Читать книгу Die Architektur des Knotens - Julia Jessen - Страница 10

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WIR HABEN ES INS AUTO GESCHAFFT. Die Salatschüsseln stehen zwischen meinen Füßen, ich strecke den Rücken durch und erschrecke mich selbst, wie laut ich dabei stöhne. Der Verkehr ist eine Katastrophe. Richtung Hauptbahnhof blockiert ein Müllwagen unsere Fahrbahn und es staut sich.

Neben dem Müllwagen steht ein Möbeltransporter, die Außenspiegel der beiden haben sich anscheinend verhakt und die Fahrer brüllen sich durch die Fensterscheiben an.

Wohn dich glücklich, steht auf dem Transporter.

Mika liest Johns Comics, John starrt aus dem Fenster. Ich fange an, Kartoffelscheiben unter der Frischhaltefolie rauszufummeln und mir in den Mund zu schieben. Ich mag Kartoffeln. Vor allem in Mayonnaise, überhaupt in Soßen. Kartoffeln erden mich, egal, in welcher Variante.

Eine Horde Jugendlicher mit Rucksäcken zieht vor uns über den Zebra streifen. Wölfe, denke ich. Neandertaler und Wölfe. Und ich muss an die Stadt denken, die Stadt, die die Jungs vor einigen Monaten gebaut haben.

Die Jugendlichen ziehen einen Bollerwagen hinter sich her, voll mit Bierdosen. Die Stimmung zwischen ihn perlt auf und ab, sie sehen aus, als würden sie den Boden gar nicht berühren. Noch vor einem Jahr hätte ich mich darüber lustig gemacht, über ihre unwissende Vorfreude, ihr Lachen, das immer zu laut ist, hätte ihre ausladenden Gesten Gehabe genannt und darin nur das lächerliche Bedürfnis erkannt, sich ständig selbst fühlen zu wollen.

Jetzt kriecht eine Sehnsucht genau danach durch meinen Körper, die mir unangenehm ist.

Ein dunkelhaariger Junge hat seinen Arm um eine Blonde gelegt, eine sehr Hübsche. Sein Arm schwebt auf ihren Schultern, als wüsste der Arm nicht so genau, ob es ihm erlaubt wäre, dort zu sein. Der Junge traut sich was. Ich erinnere mich daran, wie es sich in diesem Alter angefühlt hat, wenn man alles riskiert, mit nur einer Bewegung, sein ganzes Selbstverständnis. Sieg oder Niederlage. Vielleicht ist das immer noch so.

Sie lässt ihn und sein Gesicht explodiert fast unter einem schmalen, scheuen Lächeln.

Wie sehr ich ihn fühlen kann, hier im Wagen, durch die Scheibe starrend, mit Kartoffelsalat zwischen den Füßen.

Wo fahren die hin? Ich würde gern wissen, was sie sich ausmalen … was sie denken, was passieren könnte … dort, wo sie hinfahren. Geister, die sich mitten in ihrem eigenen Urknall befinden, die alle ihre eigene Sonne sind.

Ich seufze schon wieder und stecke weiterhin Kartoffeln in meinen Mund. Mein Leben fühlt sich an, als würde ich in einem fertigen Gemälde leben.

Denke an die Playmobilfrau und strecke mit Schwung meine Arme gerade nach vorne.

»Was ist jetzt los? Glaubst du, das hält dich davon ab, den Kartoffelsalat aufzuessen?«, fragt Jonas mit einem kurzen Seitenblick.

Er bringt mich zum Lachen und ein bisschen dankbar lege ich meine Hand auf sein Bein und drücke kurz und fest zu.

Die Truppe Neandertaler mit dem Bierbollerwagen verschwindet im Hauptbahnhof.

Ich beneide sie, weil für sie alles offen ist, sie haben keine Ahnung, was als Nächstes passiert. Alles könnte passieren.

Ich weiß genau was gleich passiert. Ich weiß ziemlich genau alles, was gleich passiert, und auch, wie es ablaufen wird.

Wir sind im Speckgürtel der Stadt gelandet. Jonas’ Eltern haben mit Abstand noch das unauffälligste Gartentor. Eines, das nicht so aussieht, als wolle es die Köpfe ungebetener Gäste aufspießen. Manche Zäune hier haben sogar goldene Spitzen.

Während ich versuche, den Kartoffelsalat wieder so zu arrangieren, dass er nicht halb weggefressen aussieht, und dazu muss ich so viel Mayonnaise vom Rand runterwischen und dann von den Fingern lecken, dass mir langsam schlecht wird, jammre ich darüber, dass jetzt nicht mehr genug Kartoffelsalat da ist.

Jonas sagt, er würde eh nicht verstehen, warum ich mir mit den Salaten so einen Stress mache, seine Mutter hätte garantiert auch einen Kartoffelsalat und einen Tomatensalat gemacht. Wie immer. Erst schiebt sie es dir zu, sagt er, und dann macht sie es trotzdem selbst. Das weißt du doch.

Die Jungs schnallen sich ab, obwohl wir noch nicht angehalten haben. »Wir sind eingeladen und sie hat darum gebeten«, sage ich. »Das macht man einfach nicht, dass man dann nichts mitbringt.« »Aha«, sagt er, so als wäre das nur eine spießige Vorstellung von mir. »Ich möchte auch nicht, dass wir eine Familie sind, die kommt und nichts mitbringt. Einer muss es also machen.«

»Dann mach es, wenn es dir wichtig ist«, sagt er. Dafür könnte ich ihn …

Kaum stehen wir, passieren mehrere Dinge gleichzeitig. Die Jungs öffnen beide ihre Autotür und stürmen in Richtung Haustür, die sich in diesem Moment öffnet. Jonas’ Eltern stehen in der Tür, wie zwei Heilige in einem Adventskalendertürchen. Die Autotüren bleiben natürlich offen, Jonas stöhnt, steigt aus und knallt sie nacheinander zu. Im gleichen Augenblick stürmen die Jungs ins Haus, vorbei an Oma und Opa und dann fällt die Haustür hinter den Vieren mit lautem Knall ins Schloss. Das war’s dann, denke ich, ohne Zusammenhang.

Jonas und ich stehen allein in der Einfahrt, wie die Zuschauer einer seltsamen Rhythmus-Performance.

»Was war das denn jetzt?«, frage ich, weil ich gern noch ein bisschen mit ihm hier stehen möchte. Wir könnten uns auf den Kies setzen. Ich könnte meinen Kopf an seine Schulter lehnen.

Jonas zuckt mit den Schultern, er murmelt irgendwas vor sich hin und kramt seinen Schlüssel aus der Tasche. Ich nehme die Schüsseln und trotte hinter ihm her zum Haus.

»Kannst du dann bitte die Kiste aus dem Kofferraum mitnehmen?«

Jonas dreht sich zu mir um und fragt mich, welche Kiste ich meine.

Im Flur stellt er die Kiste ab, streckt sich und stöhnt dabei so laut, als wäre er den ganzen Weg zu Fuß gegangen. Mir fällt auf, dass er das oft macht bei seinen Eltern. Stöhnen und seufzen. Es führt immer dazu, dass Inge ihn fragt, wie es ihm geht, und ihm sagt, er solle sich hinsetzen. Inge taucht aus der Küche auf und küsst ihren Sohn zwei Mal und mitten auf den Mund.

»Na, du Lieber«, sagt sie. Dann küsst sie mich ebenfalls, auf die Wange, und schaut in die Schüsseln. »Ach, du Liebe, du hast Salate gemacht!« Als ob das eine Überraschung wäre, denke ich.

»Jetzt hab ich aber auch welche gemacht.« Sie legt tatsächlich beide Hände über den Mund und sieht mich erschrocken an. »Na ja, besser zu viel als zu wenig, oder? Das kriegen wir schon weg«, murmelt sie hinter ihren Händen und macht dabei einen kleinen sinnlosen Hüpfer.

Inge ist das, was man eine liebe Frau nennt. Sie gibt sich immer Mühe. Das ist allerdings genau das, was mich anstrengt, dieses sich Mühe geben, es gibt mir das Gefühl, ihr ständig helfen zu müssen, und dazu habe ich keine Lust.

Ich drücke ihr die beiden Schüsseln in die Hand und bleibe im Flur stehen.

