Читать книгу Schneesturz - Der Fall des Königenhofs - Julia Heinecke - Страница 11
1838
ОглавлениеEs war erneut passiert. Vierundvierzig Jahre war Walburga nun alt und wieder war sie schwanger geworden. Das dreizehnte Kind. Was hatte sie nicht alles unternommen, damit das nun ein Ende haben würde. Aber ewig ließ sich ihr Mann nicht abweisen, und Walburga hatte sehr wohl wahrgenommen, dass er sich regelmäßig an die Magd heranmachte. Dabei hatte diese doch schon genug mit dem Knecht zu tun. Nicht, dass sie Gertrudis in irgendeiner Weise zu schonen gedachte, aber dass Martin mit ihr tändelte, das ging dann doch zu weit. Also hatte Walburga in der bäuerlichen Schlafkammer nachgegeben. Und jetzt das.
Dass es sie Mühen kostete, ließ sich Walburga, wie in ihren Schwangerschaften zuvor, nicht anmerken. Hochschwanger stand sie mit den anderen während der Heuernte am Hang und verzettelte die Scharen. Trotz dicken Bauches hatte sie Kraft in den Armen und arbeitete in ihrer gewohnten Geschwindigkeit, schließlich hatte sie nie etwas anderes getan. Auch als die Zeit für den Roggen kam, ging sie wie üblich mit aufs Feld. Doch sie merkte, dass es beschwerlicher wurde.
An einem heißen Nachmittag Ende Juli brauchte es alle Überwindungskraft, in gebückter Haltung die frischgeschnittenen Halme zusammenzuraufen. Die Sonne brannte auf der Königenhöhe. Walburga biss die Zähne zusammen. Seit dem Mittagessen hatte sie Wehen, und diese kamen in immer kürzeren Abständen. In der Reihe neben ihr stand ihre Mutter, die Fallermarie, und sah sie prüfend an.
»Geht es noch«, fragte sie, »oder kommt das Kind gleich hier auf dem Acker?«
»So weit ist es nicht«, erwiderte Walburga und griff nach den nächsten Roggenhalmen, die Martin gerade mit der Sense geschnitten hatte. In dem Moment spürte sie einen Schwall. An ihren Beinen lief das Fruchtwasser herab. Sie ließ den Roggen fallen und richtete sich auf.
»Ich geh kurz ins Haus«, erklärte sie knapp und setzte sich in Bewegung.
»Muss das sein?«, fragte Martin.
Alle sahen Walburga nach, aber keiner begleitete sie, nicht einmal ihre eigene Mutter. Der Himmel ließ Regen erahnen, und Martin drängte zur Eile. Je mehr sie jetzt noch einbrachten, desto besser.
Im Haus herrschte eine angenehme Kühle. Walburga war allein, und sie war froh drum. Sie wusste, was zu tun war, sie hatte es oft genug gemacht. Sie stieg die Treppe hoch. In der Schlafkammer angekommen, hockte sie sich vors Bett und hielt sich am Rand fest. Dann stieß sie einen lauten Schrei aus.
Nur wenig später lag Walburga mit ihrer Tochter im Arm auf dem Bett. Ihr dreizehntes Kind hatte sie ohne Hilfe zur Welt gebracht, selbst die Nabelschnur abgetrennt. Während sie den Säugling an ihrer Brust betrachtete, hörte sie, wie die Magd unten zur Tür hineinkam und in die Küche eilte, um das Feuer erneut zu schüren. Elisabeth schimpfte mit den Zwillingen, sie sollten nicht so viel Unsinn treiben. Walburga hörte die Glocken der Kühe, Ziegen und Schafe, die von der Weide heimkehrten, und Bibianes fröhliches Lachen, während die Kinder das Vieh nach dem Tränken in den Stall trieben. Die Hofgemeinschaft machte sich bereit für die Stallarbeit, Martin gab Anweisung, wie immer knapp und herrisch. Der erwartete Regen setzte ein. Erst als das Melken erledigt war und alle wieder ins Haus kamen, hörte Walburga, wie jemand die Treppe hinaufstieg und die Tür zur Schlafkammer öffnete. Ihre Mutter schaute hinein.
