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DIE JUNGS BAUEN EINE STADT. Seit Stunden schon. Akribisch, hochkonzentriert und mit einer Hingabe, die mich fasziniert im Türrahmen des Kinderzimmers gefangen hält. Sie haben die Vorhänge zugezogen. Durch die dünnen Vorhänge fällt das Licht der Oktobersonne ins Zimmer, schwach und lindgrün. Es ist schon wieder Oktober.

Die Luft ist wie aufgeladen von der fieberhaften Stille und der ungewohnten Einigkeit der beiden Jungs. John ist noch immer in Unterhemd und Unterhose, ich beobachte, wie er, mit rundem Rücken am Boden sitzend, den Kopf tief über die arbeitenden Hände geneigt, geduldig kleine, krümelige Stückchen von der Spitze einer braunen Wachsmalkreide schabt. Mika steht, mit in die Seiten gestemmten Armen, neben seinem großen Bruder, ihn keine Sekunde aus den Augen lassend. Sie scheinen eine klare Vorstellung zu haben von der Stadt, die sie bauen. Sie reden kaum ein Wort miteinander.

Kleine, braune Krümelwürmer fallen von dem braunen Wachsstift auf den Boden und bilden lose Häufchen. John scheint fertig zu sein, er nickt Mika zufrieden zu.

Mika schiebt die braunen Krümel auf ein Blatt Papier und trägt sie vorsichtig zu dem kleinen grünen Handtuch, das in der Mitte der Stadt liegt. Dort stehen Bäume und eine Rutsche, unterschiedliche kleine Plastik-Menschen liegen sorgsam verteilt auf dem Rücken, einer von ihnen liest sogar ein Buch. Ein Park.

Es gibt mehrere Hunde. Mika verteilt die braunen Krümelhaufen auf dem Handtuch und vor jeden Haufen stellt er einen Hund. Er lächelt zufrieden, als er damit fertig ist.

Hundekacke, denke ich. Die Jungs haben sogar Hundekacke gemacht.

Schon gleich nach dem Aufstehen habe ich die beiden Kurven und Linien auf weißes Papier zeichnen sehen. Ich habe nicht gefragt, wofür das ist, war in Gedanken woanders. Mein Blick wandert durch die Stadt. Sie haben fast alles an Spielzeug verbaut. Playmobil, Legoautos, Eisenbahnbrücken, Gebäude aus Bauklötzen, Zäune aus Fisherprice, das weiße Papier haben sie mit Tesafilm zu einem Straßennetz zusammengeklebt, es gibt Ampeln, Schranken, ich sehe sogar einen Zebrastreifen. Es ist perfekt.

Was ist das für eine Welt, die sie da gebaut haben? Ich betrachte die Horde Gummi-Neandertaler, die mit Fackeln, gefolgt von einem Rudel Wölfe, den Zebrastreifen überquert. Ein Playmobilpolizist regelt den Verkehr mit einem Maschinengewehr. Merkwürdiges Bild.

Mitten auf dem Zebrastreifen liegt eine rotbeschürzte Playmobilfrau mit einem Einkaufskorb in der Hand. Sie ist vornübergefallen und liegt dort mit Hintern in der Luft. Irgendwie hat das was Würdeloses. Zusammengebrochen, denke ich.

Auf der anderen Straßenseite, auf einem umgedrehten Schuhkarton, entdecke ich unseren Holzjesus aus der Weihnachtskiste. Er steht auf dem goldenen Playmobiltisch, der zum Ritterschloss gehört, vor ihm, auf einer Ansammlung von Stühlen, sitzen Playmobilkinder, Müllmänner, Prinzessinnen und Ritter, regungslos und alle mit ihren steifen, nach vorn gestreckten Plastikarmen. Auf ihren hochgeklappten Beinen liegen Papierschnipsel … Hefte? Bücher? Denke, das ist wohl die Schule. Warum haben sie Jesus auf den Tisch gestellt? Sie hätten ihn doch auch dahinterstellen können.

