Читать книгу Schneesturz - Der Fall des Königenhofs - Julia Heinecke - Страница 7
Samstag, 24. Februar 1844, abends
ОглавлениеDraußen stürmte es, den ganzen Tag schon. Jetzt, in den dunklen Abendstunden, ächzte und stöhnte das alte Haus sogar noch lauter als zuvor. Regen fiel hart auf das Schindeldach und ließ den Schnee in großen Brocken krachend auf den Boden fallen. Tauwetter.
Maria Beha sah von ihrer Stopfarbeit auf zu ihrem Mann Philipp, der am Stubentisch im Schein der Tranfunzel saß, vor sich das fast fertige Gestell einer Schwarzwalduhr. Er hatte genauso übermüdete Augen wie sie.
Ihre eigene Kuckucksuhr, die neben dem Herrgottswinkel hing, öffnete geräuschvoll ihr Türchen. Der Kuckuck sprang heraus und rief zehnmal.
»Zeit zu schlafen«, erklärte Maria.
»Bin fast so weit«, erwiderte Philipp Beha und setzte das Stemmeisen geschickt an.
Wenn er dieses Uhrengestell noch fertigstellte, konnten morgen früh seine Söhne Blasius und Philo es auch noch mit der restlichen Ware nach Urach bringen.
»Wo bleiben die Buben?«, fragte er, ohne aufzuschauen, während er seine Arbeit auf Fehler untersuchte.
»Sie sind noch drüben beim Königenbauern«, antwortete Maria, »aber sie werden sicher bald kommen, sie müssen schließlich morgen früh aufbrechen.«
Sie hielt ihr Gesicht dicht an die verregnete Fensterscheibe und blickte angestrengt nach draußen. Sie konnte nur einen schwachen Lichtschein erkennen, obwohl der Königenhof nicht mehr als einen Steinwurf von ihnen entfernt lag, zweiunddreißig Schritte genau.
»Sie spielen zu oft und zu lang mit dem Tritschler«, brummte Philipp.
Maria wandte ihr Gesicht vom Fenster ab und stand auf, um nicht antworten zu müssen, denn er hatte ja recht. Sie legte ihr Stopfzeug in den Korb auf der Fensterbank.
»Ich geh hoch«, gab sie das Zeichen zum Aufbruch.
»Ist recht.«
Maria zog wie jeden Abend die Zapfengewichte der Kuckucksuhr hoch, bevor sie über den schmalen Stiegenkasten die Treppe in die Schlafkammer, die über der Stube lag, nahm. Die Türe blieb geöffnet, sodass die Kachelofenwärme von unten nach oben zog. Maria zog ihr Nachtgewand und die Haube an, hockte sich über den Nachttopf, sprach schließlich ihr Nachtgebet und legte sich ins Bett. Wenig später folgte ihr Ehemann. Wie jeden Abend hatte er abgewartet, bis sie zugedeckt im Bett lag. Maria löschte die Kerze in der Laterne und zog die Vorhänge zu. Jetzt war es stockdunkel.
Wie gewohnt schlief Philipp schnell ein, während seine Frau wach auf ihren vielen Kissen lag. Sie hörte sein Schnarchen und ging im Geiste durch, woran sie morgen zu denken hatte. Den Söhnen ein Vesper richten, damit sie in Urach zu essen hatten und nicht Geld im Gasthaus ausgeben mussten. Hoffentlich würde der Sturm bis dahin aufgehört haben. Den großen Kessel mit Salz ausreiben, denn er hatte unten eine Schicht angesetzt. Die alten Leinentücher ausbessern. Brotteig ansetzen.
Normalerweise half ihr die Gewohnheit, den nächsten Tag zu planen, um in den Schlaf zu finden. Heute Abend jedoch wollte sich keine Bettschwere einstellen. Maria spürte eine innere Unruhe. Es musste am Sturm liegen.
Der Wind rüttelte zornig an den Fenstern, und der Regen prasselte ohne Unterlass. Fast glaubte Maria, dass der Holzschieber aus der Halterung fiele. Da gab es plötzlich ein gewaltiges Donnern und Dröhnen. Das ganze Haus zitterte. Maria richtete sich erschreckt auf und sprach schnell in die Dunkelheit ein Vaterunser. Es dröhnte und zitterte noch immer. Sie sprach ein zweites.
»Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.«
Schlagartig war Ruhe. Wind und Regen wirkten auf einmal ganz leise. Der Kuckuck unten in der Stube rief unbeeindruckt elfmal. Philipp schnarchte. Maria rüttelte an der Schulter ihres schlafenden Mannes.
»Philipp, hast du das Schausen gehört?«
»Welches Schausen?«, fragte er verschlafen, ohne sich zu rühren.
»Ein Dröhnen und Donnern. Ein … gewaltiges Schausen. Alles hat gewackelt. Seltsam. Wie kannst du es nicht gemerkt haben?«
»Das ist doch nur der Sturm«, Philipp tastete im Dunkeln nach der Hand seiner Frau und streichelte sie kurz, »ein Windstoß. Sorg dich nicht. Morgen ist es vorüber. Und jetzt schlaf.«
Er nahm seine Hand weg und drehte sich schwerfällig um. Bald ertönte erneut sein Schnarchen. Maria jedoch sollte die ganze Nacht keinen ruhigen Schlaf finden.