»Ja, Walburga, warum hast du denn nichts gesagt?«
Die Fallermarie schloss die Tür und trat ans Bett ihrer Tochter. Prüfend blickte sie auf das Neugeborene.
»Ein Mädchen«, sagte Walburga lächelnd.
»Es sieht schlecht aus«, stellte die Fallermarie unmissverständlich fest, »ganz grau.«
»Meinst du?«, fragte Walburga überrascht.
Die Fallermarie nahm das Kind vorsichtig auf den Arm und betrachtete es lange. »Vielleicht sollten wir die Hebamme holen. Ich sage Martin Bescheid.«
Mit dem Pferdewagen brachte Martin wenig später die Hebamme Theodora aus Neukirch zum Königenhof. Theodora untersuchte den Säugling und wirkte besorgt.
»Das Kind wird es schwer haben«, meinte sie, als sie es wieder in Walburgas Arme legte. »Es kommt jetzt auf dich an. Du musst dich schonen, kräftige Kost zu dir nehmen«, Theodora machte eine Pause, bevor sie fortfuhr, »und beten.«
Ihre jüngste Tochter war tatsächlich anders als alle Kinder, die Walburga zuvor geboren hatte. Sie war kleiner, fahler, jämmerlicher. Nicht mal die Zwillinge hatten je so schwach und kränklich gewirkt. Vielleicht gerade deshalb fühlte sich Walburga von Liebe für dieses zarte Wesen überwältigt. Bei keinem ihrer Kinder zuvor war sie nach der Geburt so von Gefühlen ergriffen gewesen. Keine Sekunde ließ sie ihren Säugling aus den Augen, der die ganze Nacht weinte. Erst am Morgen beruhigte sich das Kind, und Walburga konnte kurz schlafen. Danach stand sie auf, richtete sich her und ging mit ihrer Tochter hinunter in die Stube. Dort wurde sie von ihren anderen Kindern umringt, die neugierig ihre neue Schwester betrachteten. Die vierjährigen Zwillinge Leo und Julius streichelten ihr abwechselnd sanft über die Stirn und lachten aufgeregt.
Am Nachmittag erschien Pfarrer Schilling auf dem Hof, um die Taufe durchzuführen. Die Hebamme hatte ihm Bescheid gesagt.
»Nennen wir sie Jakobea«, schlug der Geistliche vor. »Das heißt ›Gott schütze‹. Und Schutz kann dieses zarte Wesen ja sicher gut gebrauchen. Was meint ihr?«
Martin und Walburga sahen sich an. Wer wollte einem Pfarrer widersprechen? Sie waren einverstanden, zumal der Name für sie wohlklingend war. Schilling nickte und tauchte seinen Finger ins Weihwasser, von dem es stets welches im Weihwasserkesselchen neben der Stubentür gab.
»Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes auf den Namen Jakobea Tritschler. Möge Gott seine Hand über dich halten.«
Jakobea, die zuvor leise gejammert hatte, hielt still. Der göttliche Beistand schien bald Wirkung zu zeigen. Das kleine Mädchen kam etwas zu Kräften.
Gertrudis richtete sich auf und schwang die Beine über die Bettkante. Sie spürte Wendelins Hand auf ihrem Rücken.
»Ich muss gehen«, flüsterte sie.
»Bleib noch ein bisschen«, versuchte Wendelin sie leise zu überreden.