Jonas fragt, ob er was helfen kann. Inge lacht und sagt: »Ja, du kannst dich in den Garten setzen und den Weg frei machen.«

Mein Blick wandert ziellos über die Wände, weil ich noch darüber nachdenke, ob sie damit meint, dass ich jetzt in der Küche helfen soll, und bleibt dann an einem Kalender hängen. 2015 steht da.

Eine Möwe fliegt durch einen blauen Himmel über ein blaues Meer, kaum erkennbar, was Luft und was Wasser ist. Solche Bilder sind nichts für mich.

Haben wir nicht 2016?

Haben sie vergessen, den abzunehmen, oder ist das mittlerweile egal? 2015 … 2016?

Macht das tatsächlich einen Unterschied? Ich komme zu dem Schluss, dass die Jahre ziemlich gleichförmig geworden sind. Sie unterscheiden sich in Kleinigkeiten, manchmal gibt es Neuigkeiten, aber im Großen und Ganzen tun sie das, was man von ihnen erwartet.

Wenn Weihnachten abgebaut ist, kann man auch gleich schon wieder Ostern aufbauen. Irgendwas ist immer los.

»Danke, dass du an den Champagner gedacht hast.« Jonas streicht mir kurz über den Rücken. Ich nicke. Er geht raus. Ich bleibe im Flur zurück.

»Hallo Jochen.«

Jonas Vater kommt die Treppe herunter und wedelt mit zwei Büchern, eines in jeder Hand.

»Hallo Gnädigste«, sagt er und küsst meine Hand. Ich mag Jonas’ Vater. In der curryfarbenen Cordhose mit dem grünen Pullover und den wirren grauen Haaren sieht er aus wie ein verstrahlter Physikprofessor. Jochen ist auch ein freundlicher Mensch. Jonas stammt von zwei wirklich freundlichen Menschen ab, denke ich.

Trotzdem ärgere ich mich über die Salate, die ich umsonst gemacht habe, und darüber, dass Jonas jetzt draußen auf der Terrasse sitzt und Inge mich tatsächlich in die Küche ruft und mir eine Tischdecke in die Hand drückt. Ich habe auch noch immer keinen geeigneten Platz für diesen lästigen Gedanken gefunden, der mir seit heute Morgen durch den Kopf wandert.

Mein Körper ist nervend unruhig. Ich stehe mit der gefalteten Tischdecke in der Hand einen Moment zu lange in der Küchentür.

»Bitte auf den Gartentisch.«

Ich nicke und gehe mit der Tischdecke nach draußen.

Die Jungs sind am Gartenteich und suchen nach Fröschen. Jonas sitzt seitlich auf einer Gartenliege und starrt auf sein Telefon.

Der Holztisch ist noch feucht vom morgendlichen Regen. Ich weiß gar nicht, was ich damit meine, dass ich »das so nicht will«.

»So« ist ein sehr kleines Wort, es hat nur zwei Buchstaben und kann in diesem Satz alles und nichts meinen. Ich mag mein Leben. Ich mag die Menschen darin. Ich weiß gar nicht, wie ich es anders machen sollte. Es fehlt nur so viel. Mir ist so vieles abhandengekommen. Es reicht einfach nicht. Der Gedanke hinterlässt eine ungute Spur, während er über alle anderen Gedanken des Tages rüberkriecht. Wie Schneckenschleim klebt er an allem, was geschieht, und beschmutzt es.

Ich werfe das Tischtuch in die Luft, halte es nur an zwei Zipfeln, es flattert hoch und ich sehe zu, wie es sich aufbläht. Ein Segel. Alles wird weiß, Jonas und die Kinder verschwinden dahinter.

In dem kurzen Moment zwischen Steigen und Fallen, in dem die Tischdecke jetzt schwebt, halte ich die Luft an. Dann sinkt sie herab und begräbt den feuchten Holztisch unter sich.

Alles weiß. Alles weg.

Mein Blick wandert über die leere weiße Fläche. Nichts drauf. Noch nicht. Ein weißes, leeres Blatt. Plötzlich landet ein Maikäfer. Dunkel, kein schönes Braun, mit seinen kleinen Füßchen kratzt er über den weißen Stoff. Fliegen die nicht eigentlich in der Dämmerung?

Er bewegt sich langsam, es hat etwas Unheilverkündendes, wie er sich über die weiße Fläche bewegt, wie eine dunkle Vorahnung. Ich bilde mir plötzlich ein, das Geräusch der Füße zu hören, das Kratzen, natürlich ist das eher unwahrscheinlich.

Er sitzt jetzt einfach nur da, in der Mitte der scheinbar unendlich weißen Weite und bewegt sich nicht mehr. Im Hintergrund, in der Unschärfe, sehe ich verschwommen die Farben von Inges Blumen. Verschwommenes Blau und Rot. Und viel zu viel Gelb.

Der dunkle Käfer ist mir unangenehm. Sein Verharren hat etwas Bedrohliches.

Ich halte die Schüssel mit dem Kartoffelsalat in den Händen und warte. Ich habe es, glaube ich, noch nicht mal gesehen, höchstens geahnt oder gespürt, die kleine Bewegung seiner Flügel, das leichte, unmerkliche Anheben, und in der Sekunde, in der ich denke, jetzt hebt er ab und fliegt weg, lasse ich die Schüssel auf ihn niedersinken. Ich stelle sie auf den Tisch. Mitten auf den Tisch. Mitten auf den Käfer. Meine Hände drücken die Schüssel immer weiter nach unten. Ich zerquetsche ihn. Den dunklen Botschafter. Es fühlt sich an, als hätte ich das Richtige getan. Meinen Gedanken zerquetscht.

Ich stehe da, halte die Luft an und spüre, wie meine Füße sich in den Boden drücken. Die Kraft, mit der ich ihn zerquetsche … ich hab sie wirklich nicht mehr alle.

Alle decken den Tisch gemeinsam, die Jungs kriegen eine Menge guter Tipps und Ermahnungen von ihren Großeltern.

Inge zeigt ihnen, wie man das Besteck richtig hinlegt, und schickt sie dann rein, um die bunten Plastikbecher zu holen. Ich stehe viel rum, hauptsächlich im Weg.

»Es ist wichtig, dass die Jungs die Benimmregeln lernen«, sagt Inge zu mir im Vorbeigehen.

Ja. Ist mir auch klar. Ich nicke und sage nichts dazu. Was soll ich dazu sagen? Ich habe einen Käfer getötet.

Ich weiß, dass sie mich nicht kritisieren wollte. Die Jungs liegen ihr am Herzen. Inge würde alles für die Jungs tun, das weiß ich, sie fühlt sich verantwortlich. Jochen und Inge sind immer mit ganzem Herzen bei den Kindern, immer etwas erschöpft, wenn wir lange bei ihnen waren, und wahrscheinlich auch erleichtert, wenn wir endlich wieder gehen … Großeltern sind vielleicht so … wahrscheinlich war es doch eine Kritik …

Die weiße schwere Schüssel steht in der Tischmitte, der Käfer liegt darunter. Tot. Mit Sicherheit tot. Niemand hat die Schüssel bis jetzt angehoben. Es ist etwas, worauf ich warte. Dass jemand die Schüssel anhebt. Meine Tat entdeckt. Fast wünsche ich es mir.

Ich betrachte die vielen Hände. Die Bewegungen, die sie machen, wandern durch meinen leeren Blick. Johns Hand, wie sie die Becher schiebt, einen blauen und ein grünen, an seinen Platz, da ist Jonas’ Hand, die das Telefon auf den Tisch legt, Inges Hände mit Tellern, dann Gläsern und immer noch mehr Schüsseln. Ich beobachte, wie all diese Hände Bewegungen ausführen, sanfte, bestimmte, fordernde oder ungeduldige, so als hätten sie ihre eigene Sprache, sie erzählen, unbemerkt von ihren Besitzern. Ich beobachte Inges gleichbleibendes Lächeln, während ihre Hände die Lage der Messer, die Mika mal rechts, mal links neben die Teller geschoben hat, mit eifriger Beharrlichkeit korrigieren.