Jesus trägt an einem seiner ausgestreckten Holzarme eine kleine Tasche. Lehrer haben Taschen, mit lauter wichtigen Büchern, das kennen sie von mir.

Warum nehmen sie überhaupt Jesus als Lehrer, frage ich mich. Warum haben sie keinen Ninja Turtle genommen?

Auf ungewollte Weise haben sie ein seltsam richtiges Abbild der Welt gebaut, denke ich, während mein Blick weiter durch die Stadt wandert.

Bis jetzt habe ich es geschafft, mich still zu verhalten, obwohl das nicht gerade meine Stärke ist. Super Stadt, Jungs. Toll, dass ihr zusammen spielt. War beides schon auf meinen Lippen. Hab beides wieder runtergeschluckt.

Sie machen nicht den Eindruck, als bräuchten sie meine Zustimmung.

Beim Anblick ihrer schmalen Schultern und Hüften, der nackten Füße, der sichtbaren Hingabe, die ihre Körper ausdrücken, durchläuft mich etwas Zärtliches.

Das ist alles mal aus mir rausgekrochen, denke ich.

In letzter Zeit sind die Gedanken in meinem Kopf sehr laut geworden. Ich höre sie laut und deutlich, so als würden sie zu mir sprechen. Mein Körper steht wie eingefroren im Türrahmen. So angespannt, dass es mir schwerfällt einzuatmen. Versuche, mich wieder auf die Kinder zu konzentrieren. Warum geh ich nicht einfach weg?

Mika ruft John immer mal wieder ein paar Ideen zu und seine aufgeregten Hände wedeln dabei durch die Luft. Ideen, die John gönnerhaft, mit leichtem Kopfnicken entgegennimmt, dann aber ignoriert. Jetzt tritt er einen Schritt zurück und Mikas Arme sinken herab. Ich versuche normal zu atmen.

Die Stadt ist fertig.

Ich folge ihren prüfenden Blicken. John nickt zwischendurch vor sich hin, als würde er etwas endgültig absegnen, seine Lippen sind dabei leicht gekräuselt.

Was denken sie, was die Welt ist?

In allen Häusern gibt es Tische. Und immer eine Familie. Eine Familie hat in ihrer Welt offensichtlich aus vier Leuten zu bestehen, so kennen sie es. In jedem Haus-Kasten vier.

Auf den Tischen stehen Teller und Schüsseln, darauf liegen Fische, Brötchen und Miniaturobst. Schon wieder eine rot bekleidete Playmobilfrau. Sie balanciert einen Kuchen auf ihren ausgestreckten steifen Armen. Natürlich, denke ich. Da ist sie wieder.

Ich denke, das ist doch die Gleiche, die auf dem Zebrastreifen liegt. Ist sie aber nicht, die Andere liegt noch immer auf der Straße.

Hätte ja sein können, dass die mittlerweile nach Hause gekrochen ist und jetzt Kuchen serviert, einer muss es ja machen, denke ich.

Seltsam, dass da überall gegessen wird. Seit die Kinder auf der Welt sind, scheint Essen so etwas Zentrales geworden zu sein. Was essen wir heute? Mama, ich hab Hungerdurstwilleis. Ich kaufe es ein, ich trage es nach Hause, ich schneide es klein, zerteile es, schmiere es auf Brote, brate und koche es, packe es in Brotdosen, stopfe es in Ausflugtaschen, schmeiße es weg, wische es vom Boden auf, trage es zum Müll, wir arbeiten, verdienen Geld, kaufen damit neues Essen. Ja, denke ich, vielleicht hat sich die rote Playmobilfrau auch einfach auf die Straße geschmissen. Vor die Autos. Oder sie wartet auf die Horde Neandertaler, die gerade so zivilisiert den Zebrastreifen überquert. Ein Angebot, sie einfach mitzunehmen.