Wie so oft in letzter Zeit war Gertrudis zu später Stunde in die Knechtskammer geschlichen, in der Wendelin alleine schlief. Sie war beiden ihr sicherer Hafen. Hier waren sie unter sich, die Magd und der Knecht, die sogenannten Völcher, und mit der Zeit waren sie sich nähergekommen. Doch sie mussten vorsichtig sein. Wenn die Bauersleute das mitbekamen, waren sie bestimmt nicht angetan, das war beiden bewusst. Ganz besonders der Königenbauer schien Gertrudis als sein Eigentum zu betrachten. Sie konnte sich seiner kaum erwehren.
»Es wird immer schlimmer. Gestern hat der Alte mir wieder unter den Rock gefasst«, vertraute Gertrudis Wendelin an, während sie ihre Bluse zuknöpfte. »Ich hasse es.«
»Dieser Glotzbock«, grollte Wendelin wütend. »Ich wünschte, ich könnte ihm …«
»Lass«, Gertrudis legte ihren Zeigefinger auf seinen Mund. »Ich darf einfach nicht irgendwo allein sein. Kaum ist das so, taucht er auf. Du musst darauf achten, dass du dich nicht so weit von ihm entfernst, dann kannst du mich vielleicht schützen. Manchmal glaube ich, die Bäuerin lässt mich mit Absicht Arbeit machen, bei der ich alleine bin, damit der Alte kommen kann. Die ist doch froh, wenn sie ihre Ruhe hat im Ehebett.«
»Er soll dich in Ruhe lassen.« Wendelin zog Gertrudis zu sich heran. »Wir verschwinden von hier. Bald. Ich versprech’s dir.«
»Dir tut er ja nichts.« Missmutig stand Gertrudis auf. »Ich gehe jetzt. Schlaf gut.«
»Du auch.«
Ein letzter Kuss und Gertrudis machte sich auf in die Gangkammer, in der sie mit den drei jüngsten Tritschler-Kindern schlief. Dazu musste sie leise die Tür von Wendelins Schlafkammer auf- und zumachen, durch den Hausgang huschen, an der bäuerlichen Schlafkammer vorbei, um die Tür zum Außengang genauso leise zu öffnen und wieder zu schließen. Gertrudis wusste ganz genau, wie weit sie die Türen in welcher Geschwindigkeit öffnen musste, damit sie nicht knarrten. Barfuß lief sie in der Dunkelheit über den Holzboden. Es war erstaunlich, wie behände und lautlos sie in der Schwärze der Nacht ihren Weg fand. Sie trat auf den Außengang und zog sachte die Tür hinter sich zu. Gleich war sie bei ihrer Kammer. Wie kalt es schon Anfang Oktober ist, dachte sie. Ihre Füße fühlten sich wie Eisklötze an, seit sie Wendelins Bett verlassen hatte.
»Pst«, kam es von hinten.
Gertrudis zuckte zusammen. In der Dunkelheit kam Martin auf sie zu. Sie sah nur seine Umrisse, aber wusste doch allzu genau, dass es der Bauer war. Sie konnte es riechen. Er hatte auf dem Außengang gestanden und sie offenbar erwartet.
»Was machst du hier?«, herrschte er sie leise an.
»Ich, ich …«
Gertrudis konnte nur stammeln. Der Bauer griff nach ihrem Arm. Gertrudis war im ersten Moment wie erstarrt. Im zweiten überkam sie Wut. Sie riss sich mit aller Macht los.
»Nein«, zischte sie, »lass mich!«
Sie drehte sich um und rannte zu ihrer Kammer. Als sie drinnen war, drückte sie die Tür zu und unterdrückte ein Keuchen. Starr stand sie da und betete zu Gott. Wenn Martin wollte, konnte er problemlos die Tür öffnen und die Magd herausziehen. Doch Gertrudis hatte Glück. Die Schritte des Bauern entfernten sich.