Mikas kleine Hand greift über den Tisch, Johns Hand hat Apfelsaft in die Becher gegossen, Mikas Hand greift nach dem grünen. John greift nach Mikas Hand und hält sie fest: »Grün ist meiner!«

Mika reißt den Arm weg und der Becher kippt, Apfelsaft läuft über das weiße Tischtuch.

Jochens Hand haut auf den Tisch, Inges legt sich darüber und ich sehe den Druck, mit dem sie seine Hand nach unten drückt.

»Och nee, Jungs!« Inges Gesicht zuckt unruhig. Erst da ruckt mein Kopf nach oben.

»Lass Inge«, sage ich. Bin auch schon aufgestanden. Inge aber auch.

»Ich hol einen Lappen. Lass. Lass, Inge, ich mach das schon.«

Die Küche steht voller Schüsseln, Salate, Dips, ich zähle mindestens drei verschiedene Nachspeisen. Dann entdecke ich die Uhr. Inge hat sich die Landhausuhr gekauft und ich erinnere mich, dass ich die tatsächlich auch in der Hand hatte. Als Ersatz für meine, die ich hässlich finde. Auf der hier ist der schwarze Hahn, den ich im Laden auch kurz gut fand, obwohl ich die Idee dieser Uhr, so zu tun, als hätte unser Leben irgendwas mit Land und Hühnern zu tun, überhaupt eine Uhr, die auf Antik macht, während sie gerade aus Taiwan eingeschifft wurde, ablehne. Das ist auch nichts anderes, als Botox in Falten zu spritzen, nur andersrum eben.

Ich habe einen lächerlich wütenden Gedanken, einfach nur weil ich vor ein paar Tagen eine Uhr in der Hand hatte, die einer Frau wie Inge offensichtlich auch gefällt. Ich mag Inge … ich will aber nicht die gleichen Uhren mögen wie sie. Ich werde irgendwann diese ordnenden Hände bekommen, denke ich, Hände, die alles immer wieder dorthin schieben, wo es hingehören soll. Hab ich ja jetzt schon. Mit leerem Blick starre ich noch immer auf die Uhr, während ich den toten Käfer vor mir sehe, sein dunkles Brummen höre. Wie eine Warnung klingt das.

Es klingelt an der Tür und ich bin froh darüber.

Frank steht vor mir und grinst mich an. Er trägt eine dünne, rote Outdoorjacke und wie immer einen Rucksack.

»Du musst aufhören, diese Rucksäcke zu tragen«, sage ich und lächle ihn an, weil ich mich wirklich freue, ihn zu sehen.

Frank sagt, den Teufel werde er tun, und nimmt mich fest in den Arm. Es ist schön, dass Frank die Leute immer richtig in den Arm nimmt, man fühlt sich gemeint und kurz lass ich mich reinfallen, in seinen Körpergeruch und in die Wärme dahinter.

Hinten am Auto sehe ich Andrea, kopfüber ins Auto gebückt, ihr schwarzer Rock ist hochgerutscht, ich kann ihr fast zwischen die Beine sehen. Sie taucht mit fünf Baguettebroten aus dem Auto auf. Was denkt sie denn, wie viele Leute kommen? Warum bringen alle immer so viel mit? So viel Essen. Wozu brauchen wir so viel Essen?

»In meinem Rucksack ist heute Champagner«, Frank grinst mich an, »denn … was ist heute für ein Tag … na?«

»Wenn ich nach dem Kalender meiner Schwiegereltern gehe, irgendwas mit 2015«, sage ich.

»Nein! Das ist ganz falsch! Heute ist der große Tag des vierjährigen Praxisjubiläums und das werden wir feiern!«

»Geh mal rein jetzt, bitte«, Andrea schiebt ihn mit den Broten durch die Tür und Andrea und ich drücken kurz unsere Körper aneinander und küssen uns auf die Wange, wie man das eben so macht.

»Wir haben auch Champagner mit«, sage ich. Ich schicke die beiden raus in den Garten und hole dann die Flaschen aus dem Kühlschrank. Als ich wieder auf die Terrasse komme, fragt Inge mich nach dem Lappen und steht dann auf, um ihn selbst zu holen.

Die Sonne ist fast schon heiß geworden. Meine Strickjacke habe ich zur Seite gelegt. Es ist schön, im T-Shirt hier zu sitzen und warme Haut zu haben. Ich lehne mich zurück und beobachte die Jungs. Inge hat Champagnergläser mitgebracht und Jochen schenkt ein.

»Auf vier fantastische, erfolgreiche Jahre und unsere geile Freundschaft und, nicht zu vergessen, auf unsere fantastischen Patienten! Auf uns, Jonas! Die zwei besten Physiotherapeuten der Stadt!«

Frank sagt das tatsächlich mit hörbarer Rührung in der Stimme, nachdem er mit der Gabel fast sein Glas kaputt gehauen hat.

»Vier fantastische Jahre und geile Freundschaft, jawoll … fantastische Patienten … davon weiß ich nichts«, sagt Jonas und lacht.

Andrea küsst Frank und wie im Reflex küsse ich Jonas.

Dann sage ich schnell: Skål!

Wir trinken. Die Praxis läuft gut. In den Büchern, die Jochen mir vorhin im Flur in die Hand gedrückt hat, geht es um die Tiere des Waldes. Steht auch ’ne Menge über Eichhörnchen drin.

Das ist doch praktisch für mich. Ich habe mich dafür bedankt. Eigentlich ist alles gut.

Und das »Eigentlich« ist so dunkel wie der zerquetschte Käfer unter der Schüssel.

Die Schüssel steht immer noch an ihrem Platz. Hoffentlich hebt niemand sie hoch. Ein Gefühl, als hätte ich was zu verbergen, beschleicht mich … ich wollte einfach nur, dass das Kratzen, das dunkle Brummen, dass das Geplapper in meinem Kopf aufhört. Ich trinke mein Glas aus und Inge fragt, wann wir morgen nach Dänemark losfahren.

»Ich muss noch packen«, sage ich.

John krabbelt in letzter Zeit häufiger auf meinen Schoß. Das ist eher ungewöhnlich für ihn, er ist ja auch fast neun, aber ich mag es. Ich habe mir abgewöhnt, ihn zu fest an mich zu drücken und ihm durch die Haare zu streicheln, denn dann verschwindet er sofort wieder. Am besten geht es, wenn ich ganz selbstverständlich tue, so als würde ich gar nicht bemerken, dass er da ist. Dann bleibt er etwas.

»Ich denke, wir fahren morgen ganz früh los«, sage ich, als ich Inges fragenden Blick bemerke. Hatte ich das eben nicht schon gesagt?

»So schade, dass wir nicht mitkommen können.« Andrea verzieht den Mund. »Ich wäre lieber in Kopenhagen, als auf der goldenen Hochzeit von Franks Eltern rumzuhängen.«

»Musst du mit leben«, sagt Frank. »Aber Jonas, du musst Sven und Mille von mir grüßen, ich ruf ihn auch noch mal an, sag ihm das.« Jonas nickt.

Jonas fragt mich, ob wir eigentlich über die Brücke oder mit der Fähre fahre wollen. Mika ruft sofort: »Fähre! Fähre!« John sagt: »Nee, Brücke natürlich.«

Daraus entsteht eine lange Diskussion, die ich nicht weiter verfolge. »Ich freu mich auf die Taufe«, sage ich zu Inge, weil ich das Gefühl habe, ich müsste auch mal was zur Unterhaltung beitragen.

»Ja, Taufen sind wunderschön«, sagt Andrea und lächelt vor sich hin.

»Unsere Kinder sind nicht getauft«, sagt Jonas, »aus gutem Grund.« Jetzt kommt ein Vortrag, denke ich.

Andrea fragt: »Wieso?«, und ich lehne mich zurück.

Jonas sucht nach seinem Glas. »Wo ist mein Glas, Mama, das stand hier doch eben noch?«

Er lehnt sich auf eine Art zurück, die mir missfällt. Breitbeinig und in der Gewissheit, dass er die besseren Argumente auf seiner Seite hat. Das Gespräch ist im Grunde schon beendet, bevor es angefangen hat, denke ich.

»Entschuldige, das habe ich schon abgeräumt … ich dachte, du bist fertig«, sagt Inge.

Jonas gießt den Rest aus der Champagnerflasche in Mikas grünen Becher.