Ich möchte mich so gern hinschmeißen. Das war kein lauter Gedanke. Es war eine leise Stimme. Meine lauten Gedanken sitzen im Kopf. Vorn, hinter der Stirn. Das eben kam von unten, hat sich angefühlt, als wäre es aus der Brust aufgestiegen, wie der Atem, ganz ohne Ton. Ich möchte mich hinschmeißen. Ja, das möchte ich. Für einen Moment erahne ich die Möglichkeit, nach innen wegzukippen, in eine Tiefe, in der ich die Stimme vermute, aber sofort übernimmt der alte Reflex, es abzuschütteln, das Gefühl des Nachgebens. Richte meinen Blick wieder auf die Jungs.

Ihre Stadt rührt mich. Dass meine Jungs die Tische in den Häusern gedeckt haben, Brot auf die Teller gelegt haben, rührt mich.

Ich habe sie lange beobachtet. Ich denke, sie haben mich hier im Türrahmen vergessen.

Als hätten sie einen Plan gehabt. Als hätten sie ein gemeinsames Bild im Kopf gehabt, so ungewohnt ruhig und zielstrebig wie sie gebaut haben, und das seit Stunden.

»Was wird das?«, ist das Einzige, was ich vorhin mal gefragt habe.

»Eine perfekte Stadt«, hat John geantwortet, ohne mich anzusehen. Beide scheinen zu wissen, was das ist. Eine perfekte Stadt.

Mein Blick wandert durch den Zoo der Stadt, die Jungs haben die Flucht- und Raubtiere sorgsam voneinander getrennt. Sicher ist sicher. Und dann sehe ich den Turm.

Sie haben ihn aus den schmalen Hölzern gebaut, die sie kreisförmig, quer übereinandergelegt haben. Der Turm ist bedenklich hoch. Was soll das sein? Wieso habe ich den bis eben nicht gesehen? Er ist so hoch. Ich hätte ihn eigentlich sehen müssen.

Die Jungs sitzen und betrachten ihre Stadt, in atemloser Stille, keiner der beiden sagt was.

Ich bin ein Riese. Ein Barfußriese. Auf Zehenspitzen laufe ich durch die Spielzeugstadt. Ich kann nicht anders. Lehne mich über den Turm und schaue hin ein. Oben, über der Öffnung liegt ein Netz, das Fußballnetz. Es liegt da wie ein Gitter, denke ich, also ist das ein Gefängnis, oder was? Die Jungs verfolgen mich mit ihren Blicken.

Unten erkenne ich eine Feuerstelle und drum herum sitzt eine Ansammlung aus Superhelden, da sind auch die Ninja Turtles, Drachen sind auch dabei und Gummipiraten, überall an ihnen stecken und kleben Waffen, auch auf dem Boden liegen Waffen. Dynamit sehe ich auch. Und Mikas Zauberstab, er lehnt innen an der Turmwand. Er wirkt überdimensional in diesem Ensemble.

»Gut, dass ihr die da alle eingesperrt habt«, sage ich plötzlich und auch noch viel zu laut, weil sie mich beobachten, weil ich denke, ich müsste was sagen.

»Da können sie der Stadt nichts mehr … ähm antun, oder?«, schiebe ich noch schnell hinterher.

John schaut mich an, ohne erkennbare Regungen in seinem feinen Gesicht.

Dann sagt er, dass die da ja alle nur warten, bis Mika und er mit der Stadt fertig sind, und dass sie die Stadt dann dem Erdboden gleichmachen.

Mika gibt ein Geräusch von sich, das wie ein aufgeregter Seufzer aus einer körperlosen Tiefe kommt. »Ja, die machen gleich Terror«, sagt er dann und lächelt mich an und ich sehe, wie der Wunsch, die Aufregung darüber mit mir zu teilen, kurz durch sein Gesicht geistert, und ich kann sehen, wie ihm der Gedanke kommt, dass ich »kaputt machen« wahrscheinlich nicht so toll finde, und ich sehe, dass er sich von mir abwendet und wie sein Arm sich kurz über seine schmale Brust schiebt, besorgt, dass ich ihm das nehmen könnte, den großen Moment, auf den sie hingearbeitet haben. Darum ging es also.