Seinen Unmut über die Abfuhr ließ Martin am nächsten Tag weidlich an der Magd aus. Beim Morgenessen ging es schon los. Kaum war Gertrudis bei der Milchsuppe an der Reihe, legte Martin seinen Löffel nieder. Alle folgten seinem Beispiel, sodass Gertrudis auch nichts anderes übrigblieb. Du nicht, schienen seine Augen zu sagen, als Martin sie finster ansah. Schließlich nahm er seinen Löffel wieder auf und schöpfte aus der Schüssel. Dann war Wendelin dran, danach die Buben, schließlich Walburga, alle Töchter und die Fallermarie. Als Gertrudis erneut zu löffeln versuchte, wiederholte der Bauer das Spiel. Keinen Bissen bekam Gertrudis ab, aber neben den bösen Blicken des Bauern reichlich spöttische von der Bäuerin. Gertrudis wurde rot vor Scham, aber sie hielt sich aufrecht und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Wendelin schaute mitleidig zu ihr herüber, aber er konnte nichts machen, und Gertrudis wich seinem Blick aus. Als sie abgeräumt hatte und Wasser vom Brunnen in die Küche trug, erschien die Fallermarie und steckte ihr ein Stück Brot zu.
»Gräm dich nicht«, sagte sie freundlich und verschwand wieder. Gertrudis biss dankbar in die Rinde und machte sich an den Abwasch.
Beim Mittagessen ließ Martin die Magd wie gewohnt löffeln, aber zum Abendessen gab es wieder nichts für sie. Hungrig stand Gertrudis danach in der Küche und spülte Schüsseln und Topf. Diesmal kam niemand mit Essen herein, aber der Anschnitt vom Brot lag noch da. Das Brot war schon alt, das Endstück steinhart und eigentlich nicht essbar, aber in ihrem Hunger griff Gertrudis zu und stopfte es sich in den Mund, um es aufzuweichen.
Walburga kam in die Küche und sah die Hamsterbacken der Magd.
»Stiehlst du jetzt etwa Brot?«, fuhr sie sie an. »Raus damit. In meinem Haus wird nicht gestohlen.«
Gertrudis öffnete ihre Hand und spuckte das harte Stück hinein. Walburga griff tatsächlich danach und warf es auf den Boden. Dann trampelte sie darauf herum und blickte Gertrudis wütend an.
»Wenn ich dich noch mal erwische, du Luder«, sagte sie böse, »dann jag ich dich vom Hof.«
Walburga wandte sich ab. An der Tür drehte sie sich noch einmal um.
»Jetzt kannst du’s essen, ich hab nichts dagegen.«
Gertrudis hob das Brot vom Boden auf und warf es in den Schweineeimer. Sie hasste die Bäuerin.
»Soll dich der Teufel holen«, fluchte sie und spuckte Richtung Küchentür, »dich und deine ganze Familie.« Sie wünschte der Alten alles Unglück.
Der Königenhof konnte mit der diesjährigen Ernte zufrieden sein. Genug Hafer und Roggen hatten die Bewohner eingebracht, der Kartoffelkeller war gut gefüllt, auch Lein hatten sie ausreichend anbauen können, der jetzt in der kommenden dunklen Jahreszeit von den Frauen zu Garn und Tuch weiterverarbeitet wurde. Zur Kirchweih, der Kilbi, ging die Hofgemeinschaft fast geschlossen nach Neukirch in den Gottesdienst und feierte anschließend auf dem Platz vor dem Gasthaus Rössle bei Musik und Jahrmarkttreiben.
Am Abend ging es mit einem großen Essen im Hause Tritschler weiter, für das eigentlich Walburga verantwortlich war. Doch heute konnte sie sich nicht darum kümmern, und deswegen standen die Fallermarie, Elisabeth und Bibiane in der Küche, während Walburga in der Stube Jakobea in den Armen hielt. Ihr jüngstes Kind, das sich eigentlich gut entwickelt hatte, kränkelte seit Tagen erneut. Wieder und wieder legte Walburga Jakobea an die Brust, aber die Kleine wollte nicht trinken. Stattdessen weinte sie ohne Unterlass.