Inge zieht die Schultern hoch. »Jonas, ich bitte dich, trink das doch nicht aus dem Plastikbecher, ich hol dir ein Glas.« Sie ist aufgestanden.

»Lass, Mama, ich trink das jetzt hier draus.«

»Das ist aber Mikas Becher«, sage ich. Ordnende Hände, denke ich.

»Ich denke, Rituale sind wichtig, sie festigen die Gesinnung«, sagt Frank plötzlich.

Jonas lacht laut auf. »Was ist denn mit dir los, Frank? Bist du besoffen oder was? Wo hast du das denn wieder gelesen?«

»Nee, ernsthaft, es ist ein Versprechen, ein Schwur und so was wirkt total auf die eigene Psyche zurück.«

»Aha«, Jonas leert den grünen Becher mit einem Schluck und gießt dann Weißwein rein.

»Jetzt nimm doch bitte das Glas, Jonas!«, ruft Inge.

»Es ist einfach nur ein Ritual«, sagt Andrea, »so wie eine Hochzeit eben. Und das macht doch schon was mit einem, oder?«, fährt sie fort, »es macht einem den Moment bewusster. Man trifft eine klare Entscheidung …«

»Es war richtig, den Käfer zu töten«, denkt es laut in mir.

» … man teilt es laut mit, das macht es verbindlicher, oder?«

Sie streichelt dabei die ganze Zeit Franks Bein, ich beobachte das unter dem Tisch, weil ich zurückgelehnt sitze, und als sie den Satz beendet hat, küsst sie ihn. Mir fällt auf, dass Jonas und ich beide zurückgelehnt sitzen. Auch das missfällt mir. Ich setze mich aufrecht hin. »Was macht das verbindlicher? Welche Entscheidung? Versteh ich nicht.« Jonas Stimme stachelt. Ich weiß, dass er darauf steht, Leute herauszufordern. Seine Augen sind wach und fixieren Andrea. Um seinen Mund herum flackert dieses amüsierte Lächeln, mit dem er abwartet. Er weiß sowieso schon, was er sagen wird. Er wartet nur ab. Mir ist das zu anstrengend, ich möchte hier einfach nur in der Sonne sitzen. Ich lehne mich wieder zurück. Es war ein Ritual, den Käfer zu töten, eine Entscheidung, denke ich.

»Hochzeit verstehe ich ja, das Versprechen, das man sich gibt und so, klar, aber Taufe? Wollen sie das Kind in Gottes Hände geben? Wirklich? Wozu denn bitte?«

»Na ja, allgemeiner vielleicht«, sagte Andrea, »man bittet doch um Schutz. Man will das Kind vielleicht unter irgendeinen Schutz stellen, es beschützt wissen, irgendwie so vielleicht«, ihr Blick schwingt hilfesuchend in Franks Richtung.

»Also, ich finde das richtig schön, so eine Taufe«, sagt Inge und stellt ein neues Glas vor Jonas.

»Ich hab doch gesagt, ich brauch das nicht, Mama.«

»Lass sie doch«, sagt Jochen, »sie läuft halt gern hin und her.« Er zieht kurz die Schultern hoch und lässt sie dann wieder fallen.

»Ich laufe überhaupt nicht gern hin und her, Jochen, ich sorge nur dafür, dass alle ein Glas haben.« Inge setzt sich mit verschränkten Armen hin. Jochen legt den Arm um sie.

Inges Arme bleiben verschränkt.

Es kommt mir plötzlich so vor, als würde alles nach einem unsichtbaren Plan ablaufen.

Ein festgelegter Fahrplan. Inges Hand auf Jochens Hand. Jochens Arm auf Inge.

Unbeweglichkeit. Dunkle Käfer zerdrücken, kurz bevor sie abheben. Andreas Blick. Der Witz, den sie dann erzählt. Die ganze Reaktionskette. Ich kann sie sehen.

Ich bin gar nicht gut drauf heute.

»Im Flur hängt übrigens der Kalender von 2015.« Das musste ich jetzt sagen.

»Ja, Inge gefällt das Bild«, sagt Jochen und drückt Inges Hand. Inge ringt sich ein leichtes Lächeln ab.

Offensichtlich bin ich wirklich in keinem sehr guten Zustand in letzter Zeit. Ständig habe ich das Bedürfnis, Essen in mich reinzustopfen. Umso weniger Worte aus meinem Mund kommen, desto größer ist mein Bedürfnis, meinen Mund mit Essen voll zu machen, etwas zu schmecken, nein, eigentlich schmecke ich gar nichts. Die Menschen strengen mich an, mich eingeschlossen, und dann möchte ich trinken. Sobald ich irgendwo bin, will ich was trinken, damit dieses Geplapper in meinem Kopf aufhört. Zwischen den Menschen, die um mich herum reden, der angestrengten Suche nach etwas Sinnvollem, das ich erwidern könnte, und meinen lauten Gedanken, die alles kommentieren und ständig auf mich einreden, in diesem ganzen Durcheinander sitze ich wie in einem Vakuum aus Stille, in einer fürchterlichen Spannung, die mir den Nacken hochkriecht und von der ich Kopfschmerzen bekomme.

Ich will jetzt nach Hause und packen.

Der Gedanke in meinem Kopf wiederholt sich ständig. Dass ich noch packen muss. »Wenn du nach Hause kommst, packst du erst mal«, denke ich.

Mein Körper ist so unruhig.

Es ist wie ein innerer Irrsinn. Manchmal sage ich zu mir selbst: »Ja, ist gut jetzt. Ruhe jetzt.« Wenn ich nicht wüsste, dass ich relativ normal bin, würde ich denken, ich bin verrückt.

Jochen ist aufgestanden und legt Frank die Hand auf die Schulter: »Los komm, Frank, Würstchen auf den Grill.« Das ist Jochens Art, Gäste in die Familie zu integrieren. Auch das habe ich vorausgesehen.

Frank steht auf, nicht ohne dass Andrea ihn schon wieder küsst. Das hat aber wirklich schon was Zwanghaftes, denke ich.

»Oh, ich hab noch was im Auto vergessen, du liebes bisschen, ich hab doch Nachtisch gemacht.« Andrea springt auf und macht sich auf den Weg zum Auto.

Jonas starrt auf sein Handy und liest irgendwas. Suchbegriff Taufsprüche, sehe ich.

»Lass die beiden doch in Ruhe«, sage ich zu ihm.

»Nee, ich google das jetzt mal. Das nervt mich, wenn Frank immer so nachgeplappertes Zeug von sich gibt. Der hat das einfach nur irgendwo gelesen.«

»Na und. Ist doch egal. Die heiraten bald, da schaltet sich eben manchmal das Gehirn ab.« Wahrscheinlich versuche ich, mit ihm gemeinsam über etwas zu lachen.

Aber Jonas schüttelt mit dem Kopf und starrt weiter auf sein Telefon. »Mein Gehirn war an, als ich dich geheiratet habe«, sagt er, »definitiv an«, und dabei liest er weiter.

Er guckt einmal kurz hoch und sieht mich an, als hätte ich eben was Dummes gesagt.

Hab ich das?

»Guck mal hier! So was. Das meine ich.«

Er liest immer noch vor sich hin. »Ich kann so nichts sehen«, sage ich.

Andrea kommt zurück und stellt eine halbgeschmolzene Schokoladencreme auf den Tisch. Noch eine Schüssel. Vier verschiedene Nachspeisen.