Ich will etwas sagen, was fragen, aber ich spüre die aufgeladene Spannung im Raum, die Luft, wie verdichtet, ein merklicher Widerstand, als wenn ich in Schlagsahne stehen würde, steifgeschlagene meine ich. Jede meiner Bewegungen scheint Abdrücke zu hinterlassen und das Bild zu stören. Empfindlich spürbar, dass ich da nicht durchlaufen kann, nicht reinreden kann, ohne die ganze Atmosphäre zu zerstören. Ich hätte gar nicht hier sein sollen.

Ich sage nichts.

Stehe nur weiter im Türrahmen.

Meine Jungs haben eine Stadt gebaut.

Eine perfekte, bis ins kleinste Detail ausgetüftelte Stadt, zusammengesetzt aus allem, was sich an Baumaterial, Figuren, Ideen und Vorstellungen über die Jahre in ihren Kisten und Köpfen angesammelt hat. Einzig und allein, um sie zu zerstören.

Was bringen wir ihnen bei? Aufbauen, erhalten, bewahren, schützen, pflegen und in Ordnung halten. Zerstörung von Sachen ist nicht dabei. Nein, natürlich nicht. Wozu sich sonst die Mühe machen.

Aber darauf haben die Jungs sich geeinigt. Nur dafür haben sie die Stadt überhaupt gebaut. Und jetzt ist sie fertig. Und jetzt muss sie weg.

Ich beobachte, wie sie eine Weile damit spielen, die Autos über die Straße schieben, Mika lässt den Polizisten den Verkehr regeln, während John alle Holzampeln auf Rot stellt. Mika lacht.

Ich warte geduldig, denn ich kann fühlen, wie sie sich an die Katastrophe herantasten. Unter ihren Stimmen vibriert eine Aufregung, die mir bis in die Zehenspitzen kriecht.

Normalität, Alltag, etwas, das auf einen Abgrund zuzulaufen scheint. Es ist alles ein Spiel. Ein Experiment. Oder nicht? Eine rote Playmobilfrau steht im Supermarkt, sie trägt zwei Körbe und sieht aus, als würde sie auch gleich umfallen, die andere serviert immer noch Kuchen. Die roten Plastikfrauen haben hier ausschließlich Hausfrauenpflichten.

Ich würde sie gern nehmen und schmeißen.

»Darf ich bitte mal die Butter haben« (zuckersüße Stimme von John)

»Natürlich, sofort, bitte schön.« (zuckersüße Antwort von Mika)

»Dürfte ich die Butter auch gleich mal haben.« (andere Stimme von John, diesmal geflötet)

Ein freundliches Frühstück in einem der Wohnhäuser, während ich die rote Playmobilfrau zertreten möchte, ich möchte sie vor den Augen meiner Jungs zertreten. Aber das ist nicht mein Spiel. Ich bin die, die zuschaut. Und da ist ein zögerlicher Gedanke, der sich ausbreitet, ob ich nicht vielleicht ein besseres Vorbild wäre, wenn ich die Kuchen und Körbe schleppenden Playmobilfrauen einfach wegtreten würde, vor ihren Augen. Ich sollte ihnen unbedingt sagen, dass Frauen auch noch andere Dinge machen, als Essen hin und her zu tragen. Dass ich mal mehr war als das. Bin. Warum sollte das für sie wichtig sein?

Ich bin aufgewühlt. Ihr stillschweigendes Einverständnis, ihre gemeinsame Verabredung zum Befreiungsschlag, ihre Lust auf das Chaos der Zerstörung. Aufgewühlt, von dem Gedanken an ihre Hingabe, eine ganze Welt bis ins Kleinste zu erschaffen, und ihre Lust, sie mit der gleichen Hingabe wieder einzureißen, und davon, dass darin für sie kein Widerspruch zu liegen scheint. Ich starre auf ihre Körper und Gesichter, gierig schon fast, und ich begreife, warum es so sein muss. Und gleichzeitig weiß ich, dass ich nicht mehr die Freiheit besitze, es so sehen zu dürfen.

