gabriel, okay? Ich hoffe, ich habe dir nicht wehgetan.“

„Ha-hat nich wehgetan. Aber du nich gewunken.“

„Ich weiß. Tut mir leid. Ich hoffe, zwischen uns ist alles in Ordnung.“

„Alles in Ordnu-ung.“

Seine Mutter schien das anders zu sehen: „Verhaften sollten wir dich, du Göre! Nach zwei Tagen kommst du darauf, dass es dir leidtut? Ich werde die Polizei rufen!“

„Bitte nicht“, schaltete sich Lennon ein. „Jola hat sich doch entschuldigt und Ihr Sohn meinte, ihm fehlt nichts. Könnten wir das bitte einfach vergessen? Es wird auch nicht mehr vorkommen.“

„Das will ich auch stark hoffen!“

„I-is schon gut, Ma“, meinte Gabriel. Lennon atmete erleichtert auf und fragte: „Wie können wir das wiedergutmachen?“

„Jo-Jola hübsche Frau. I-is sie deine F-Freundin?“, stotterte der Nachbarsjunge und wurde dann von seiner Mutter unterbrochen: „Was hast du nur für Gedanken? Schämen solltest du dich!“

„Sch-sch-schuldigung, Ma.“

„Ich schlage vor, ihr gebt euch die Hände, dann sind wir quitt.“

Gabriel grinste und streckte Jola seine Hand entgegen. Als sich ihre Hände berührten, konnte sie eine eingetrocknete klebrige Substanz fühlen. Schnell befreite sie sich von seinem Griff und verließ mit ihrem Freund das Stockwerk.

In Lennons Wohnung ging sie schnurstracks ins Badezimmer und wusch sich die Hände, doch das half nichts, denn kurz darauf übergab sie sich ins Waschbecken.

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