Jonas liest laut:

»Das Wasser in der Taufe steht als Zeichen für Gottes ›Ja‹. Das ›Jasagen‹ Gottes, der Segen Gottes geschieht im Sakrament der Taufe mit dem Element des Wassers. Dazu kommt der Heilige Geist – wie schon bei der Taufe von Jesus der Heilige Geist in Form einer Taube am Himmel sichtbar war. In der Taufe sagt Gott uneingeschränkt ›Ja‹ zu dem Menschen, der getauft wird, heute also ganz deutlich zu Emily. ›Ja, du bist meine geliebte Tochter; ich werde bleiben bei dir bis ans Ende Deines Lebens und darüber hinaus. Du bist einmalig und wertvoll. Du bist ein wunderbares Geschöpf des Schöpfers.‹«

»So«, sagt er und lehnt sich zurück. »Was bedeutet das?«

Andrea ist mit der Frischhaltefolie auf ihrer Schüssel beschäftigt. »Wer ist Emily?«

»Yv, das ist doch scheißegal. Irgendjemand halt. Da steht: Gott sagt uneingeschränkt ja zu dem Menschen, der getauft wird! Also zu dieser Emily. Was soll das heißen? Egal, was sie tut, sie ist uneingeschränkt angenommen? Warum? Was heißt das bitte? Außerdem hat niemand Emily gefragt. Vielleicht will sie das ja gar nicht. Muss sich ein Erwachsener nicht entscheiden zur Taufe? Ich frag mich, warum liebt er nicht alle Kinder uneingeschränkt? Von Anfang an. Sind doch seine Geschöpfe. Was ist mit unseren Kindern? Was können die dafür, dass wir sie nicht getauft haben, lehnt er die ab? Macht doch keinen Sinn. Also, so was ärgert mich, schon allein weil es so durchschaubar ist. Das ist nichts anderes als eine Zwangsheirat mit Gott. Nicht mal. Zwangsheirat mit der Kirche ist das. Darum geht’s. Man zahlt und bekommt den Schutz Gottes. Exklusiv offensichtlich. Du zahlst dann Kirchensteuer, das ist alles. Sven geht doch gar nicht in die Kirche, der glaubt doch auch an nichts. Ich versteh nicht, was das soll. Mir wäre das unmöglich, diese Sätze nachzuplappern, ohne daran zu glauben. Das ist mir völlig unbegreiflich.«

Ich betrachte Jonas eine Weile von der Seite. Seine dunkelblonden Haare, Mika hat die gleichen Haare, Jonas fährt sich mit den Fingern durchs Haar, sind jetzt völlig durcheinander die Haare, macht Mika auch schon so. Wir übernehmen diese Bewegungen einfach und das ganze Gefühl, das damit einhergeht. Ist doch die Frage, ob das wirklich zu uns gehört, oder etwa nicht … Adam und Eva haben die Schuld ja auch einfach weitervererbt, da kann man nichts gegen machen, denke ich. Alles Erbsünde, denke ich.

Frank kommt mit einer Platte Würstchen an den Tisch.

»Taufe ist einfach nur Zwangsheirat mit der Kirche, Frank. Du musst hier mal die Texte lesen und dann musst du das mal wirklich denken, was da steht. Es ist einfach Schwachsinn. Gott bleibt bei ihr bis ans Ende ihres Lebens und darüber hinaus.«

Jonas kämmt sich schon wieder mit allen fünf Fingern durch die Haare. Er macht das fahrig, nebenbei. Mir gefällt die Bewegung.

»Also kommt sie sogar in den Himmel. Das macht einfach keinen Sinn. Ich versteh nicht, warum man seine Kinder heutzutage taufen lässt. Das widerspricht jedem klaren, logischen Gedanken.«

Sein Gequatsche fängt jetzt an, mich zu ärgern.

Es ärgert mich, dass seine Gedanken immer schon fertig sind. Abgeschlossen. Man kommt nicht dazwischen. Ich komm nicht dazwischen. Er kann einem die Sätze mit einer unwilligen Handbewegung direkt vom Mund wegwischen.

Ich kenne das. Es ärgert mich trotzdem.

Frank hat die Würstchen abgestellt, steht aber immer noch, weil das Fleisch wartet, wie er sagt. Die Grillzange baumelt unentschlossen in seiner Hand.

»Es geht eher um das Ritual, Jonas. Die Leute lieben Rituale. Man will sein Kind schützen. Das hat nichts mit klaren und schon gar nichts mit logischen Gedanken zu tun. Das müsstest du doch am besten wissen, du hast doch zwei. Das ist wie auf Holz klopfen.«

»Ich klopfe nicht auf Holz«, sagt Jonas.

»Klar klopfst du auf Holz«, sage ich.

»Ist doch nicht, dass ich das nicht verstehe, ich will meine Kinder auch beschützen, aber mein Verstand sagt mir doch, dass ich das nicht tue, indem ich monatlich Geld an die Kirche überweise. Ich bitte euch.«

»Ja, aber das ist doch nicht alles!« Andrea sieht jetzt ein bisschen aufgeregt aus, finde ich. »Das sieht doch die Kirche auch nicht so. Die will doch das Kind in eine Gemeinschaft aufnehmen und mit einem Glauben versorgen. Das gibt doch auch Halt.«

Jonas lächelt. »Glaubst du an Gott, Andrea?«

»Ja, nee, weiß ich nicht, nicht an einen alten Mann im Himmel natürlich … aber schon an irgendwas.«

»An was denn genau?« Ich sehe das Zucken in seinen Mundwinkeln. Ich frage mich, ob er sich all seiner Antworten wirklich so sicher ist. Ob er sie manchmal überprüft und überdenkt oder ob er sie einfach nur aus der Schublade zieht und zum Besten gibt. Wahrscheinlich tue ich ihm unrecht.

Er breitet seine Gedanken mit großen Gesten über dem Tisch aus. Ich verstehe, was er sagt, aber die Gedanken, die ich dazu habe, zerfallen in zwei Teile, in ein »einerseits« und ein »andererseits«, dann zerfallen sie weiter und zerfallen in immer kleinere Teile. Ich weiß nicht, wann das passiert ist, dass meine Gedanken sich so von mir abwenden, ich auf ihre Rückseite starre und meine Antworten alle aussehen wie Fragen.

»An … die … an eine Kraft … was Größeres halt«, sagt Andrea. Etwas unwillig. Das höre ich.

»Und glaubst du, diese Kraft nimmt dein Kind über den Tod hinaus uneingeschränkt an.«

»Ja, wenn man es bildlich nimmt, kann ich mir etwas in die Richtung vorstellen. Oder möchte es mir vorstellen. Die Kraft der Gedanken, weißt du. So wie Frank das eben gesagt hat …«

Ihr Blick sucht schon wieder nach Frank, aber der ist mit schaukelnder Grillzange zurück zum Grill gegangen.

» … so ein Ritual macht was mit einem, also mit den Eltern meine ich, man lebt dann auch anders.«

»Man lebt dann anders, Andrea?«

Ich habe Jonas in den Oberschenkel gekniffen, aber er redet trotzdem weiter, als hätte ich das nicht getan.

»Ich sollte Taufpate bei Sven sein«, sagt er angriffslustig und stützt sich mit beiden Ellenbogen auf dem Tisch ab, »da hätte ich das Versprechen abgeben müssen, dass ich Ella im christlichen Glaube miterziehe. Hab ich abgelehnt.« Er lehnt sich zurück. »Ich müsste es ja nur sagen, hat Sven gesagt. Genau das mach ich eben nicht, verstehst du.«

Ich erinnere mich an das fast zweistündige Telefonat mit Sven. Ich habe Jonas gesagt, dass ich es unmöglich finde, dass er das abgelehnt hat. Gleichzeitig war ich irgendwie stolz auf ihn. Das habe ich oft. Widersprüchliche Gefühle zu etwas. Meistens ist es mein Gefühl, das mit den Erwartungen der anderen kollidiert und dann einen seltsamen, unkenntlichen Klumpen zurücklässt. Ich bekomme schon wieder Kopfschmerzen. Es fühlt sich an, als würden meine Umrisse verschwimmen, wenn diese Kopfschmerzen kommen.

»Du hast geheiratet«, sage ich. »Ist auch ein Ritual.« Die Worte kommen überraschend und unpassend scharf aus meinem Mund.

»Das ist doch was völlig anderes als eine Taufe, Yv.« Verstehe nicht, warum er jetzt lächelt.

»Finde ich nicht. Wir haben uns ein fast kirchliches Versprechen gegeben, in guten und in schlechten Tagen, bis dass der Tod uns scheidet. Und die Worte ›für immer‹ sind auch einige Male gefallen.«

»Ja und?« Er sieht mich ratlos an. »Was ist damit? Das ist doch ein Versprechen, das wir uns gegeben haben. Und nicht Gott.«

»Ja, aber trotzdem …«, ich fange an zu stottern und weiß auch eigentlich nicht mehr so genau, worauf ich hinauswollte. »Das entspringt ja auch einem Wunsch nach Schutz oder so was Ähnlichem. Bis in alle Ewigkeit … dieses: nur Du! entspringt ja nun auch nicht gerade einem klaren und logischen Gedanken, wenn man sich die Statistiken mal so anschaut.«

»Wir haben nicht in der Kirche geheiratet, außerdem haben wir unsere Eheversprechen selbst geschrieben, das ist was völlig anderes, Yv.« Er soll aufhören, am Ende des Satzes ständig Yv zu sagen. Das gefällt mir nicht. Es ist überheblich.