Walburga betrachtete das immer noch zierliche, jammernde Kind und war verzweifelt. Wenn Jakobea nicht langsam etwas zu sich nahm, würde sie zu schwach zum Überleben, da machte Walburga sich nichts vor. Über dieser Sorge vernachlässigte sie seit Tagen ihre Pflichten und wurde von Martin getadelt. Aber was sollte sie tun? Es ging doch um ein Menschenleben.
Bibiane kam mit einem Stoß Teller in die Stube und stellte sie auf dem Tisch ab. Dann setzte sie sich neben ihre Mutter auf die warme Ofenbank und betrachtete ihre kleine Schwester.
»Sie sieht so fahl aus«, sagte sie, »jeden Tag mehr.«
Walburga schaute ihre zweitälteste Tochter streng an. Sie sollte so etwas nicht sagen, aber die Sechzehnjährige hatte recht.
»Soll ich sie mal halten?«, bot Bibiane an.
Walburga legte das kleine Bündel in die Arme seiner Schwester und spürte Erleichterung. Bibiane wiegte Jakobea hin und her und summte ein Lied für sie. Ganz weich und zärtlich sah sie dabei aus, wie Walburga es bei der energischen Bibiane noch nie wahrgenommen hatte. Walburga war gerührt von diesem Anblick. Gleichzeitig war sie sich plötzlich sicher, dass das kleine Mädchen nicht zu retten sein würde.
Jakobea starb in der Nacht nach Allerseelen. Als Walburga am Morgen aufwachte, lag der Säugling tot neben ihr im Bett. Die Bäuerin war untröstlich. Auch Martin war traurig. Die kleinen Geschwister weinten hemmungslos.
In der Stube stellte Martin in der vorderen Ecke zwei Stühle zueinander und legte ein Brett dazwischen. So bahrten sie den Säugling auf, holten das Totenkreuz hervor und versammelten sich geschlossen um das kleine Totenbett. Pfarrer Schilling kam. Walburga sah verhärmt aus, grau, faltig. Sie fühlte sich abwesend, als säße sie woanders und hörte die Stimmen aus weiter Ferne. Ausgerechnet das dreizehnte Kind von ihnen war verstorben. Walburga hatte das Gefühl, als würde ihr eine besondere Prüfung auferlegt. Was hatte Gott mit ihnen vor? Das dreizehnte Kind.
»Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich«, sprach der Pfarrer.
»Amen«, antwortete die Hofgemeinschaft.
»Es ist Vorsehung«, fuhr der Pfarrer fort. »Es liegt nicht in unserer Hand, sondern ist allein Gottes Entscheidung, wann es Zeit ist, zu ihm zu gehen.«
Er segnete Jakobea und verabschiedete sich bald darauf. Gertrudis trat vor Walburga, die sich mit dem Zipfel ihrer Schürze die Tränen aus dem Gesicht wischte. Seit der Todesnachricht war Gertrudis von Zweifeln geplagt, ob nicht sie das Kind auf dem Gewissen hatte, nachdem sie Walburga nach dem Zwischenfall in der Küche vor wenigen Tagen so heftig verflucht hatte. Gertrudis hatte den Teufel heraufbeschworen und ihrer Kostgeberin alles Schlechte gewünscht, aber doch nicht den Tod.
»Es tut mir leid, Bäuerin. Aber du und der Bauer, ihr könnt ja froh sein, dass ihr noch so viele weitere Kinder habt, die alle gesund sind«, versuchte sie wohlmeinend ihr Beileid auszudrücken.
Walburga, die an nichts anderes als an die Zahl dreizehn denken konnte, glaubte, sie hätte sich verhört. Und deshalb sollte der Tod von Jakobea weniger schlimm sein? Ach, sie konnte diese dumme, liederliche Magd nicht länger ertragen! Die Bäuerin sprang auf.