Mika ist aufgestanden, eilt zum Turm und steht darübergebeugt, flüstert:

»Jetzt John, sollen wir jetzt schon?«

John beginnt, leise vor sich hinzumurmeln, in unterschiedlichen, ärgerlichen und lustvollen Stimmen, die Pläne schmieden, sich verbrüdern und ihren Ausbruch planen.

Mika hebt den Kopf. »Mama, jetzt musst du aber mal rausgehen. Wir wollen doch jetzt alles kaputt machen …«

Ich fühle mich erwischt. Sein Blick hat etwas Bittendes. Ich dachte, sie lassen mich zuschauen.

Die Jungs gucken mich an, John legt den Kopf schief, ein Ruck in meinem Körper, als hätte mich jemand geschubst. Ich gehe raus, sage nichts, ziehe die Tür hinter mir zu und bleibe mit dem Rücken an die Tür gelehnt, denke gar nichts, warte einfach nur, warte, so wie man auf ein Gewitter wartet, das schon seit Stunden in der Luft liegt. Es ist wie eine Hitze, die sich in mir aufgestaut hat. Ich bewundere die Jungs für ihre Ausdauer.

Die ungebremste Wucht, mit der die Teile gegen die Tür fliegen, das Holz der Tür, das in meinem Rücken wummert, das hörbare Durcheinander der Spielzeuge, die an Wänden und aneinander abprallen, zu Boden fallen, die satten Töne, das Lachen, das tief aus den kleinen Körpern zu kommen scheint, abgelöst von hohen lustvollen Schreien, erzeugt ein seltsam dumpfes Echo in meinem Körper und lässt mich kurz in die Knie sacken.

Die Spannung bleibt in meinem Körper stecken, ich sacke weiter nach unten weg, es gibt keine Entladung für mich. Als ich tief Luft hole, endlich ausatme, kann ich spüren, wie Tränen in mir hochsteigen.

Alles geht vorwärts, nichts hält, nichts bremst. Ich möchte mich hinlegen.

Ich sollte die Jungs jetzt stoppen, denke ich, richte mich auf und ziehe mein T-Shirt nach unten, so halbwegs über die Unterhose, wofür schäme ich mich plötzlich? Habe ich einen Grund? Ich sollte sie davon abhalten, oder? Ich will es nicht aufräumen müssen, sie sollten die Sachen nicht kaputt machen, sollten sie wirklich nicht, schließe die Augen wieder, nur kurz, stelle mir vor, wie es sich anfühlen würde, etwas gegen die Wand zu schmeißen, mit aller Kraft. Ich möchte die Jungs nicht stoppen. Ich beneide sie.

Vorhin hatte ich auf das Gefühl gewartet, das das »Fertigsein« begleitet, den Stolz, dachte, sie spielen mit der Stadt, zeigen sie her, zeigen sie uns, Jonas und mir, damit wir sie bewundern können. Warum bin ich davon ausgegangen?

Jonas kommt die Treppe hoch und das Erste, was ich sehe ist, dass seine Hose offen ist, und ich denke, dass er wohl auf der Toilette war. Sein Tempo überfordert mich nach der ganzen Stille. Und kurz ist da ein Gefühl der Angst. Dass er alles kaputt macht.

»Was ist denn hier los?« Seine Stimme klingt dunkel. Er kommt auf mich zu und seine Hand greift sofort nach der Türklinke. Ich fasse nach seiner Hand und halte sie fest. Ganz fest. Halt meine Hand fest, bitte.

Mein Satz: »Lass sie doch, sie zerstören nur ihre Stadt …«, hängt sinnlos zwischen uns in der Luft.