»Sehe ich anders«, sage ich, »die ganze Idee von der ewigen Liebe, der uneingeschränkten Liebe, einer, die immer gleich bleibt, einer von nichts zu beschädigenden Liebe, die alles gut macht, das ist auch eine sehr … romantische Idee. Und wenn du schon sagst, die Menschen haben sich Gott ausgedacht, dann … also, die romantische Liebe mit all ihren Regeln und Geboten haben sie sich doch auch ausgedacht.«

Meine Worte rennen gegen ihn an, wie Fäuste, die gegen seine Brust trommeln. Ich will ihm Schmerz zufügen, damit er aufhört, so wasserdicht zu sein. Das, was ich eigentlich meine, liegt irgendwo unter diesem Riesenhaufen Wortgerümpel verschüttet, den ich spreche. Ich sage es falsch. Ich finde die Verbindung nicht mehr. Es ist, als hätte ich etwas direkt vor meiner Nase, was ich nicht greifen kann. Es ist die Art, wie er mich ansieht, die Art, wie ich ihn ansehe, ich glaube, es ist unser Blick, der uns nichts mehr sehen lässt. Die Kopfschmerzen vermischen sich mit einer leichten Übelkeit.

»Das ist ja Schwachsinn, was du da redest, Yv, das entspringt doch einem Gefühl, das mit der Liebe.«

»Und? Der Glaube an eine höhere Macht doch auch.« Meine Stimme rutscht etwas zu hoch.

»Häh?« Jonas schüttelt den Kopf.

Inge guckt mich die ganze Zeit an, aber ich tue so, als würde ich es nicht bemerken. Ich habe das Gefühl, als würde mich jemand umarmen und mir dabei langsam die Luft abdrücken.

»Und ihr habt eure Eheversprechen wirklich selbst geschrieben?«, fragt Andrea jetzt und ihre ausladenden Handbewegungen durchbrechen das Gespräch und sind auf die Art überschwänglich, wie Leute es tun, die dem Gespräch eine andere Richtung geben wollen.

»Das finde ich ja so toll.«

»Ja, haben wir«, sagt Jonas. »Wir wollten Raum und Zeit, Liebe und Leid … irgendwie so war das, oder Yv? … egal, das wollten wir alles miteinander teilen, so schön kitschig waren wir.« Er lächelt mir zu. »Und haltet ihr euch denn daran? Teilt ihr alles?« Andrea drängt weiter in diese Richtung.

»Das tun wir, finde ich.« Jonas wirft mir einen kurzen Blick zu.

War das eine Frage? An mich? Ich kann hören, dass Jonas bereit ist, ihr zu folgen und seinen Vortrag zu beenden. Ich nicht.

»Ja«, sage ich, »klar. Wenn ich irgendwann mal am Samstag zeitunglesend im Bett sitze, während Jonas in der Küche Zürcher Geschnetzeltes macht, unterschreibe ich das. Aber ich meinte ja eben nur, dass Heiraten und das An-die-ewige-Liebe-glauben … das sich Binden mit all den Versprechen … also da sind doch Parallelen, oder nicht … auch das mit der Keuschheit übrigens! Oder der … ähm Exklusivität, wie immer man das jetzt nennen will!«

Ich bin ganz beschwingt von dem guten Argument, das mir da gerade eingefallen ist.

»Keuschheit? In unserer Ehe?« Jonas lacht pikiert.

»Ja, ist doch eigentlich ein Keuschheitsgelübde, was ich da abgelegt habe, dass ich mit niemandem schlafe, außer mit dir. Zölibat fast. Als wärest du Gott.«

In meinem Kopf macht das sehr viel Sinn gerade.

»Ja, aber das will man doch so. Man will doch gar keinen anderen«, sagt Inge, während sie eine Serviette faltet, glatt streicht und wieder auseinanderfaltet, glatt streicht, ich beobachte das sehr genau.

»Ach Quatsch, Mama, das ist ja nun auch Blödsinn.«

»Ich finde schon, dass das so ist. Also bei mir ist das so«, sagt Inge. Jonas muss lachen, dann dreht er sich zu mir. »Zölibat also, Yv?«

»Hör mal auf, ständig meinen Namen zu sagen, bitte. Ich sag ja nur, dass du auch nicht gefeit bist vor … dem Ritualzauber. Keiner von uns ist das.«

Er hebt die Hände in die Luft, beschwichtigend wahrscheinlich, als wäre ich aufgebracht. Ich bin doch nicht aufgebracht!

Frank kommt mit dem Fleisch. »Hab ich schon erzählt, dass Andrea und ich vielleicht kirchlich heiraten wollen?«

Andrea grinst nach unten auf ihren Teller. Jonas zuckt mit den Schultern.

»Macht, was ihr wollt.«

»Ja, sowieso«, sagt Frank.

Los, küsst euch, denke ich.

Sie küssen sich.

Na also, geht doch, kommentiere ich das laut in Gedanken und bitte mich danach selbst, endlich still zu sein und nicht so schlecht über Jonas und meine Freunde zu denken.

»Was ist mehr wert, Mama? Ein Mensch oder ein Frosch?« Mika steht vor mir und weint, sein kleines Gesicht ist ganz verzerrt vor Anstrengung, schwarze Schmutzstreifen ziehen sich von den Augen bis runter zum Kinn. Vorsichtig wische ich mit dem Daumen die Tränen unter den Augen weg. Sein Mund ist leicht geöffnet. Apfelsaftatem rieche ich.

»Beides gleich, weißt du doch«, sage ich.

»Wie bitte?« Jochen verschluckt sich fast. »Ein Mensch natürlich!«, sagt er laut und deutlich in Mikas Richtung. Kann er ja nicht wissen, dass ich gerade gestern ein hochphilosophisches Gespräch mit meinen Jungs über Lebewesen hatte, nachdem sie Tausendfüßlern mit einer Nagelschere die Beine abgeschnitten und Ameisen in Cola ertränkt haben.

»Ich meine ja nur, dass sie … man kann den Wert ja nicht wirklich bemessen … Für Menschen ist ein Mensch natürlich mehr wert, Mika, ich würde immer erst einen Menschen retten, bevor ich einen Frosch rette, das ist ja klar. Aber beide sind Lebewesen. Grundsätzlich ist keines mehr oder weniger wert als das andere … vor Gott meine ich … den es so gesehen nicht gibt, also …«

Oh, ich sehe schon, betretenes Schweigen. Was hab ich jetzt wieder gesagt?

Inge legt ihre Hand auf meine (alle sollen aufhören, ihre Hände auf irgendjemanden zu legen, überall diese Beschwichtigungsgesten, ich möchte schreien).

»Ich finde nicht, dass du mit einem Vierjährigen so sprechen solltest. Das ist viel zu komplizi… das ist zu komplex, ja?«

»Ich weiß aber, was Mama meint. Deshalb habe ich John gerettet. Und deshalb eben nicht den Frosch!«, sagt mein Mika und heult dabei weiter. Ich möchte nicht mitmachen bei dem Händezirkus. Ich will nicht beschwichtigend nach unten gedrückt werden.

»Das hat eine Vorgeschichte, Inge«, sage ich. Ich sage das sehr freundlich, um von meiner Hand abzulenken, die ich unter ihrer wegziehe. »Worum geht es überhaupt, Mika?« Jonas hat die einzig richtige Frage gestellt.

»Ja, worum geht’s denn?«, frage ich überflüssigerweise auch noch mal.

»Ich habe einen Frosch ermördert. Aber nur (er schluchzt immer noch) Aber nur … (schluchzen) Aber nur, weil …«

»Warum, Mikki?« … (meine Nerven) … »nur, weil er John angreifen wollte.«

John tippt sich an die Stirn. »Genaaaau. Der Frosch wollte mich doch nicht angreifen. Du wolltest einfach den Stein draufhauen!«

»Er wollte dich beißen«, schreit Mika.