»Raus! Raus mit dir, aber sofort. Verlass diesen Hof, ich will dich nie wieder hier sehen.«
Mit der ausgestreckten Hand wies sie zur Stubentür. Gertrudis schaute sie irritiert an und war wie erstarrt.
»Was …?«
»Raus, hab ich gesagt!«, bellte Walburga.
Martin ging dazwischen. »Du wirst jetzt nicht die Magd rauswerfen, Walburga, lass es sein.«
»Du willst nur weiter mit ihr tändeln, aber ich ertrag sie nicht mehr. Sie soll gehen. Raus!«
Walburga zitterte, aber ihre Entscheidung stand fest, auch wenn ihr Mann das letzte Wort hatte. Gertrudis hatte den Bogen überspannt, und jetzt war Schluss.
Gertrudis wirkte verschüchtert und glaubte zunächst nur an einen der üblichen Wutanfälle der Bäuerin. Einige Momente stand sie unbeweglich da und schaute von einem zum anderen. Als sie merkte, dass die Bäuerin es ernst meinte, löste sich ihre Erstarrung, sie zuckte wortlos mit den Schultern und verließ die Stube. Kaum war sie draußen, ließ Walburga den Arm sinken und setzte sich erschöpft auf die Ofenbank.
Im selben Moment erhob sich Wendelin. »Wenn Gertrudis geht, dann muss ich auch gehen.«
»Was zum Teufel …?« Martin sah seinen Knecht fassungslos an.
»Nicht fluchen!«, zischte die Fallermarie dazwischen.
»Gertrudis und ich gehen zusammen. Tut mir leid, Bauer.«
Wendelin breitete entschuldigend die Arme aus. Er spürte, dass er in seinem ganzen Leben noch nie so viel Mut gehabt hatte wie in diesem Augenblick. Jetzt war der Moment gekommen, an dem sie sich entscheiden mussten. Hinter der Stubentür wartete Gertrudis, und auch wenn sie jetzt nicht wüssten, wohin, so war doch klar, dass sie gemeinsam den Weg gehen würden. Er würde sie nicht im Stich lassen. Kaum hatte Wendelin die Stubentür zugezogen, fielen er und Gertrudis sich im Hausgang in die Arme.
»Lass uns unsere Bündel packen, und dann sind wir weg«, sagte Wendelin.
Drinnen hörte man den Bauern zürnen.
»Beide Völcher weg. Du bist ja von allen guten Geistern verlassen!«, schrie Martin seine Frau an. »Wie kannst du es wagen? Welcher Knecht geht jetzt mit mir in den Wald? Wer macht die Arbeit der Magd? Du weißt es nicht? Das ist jetzt dein Problem, du wirst es ausbaden!«
»Das ist mir gleich«, keifte Walburga zurück. »Lieber schufte ich die ganze Nacht durch, als dass ich diese Allmannshure hier noch länger ertrage. Glaubst du, ich habe nicht gesehen, wie du ihr ständig hinterhersteigst? Ist Jakobeas Tod vielleicht die Strafe Gottes dafür, dass du die Finger nicht von der Magd lassen kannst?«
»Du bist ja irre, vollkommen verrückt. Du hast wohl zu viel Zeit zum Nachdenken. Aber die Arbeit wird dir diese Gedanken schon austreiben«, entgegnete Martin wütend.
»Hört auf, alle beide«, ging die Fallermarie dazwischen. »Das ist nicht der Zeitpunkt, um zu streiten. Vor eurem toten Kind. Habt ihr denn keine Ehre?«
Sie hielt kurz inne und sah Walburga und Martin streng an, bevor sie weitersprach: »Bei Gott, reißt euch zusammen. Macht es nicht noch schlimmer. Reicht es nicht, dass euer Kind gestorben ist? Eines ist sicher: Noch mehr Unglück auf dem Hof können wir nicht gebrauchen. Also betet zu Gott, dass er uns gnädig sei.«
Walburga trug schwer am Verlust ihrer Tochter. Darüber hinaus erschien ihr die Vorstellung, noch einmal schwanger zu werden, furchterregend. Sie wollte ihre Ruhe. Sie konnte es nicht mehr ertragen, wenn Martin sich abends im Bett ihr näherte, der Atem nach Schnaps riechend, und sein eheliches Recht einforderte.