»Das hört sich aber an, als würden sie das ganze Zimmer zerstören. Ich kann diesen achtlosen Umgang mit den Dingen nicht ab, Yv!« Ich halte immer noch seine Hand fest und durch meinen Kopf schieben sich laute Gedanken. Auf der Suche nach einer Erklärung, nach dem, was ich sagen möchte, durchkreuzen sie sich gegenseitig, brechen mittendrin ab, zerfallen in ein unendliches Für und Wider, und das so schnell:

… nichts davon war achtlos, Jonas (er wird das anders sehen), ganz im Gegenteil, es hatte was Liebevolles (ach wirklich?) … So viele Details, Häuser, gedeckte Tische, Menschen im Park, Hundekacke aus Wachsmalkreide, Jonas! (Warum zerstört man die ganze Arbeit, die man sich gemacht hat?) … weil Zerstörung auch eine Erlösung ist … (ich bitte Dich, Yv!) … die Luft im Zimmer war so … (Gewitter und Hitze sind zu abstrakt, kein Argument) … ist das denn nicht der Lauf der Dinge? Fertig ist fertig, muss dann nicht was Neues kommen … (und deshalb muss man es gleich kaputt hauen?) ja …vielleicht … Ordnung kann auch zerstörerisch sein, Jonas. Sie hält uns davon ab, etwas umzuschmeißen, hält uns fest, man erschlafft in ihren Armen, ermüdet in ihrer Umklammerung und dann kriecht einem das vermiedene Chaos in den Kopf (bist du bescheuert?).

Hab ich dir von den Feuerkeimern erzählt? (Die Feuerkeimer! Ich wollte ihm davon erzählen … längst schon), den Samen, die tief in der Erde ruhen, dort schlafen, hundert Jahre manchmal, die erst nach einem Waldbrand zu keimen beginnen, erst wenn ein Höllenfeuer über sie gewandert ist, wenn der Wald in Schutt und Asche liegt, hast du von denen gehört? (Es ist einfach nicht der richtige Moment für die Feuerkeimer …) Unsere Welt ist so heil, so in Ordnung, aber sind wir nicht unerträglich unerschütterlich geworden? … wo sollen die Jungs Widerstand lernen, wenn sie nicht mal was schmeißen dürfen? … ich war ein Riese in barfuß (Was soll das sein?) … sie dürfen niemals Angst vor dem Chaos bekommen, Jonas … Die Haut der Kinder, vorhin habe ich daran denken müssen, an die Haut ihrer Fersen, wie weich die war, hat das nicht alles aufgewogen, darüber zu streichen? … … … sie schützen zu wollen, vor all dem Bösen in der Welt, wie sehr wir uns immer schützen wollen … (das dauert alles zu lange … was soll das jetzt Yv?) … Ich ersticke in diesem Stillstand … (worum geht es, Yv?) … mir sind eben die Knie weich geworden, als es in meinem Rücken vibriert hat, ich wollte auch was zerstören, schön, deine Hand zu halten (Fass mich an), kannst du die Hand jetzt von der Türklinke nehmen und mich anfassen. Bitte …

Ich bin bei »Fass mich an« gelandet. Denn dort enden meine Gedanken. In dem Wunsch nach Unordnung. Und in diesem Moment verstehe ich, dass ich ihm keine verständliche Erklärung für das anzubieten habe, was im Kinderzimmer vor sich geht. Jonas und ich sind in verschiedenen Sprachen unterwegs und werden uns nicht verstehen. Und ich sage nichts, in diesen wenigen Sekunden, in denen zwischen uns nichts weiter entsteht als ein seltsam langer Moment der Stille, in dem sein Körper in Richtung Kinderzimmer drängt, während meiner sich dagegenstemmt. Leere.

»Lass sie doch … sie wollen doch einfach nur Zerstörung spielen«, sage ich dann und der brüchige Klang meiner Stimme ist mir sofort zuwider.

Ein Satz, der wie kraftloser, trockener Lehm zwischen uns in der Luft zerbröselt. Ich hab das Falsche gesagt. So unzureichend das alles.

Und deshalb sage ich dann auch noch: »Warum schlafen wir nicht mehr zusammen?«

Jonas ist sauer, dreht sich um und geht die Treppe runter.