»Blödsinn. Du wolltest ihn töten!«

»Wollt ich nicht.«

»Doch!«

»Gar nicht.«

»Doch!«

(meine Nerven)

»Frösche beißen nicht, Mika«, sage ich.

»Der Frosch hatte Zähne! Ich lüge nicht!«

John lacht sich kaputt. »Du hast mich gefragt, ob du den Stein draufhauen sollst. Hast du oder nicht?«

»Hab ich nicht!«

»Doooch, das hast du! Hast du. Hast du.«

»Jungs, es reicht jetzt. Ist der Frosch wenigstens richtig tot oder quält der sich jetzt irgendwo?«

»Er ist tot, weil Mika ihn erschlagen hat, und jetzt ist Mikas Leben weniger wert als ein Frosch. Weil er ein Mörder ist.« John zuckt kurz mit den Schultern. »Ist so.«

»Hast du ihm das erzählt, John?« Jonas zieht John zu sich rüber. »Ja, das hat er gesagt«, ruft Mika, »dass das Leben vom Frosch jetzt mehr wert ist als meins.«

Jonas flüstert John was ins Ohr. Und ich halte den schluchzenden Mika im Arm, der immer neue Schluchzer aus sich rauspresst, weil sein Leid Inge immer dazu bringt, Süßigkeiten auf den Tisch zu stellen und ihn dann damit zu füttern.

Ich möchte Mika gern sagen, dass ich verstehe, dass er den Frosch getötet hat, dass ich heute einen Maikäfer getötet habe … warum? Weil ich musste. Weil er mich angegriffen hat. Ich möchte ihm sagen, dass wir so was manchmal machen. Dass er für mich immer mehr wert sein wird als ein Frosch, mehr wert als alles, egal, was er tut, dass er einmalig und wertvoll und ein wunderbares Geschöpf ist. Und dass er uneingeschränkt angenommen ist von mir. Egal, was er tut. Amen.

Plötzlich habe ich das Gefühl, ein wirklich schlechtes Vorbild zu sein. Ich sollte zur Schüssel gehen und sie hochheben, denke ich, ihm den Maikäfer zeigen. Guck, was ich getan habe. Es ist nicht gut. Aber manchmal machen wir so was, damit wir nicht … damit wir … ich sollte mit einem Vierjährigen so nicht reden. Ist schon recht.

John kommt. Er entschuldigt sich bei Mika. Ich lächle ihn an und er verdreht die Augen.

»Aber er hat einen Frosch umgebracht, Mama, er ist trotzdem ein Mörder.«

»Ja, aber das ist nicht strafbar. Es ist nicht schön, aber es ist eben auch … es ist eben nur ein Frosch und kein Mensch. Vielleicht ist die Fantasie mit ihm durchgegangen … er ist erst vier, John.«

»Jetzt ist mal gut damit, ja!« Jonas klingt genervt. »Ich finde, wir haben das jetzt lange genug ausdiskutiert. Niemand ist ein Mörder. Frösche tothauen ist trotzdem scheiße. Und jetzt lasst so was und spielt einfach irgendwas anderes. O.k.?«

»Ja, o.k.«, sagt John.

»O.k.«, sagt Mika.

Klar. So kann man es natürlich auch machen …

Andrea steht vor der Haustür und raucht. Ich bin ihr nachgegangen, weil ich auch rauchen will. Sie gibt mir eine. »Bin wegen der Kinder hier rausgegangen«, sagt sie.

»Danke. Das musst du doch aber nicht.«

Ich rauche fast nie, aber wenn, dann will ich immer fünf nacheinander rauchen, auch nicht ganz normal. Sie gibt mir noch eine, als ich sie danach frage. Nicht ohne mir einen Seitenblick zuzuwerfen. »Freust du dich auf die Hochzeit?«, frage ich schnell.

Sie nickt. »Ja klar.«

Wir stehen beide ein bisschen still und abwartend nebeneinander in der Sonne.

Ich schiebe kleine Steinchen mit meiner Schuhspitze hin und her.

»Ich bin aber auch aufgeregt.« Sie tritt die Zigarette mit dem Fuß aus und nimmt sie dann hoch. »Das ist ja schon so ’ne Sache, wenn man sagt, das ist jetzt für immer, oder? Wenn man das so beschließt. Also, das Gefühl, das man dann kriegt, habe ich unterschätzt.« Sie lacht kurz leise. »Aber das ist ja gut. Ich finde es genau richtig so.«

Klar.

Wieder Leuchtschriftsätze, synchronisierte Gedanken in meinem Kopf. Es ist fürchterlich, ich kann nicht mehr reden. Das, was ich sagen möchte, versuchen möchte zu sagen, passt nicht in die Sätze, ist wie eine zu dicke, zu große Frau, für die es keine passenden Kleider gibt.

»Das ist doch toll«, sage ich dann einfach und denke an den Galeristen.

Und dann an die hysterische Eva auf dem Bild.

Andrea setzt sich auf die Stufen, ich setze mich neben sie.

»Wie war eigentlich eure Hochzeit?«

»Schön«, sage ich. Sie war wirklich schön.

»Ich war mit John schwanger und wir hatten gerade die neue Wohnung gemietet, da war noch nichts drin und Jonas hatte die Idee Bänke in die leeren Räume zu stellen und da zu heiraten.«

»Das klingt toll.«

»Ja, das war’s auch. Seltsamerweise hatte der leere Raum mit den Bänken was Kirchliches.«

»Hat Jonas eigentlich was gegen die Kirche?«, fragt sie mich.

»Nicht wirklich, oder doch, wahrscheinlich schon irgendwie. Wegen vorhin? Ich glaube … ach, es geht mehr um die Beliebigkeit, glaube ich, dass Menschen, die eigentlich nicht glauben, dann trotzdem solche Rituale mitmachen. Das findet er unreflektiert und widersprüchlich und ich glaube, das passt ihm nicht. Außerdem redet er auch einfach gern.«

»Ich mach so was immer nur aus dem Gefühl«, sagt Andrea und zündet sich ihre zweite Zigarette an. Ich frage sie nach einer dritten. Das ist mir zwar ein bisschen peinlich, aber nicht so sehr, dass ich nicht fragen würde.

»Ist wahrscheinlich auch richtig so. Das, was man fühlt, hält ja meistens sowieso keiner ernsthaften Diskussion stand. Man macht es eben einfach so, wie man es fühlt.«

»Mmh.« Andrea nickt und bläst Rauch aus der Nase wie ein Drache.

»Das ist es doch, worum es geht«, sagt sie.

Ich frage sie nicht, was sie damit meint.

Ich frage mich allerdings doch, worum es geht. Worum geht’s eigentlich? Ich denke darüber nach, während ich die dritte Zigarette zu Ende rauche.

Die Luft ist warm und es ist die Art, wie Andreas Arm auf ihrem Bein liegt und die Zigarette hält und dabei schön aussieht und wie mir die Sonne ins Gesicht scheint und ich hinter mir, im Haus, im Garten dahinter, Menschen weiß, die ich liebe, die mich lieben, die Jungs mit ihren verschwitzten Haaren, die sich wahrscheinlich gerade wieder streiten und für die ich alles tun würde, immer wieder, dass Freunde hier sind und wir trinken und auf Gartentreppen sitzen und rauchen, dass wir wissen, zu wem wir gehören, wissen, was wir zu sagen haben, was wir zu denken haben, alles immer schon wissen … Das ist gut, ist etwas Kostbares, das weiß ich, und gleichzeitig ist es, als wäre unter all diesen Gewissheiten etwas in mir erloschen. Es brennt nicht mehr. Und genau da hat sich die Müdigkeit ausgebreitet. Meine Gefühle drehen sich wie Münzen, auf ihrem schmalen Rand, immer wieder um die eigene Achse. Kopf, Zahl, Kopf, Zahl, Vorderseite, Rückseite, rasend unbeweglich. Ich bin so erschöpft davon.