Wenige Wochen nach Jakobeas Tod sah Walburga ihre Stunde gekommen, um das fortan zu verhindern. Martin tauchte mit einem jungen Ehepaar im Haus auf und zeigte ihnen das Stüble und die darüber liegende Schlafkammer. Auch die Küche inspizierten sie, während Walburga das Mittagessen vorbereitete. Die Tränen liefen ihr gerade die Wangen herunter.
»Es sind die Zwiebeln«, erklärte sie und deutete mit dem Messer auf den Tisch vor sich.
Das war eine gute Ausrede, doch kamen Walburga seit Jakobeas Tod oft die Tränen, wenn sie allein war. Jetzt war sie dazu noch fassungslos. Denn statt noch vor Weihnachten eine neue Magd und einen neuen Knecht auf den Königenhof zu bringen, kam Martin plötzlich mit Gehausleuten daher. Untermieter, die ihren eigenen Herd in der Küche und ihr eigenes Stüble haben sollten. Sie schaute der Gruppe nach, als diese wieder ihre Küche verließ, legte das Messer nieder, wischte sich mit der Schürze die Tränen ab und folgte ihnen in die Stube.
»Walburga, bring etwas zu trinken und Brot«, befahl Martin, kaum dass sie zur Tür hineinkam.
Walburga tat wortlos, wie ihr geheißen, und ging zurück in die Küche. Die junge Frau lächelte sie freundlich an, als sie mit dem Wasserkrug wieder in die Stube trat. Augenblicklich entwickelte Walburga eine Abneigung gegen das junge Paar. Die Frau hatte lange blonde Locken und sah aus wie ein Engel. An ihrem Rockzipfel hing ein etwa dreijähriger Bub, und in ihrem Arm hielt sie einen Säugling. Walburga spürte einen Stich.
»Das sind Hilar Winterhalter und seine Frau Clara«, stellte Martin vor. »Hilar ist Uhrmacher. Sie ziehen hier ein und kriegen das Stüble und die Stüblekammer. Und Clara bekommt den zweiten Herd in der Küche.«
Walburga sah von dem Mann zu dessen Frau. Sie verspürte keinerlei Interesse daran, sich ihre Küche mit einer fremden Frau zu teilen. Was dachte sich Martin bloß?
»Wir freuen uns sehr«, sagte Clara nun. »Es ist schön, dass wir auf dem Königenhof wohnen können.«
»Auf gute Nachbarschaft«, ergänzte Hilar.
Beide strahlten Walburga an, waren froh, eine Bleibe für sich und ihren Nachwuchs gefunden zu haben. Martin vereinbarte mit ihnen, dass sie gleich am nächsten Samstag einziehen könnten. Walburga saß stumm daneben und schaute zu, wie die beiden Männer am Stubentisch ein entsprechendes Papier aufsetzten.
Nachdem die jungen Leute gegangen waren, erklärte Martin, dass die Fallermarie das Stüble samt Stüblekammer zu räumen hatte.
»Einverstanden«, erwiderte Walburga bestimmt, »wenn das so ist, dann schläft die Mutter ab sofort bei mir. Du kannst in die leere Knechtskammer ziehen. Da ärgere ich mich auch nicht, wenn du dich viel später als ich volltrunken hinlegst und die ganze Nacht schnarchst.«
Erstaunlicherweise hatte Martin keinerlei Einwände. Noch am selben Abend zog er um. Das Ehepaar Tritschler würde nie wieder beieinanderliegen.