2015 im Flur, 2016 auf der Gartentreppe, und meine Gedanken kann ich von hier aus durch mein ganzes Leben bis ins Jahr 2055 schicken, ohne dass sie auf nennenswerte Widerstände oder große Über raschungen treffen. Die Zeit ist einfach durch mich hindurchgerauscht und das wird sie auch weiterhin tun. Und das immer schneller. Bis sie eines Tages so schnell sein wird, dass es sich nicht mal mehr lohnt den Kalender abzunehmen. Der Fluss geht gerade durch und von hier kann ich die Fahrrinne sehen, in der wir weiterschippern werden, bis zum Ende vermutlich. Ich komme mit diesem Gedanken nirgendwo an. Außer dass ich mich undankbar fühle. Und alt.

»Es geht immer um die Liebe«, sagt Andrea plötzlich. Als wäre sie mir noch die Erklärung von vorhin schuldig geblieben.

Ich nicke und wir drücken die Zigaretten aus. Wahrscheinlich ist das so. Aber das sind immer so Sätze … mittlerweile bin ich bei Jonas und mir auf fünf verschiedene Stadien von Liebe gekommen. Wenn es für jedes davon ein eigenes Wort gäbe, denke ich, wäre es leichter, davon zu erzählen. Es dürfte existieren, denn dann gäbe es ja eine Bezeichnung dafür.

Wäre das nicht irgendwie hilfreich?

Wir wickeln die Kippen in Taschentücher und werfen sie in die Mülltonne.

Als wir durch den Flur gehen, legt Andrea den Arm um mich und fragt, ob ich mir vorstellen könnte, ihre Trauzeugin zu werden, sie sagt das, während sie mich an sich zieht und sagt, sie hätte gerade darüber nachgedacht und ich wäre für sie so was wie ein Glücksbringer.

Verstehe ich nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich die Richtige dafür bin. Aber klar.

Na klar. »Ja«, sag ich.

Im Garten ist ein Riesendurcheinander, als wir zurückkommen, und Mika heult schon wieder. Er hat den Kopf in den Nacken gelegt und heult mit weit aufgerissenem Mund wie ein verrückter Hund. Neuerdings steigert er sich immer so rein.

»Was ist denn hier los?«

»Ach, Mensch«, Inge sieht mich ganz verzweifelt an, »ich hab es Jonas doch gesagt mit dem Becher. Jetzt hat Mika den Weißwein getrunken.«

»Viel?«, frage ich.

»Ach Quatsch«, sagt Jonas, »nur so ein minibisschen, Herrgott, das tut doch nichts.«

»Ja, aber du kannst auch einfach dein eigenes Glas benutzen, deine Mutter hat dir ja eins direkt vor die Nase gestellt.« Sein Blick. Meiner weicht aus.

John fragt, ob Mika jetzt betrunken ist.

»Nein, doch nicht von dem kleinen Schluck«, sage ich und nehme Mikas Gesicht in beide Hände. Er heult mir ins Gesicht. »Mika, Schatz, war das so schlimm?«

»Nein, aber Oma hat geschimpft!«

»Ich hab aber doch mit Jonas geschimpft«, ruft Inge ganz aufgeregt. »Oooahh, ist ja gut jetzt, du Heulsuse«, ruft John dazwischen, »das nervt.«

Ich wiege Mika hin und her und erzähle ihm, dass er jetzt mit dem Heulen aufhören kann, weil nämlich gar nichts los ist.

»Wir fahren, glaube ich, gleich mal los«, sage ich dann in die Runde, aber irgendwie mehr vor mich hin. »Ich muss noch für Dänemark packen.«

Auf dem Weg raus höre ich Inge. »Iiih, was ist das denn? Das arme Ding.«

Sie hat den Käfer entdeckt. Ich weiß es.

Entschuldige, Inge, denke ich, hab nur versucht, einen Gedanken loszuwerden. Du siehst, ich habe mir wirklich Mühe gegeben, weil ich deinen Sohn liebe. Leider ist es gründlich in die Grütze gegangen. Ist einfach passiert. Was man so macht aus Liebe. Und Wut. Aber das weißt du sicher alles.

Die Hitze des Tages hat sich im Auto gestaut. Wir machen die Fenster runter. Alle.

Die Haare wehen uns um die Köpfe und Jonas dreht das Radio auf. Verdammt, ich hab die Schüsseln vergessen.

Die Taschen sind gepackt, Jonas und ich haben noch ein Glas Rotwein getrunken und jetzt liegen wir im Bett. Er liest.

Ich lasse den Kopf zur Seite sinken und schaue aus dem Fenster. Es ist dunkel, da ist nichts mehr zu sehen. Ich liebe meine Jungs. Alle drei. Das ist nicht die Frage. Die Frage ist … ob das alles ist. Wollen wir das so? Bin ich so? So vorhersehbar? Tage abreißen wie Kalenderblätter … Meine Gedanken eiern weiter durch die Fahrrinne, versuchen, in der Bahn zu bleiben, in der sie sich bewegen dürfen, schaue ihnen dabei zu, gleite auf den Schlaf zu …

Vorhin ist etwas Fremdes durch meinen Körper geschlichen. Als ich das Tischtuch in die Luft geworfen habe, war es kurz da, als es in der Luft stehen blieb und alles weiß war. Die Müdigkeit war plötzlich weg. Mein Rücken war gerade und es war etwas Aufregendes an der Art, wie ich mit der Hand über die Tischdecke gestrichen habe. Ich war eine Andere, eine, die den Galeristen hätte küssen können. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe versucht, es mit Gewalt zu zerquetschen.

… es darf nicht alles sein …

Gedanken in meinem Kopf, die mir klar und deutlich zu verstehen geben, dass mir diese Gedanken nicht zustehen. Undankbare Gedanken. Dass ich etwas falsch mache, wenn ich so denke. Dass wir morgen nach Dänemark fahren und ich jetzt schlafen sollte.

Wir sind eine Familie, denke ich, ein ziemlich perfektes Paar. Wir funktionieren doch ganz prächtig. Wie eine Maschine. Warum kann ich das nicht gut finden?

Ich scheine kaputt zu sein … etwas, das mich zusammengehalten hat, ist weggebrochen. Ich spüre, wie mein Bewusstsein dem Schlaf entgegengleitet, denke noch, dass es sich anfühlt, als würde sich mein Körper darin auflösen. Er gleitet mir davon. In ein dunkles Wasser.

Don Giovanni steht auf einer Bühne, ich habe ihn im Theater gesehen, ich erinnere mich daran. »Ihr seid alle so einsam. So einsam! Einsam seid ihr! Jetzt tanzt! Tanzt doch mal!«, brüllt er. Ich stehe im Zuschauerraum. Wasser umspült meine Füße, ich weiß, dass ich träume.

»Ich bin es doch nicht! Ich zerstöre doch nichts! Ich bin doch nur eine Fläche!« (Unablässig streicht er sich über die Brust.) »Das hier ist die Fläche! Das ist die Fläche!«

Wieder über die Brust, immer wieder, seine Hand auf seiner Brust, wie meine auf dem Tischtuch, fremd und doch fühle ich sie … gleite in seinen Körper hinein, spüre seine Hand über seine Brust reiben, gleichzeitig ist es meine, stehe dabei immer noch im Zuschauerraum, sehe ihn, während mein ganzes Fühlen in seinem Körper steckt, in seiner Brust, verschmolzen auf eine unbegreifliche Weise. Ich spüre meinen Körper nicht mehr, nur die Wärme und meinen Atem, dort, wo seine Hand auf meiner Brust liegt. Meine Brust atmet gegen seine Hand.

»Schmückt euch und tanzt«, ruft er.

Überall fließt Wasser. Ich stehe schon fast bis zu den Knien im Wasser, spüre die Strömung, überall hier unten stehen Möbel, Stühle und Tische, Küchenschränke, Schüsseln, vor meinen Füßen im Wasser schwimmen Bilder, so viele Bilder, alle gerahmt, auf dem Boden unter Wasser liegt Besteck.

Hab mein rosa Kleid bis über die Knie hochgezogen und starre ihn an, von hier unten zu ihm hoch und sehe mich dabei selbst hier unten stehen, während ich noch immer meine Brust gegen seine Hand presse und mich nirgendwo mehr befinde, nur dort, wo wir aufeinandertreffen, im Dazwischen von Hand und Brust. Da ist alles.

Die Architektur des Knotens

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