»Dafür arbeite ich mir doch nicht den Arsch ab, Yv, dass hier am Sonntag, wenn ich noch halb penne, alles zerkloppt wird!«, sagt er, während er nach unten geht.

Hatte ich gedacht, ich könnte etwas heil machen? Jetzt hab ich’s kaputt gemacht.

Vielleicht ist das der Grund, warum ich so lange schon meine Gedanken vorbeiziehen lasse, sie nicht mehr mitteile. Auch die Wünsche nicht. Wenn ich sie ausspreche, verwandeln sie sich, weil sie Enttäuschte sind, in Vorwürfe.

Im Kinderzimmer ist es still. Die Stadt ist zerstört. Mit Hingabe.

Ich höre sie auch nicht streiten. Warum ist es so still?

Dann höre ich Mika durch die Tür: »Was machen wir jetzt?«

»Wir bauen was Neues«, sagt John ungerührt.

Danach wieder Stille.

Ich knie im Chaos. Die Jungs duschen, das Wasser läuft, trotzdem kann ich sie reden hören, ich höre sogar das Radio in der Küche.

Jemand im Radio sagt, dass selbst die Kühe unter der Zeitumstellung leiden und weniger Milch geben. Im Oktober stellen wir wieder auf Winterzeit um. »Die Zeitumstellung ist ein Relikt der Vergangenheit«, ruft der Mann im Radio aufgeregt, »nennen Sie mir doch einen Grund, die Zeit umzustellen! Warum muss ICH Ihnen denn beweisen, dass das unsinnig ist? SIE müssten mir doch beweisen, warum es sinnvoll sein soll, die Zeit ständig vor- und zurückzustellen, wenn jede wissenschaftliche Untersuchung dagegen spricht.«

Meine Oberschenkel zittern leicht, während ich über den Boden rutsche. Sitze im Chaos und fange an, alles wieder zurück in die Kisten zu räumen. Sortiere und ordne. Alles dorthin, wo es hingehört. Die alte Ordnung. Meine Ordnung. Ich weiß, die Jungs sollten das machen. Ihre eigene Ordnung machen. Aber ich möchte es machen. So wird es nichts mit der Eigenständigkeit, denke ich. Alles wieder an seinen Platz.

»Einmal beschlossen ist immer beschlossen«, ruft der Mann, »die Bereitschaft, etwas Idiotisches zurückzunehmen, ist einfach nicht sehr hoch entwickelt.«

Sie spielen wieder Musik im Radio. Die letzten aufgeregten Worte aus dem Radio bleiben bei mir im Kinderzimmer, ihr Echo begleitet die selbstverständlichen Bewegungen meiner Hände.

Ich erinnere mich nicht mehr, wann es angefangen hat, dass meine Gedanken so laut geworden sind. Wann es angefangen hat mit dem Gefühl von Abstand zu allem, was um mich herum geschieht. Die lauten Gedanken in meinem Kopf markieren diesen Abstand, sie schieben sich unablässig zwischen mich und die Menschen, die Dinge, die Ereignisse. Sie halten mich fern, halten mich davon ab zu wissen, was ich fühle, und dann davon, etwas zu tun oder zu sagen, mit ihrem ständigen Hin und Her.

Ich weiß nicht mal mehr, ob es meine Gedanken sind, sie kommen plötzlich, zählen mahnend auf, was ich zu tun habe (Du musst noch einkaufen gehen! Wenn du jetzt in den Keller runtergehst, darfst du aber nicht vergessen, danach einkaufen zu gehen), geben mir vor, was ich sagen sollte (Sag, dass dir Blumen gefallen), wiederholen es (Hast du dich für die Blumen bedankt?), bis ich es ausspreche (Danke für die Blumen), weil mir nichts anderes mehr einfällt als das, als hätte ich Angst, es zu vergessen, nicht mehr richtig zu funktionieren, als wäre mir alles Selbstverständliche abhanden gekommen, auch meine Zurechnungsfähigkeit, sie wiederholen laut, was ich schon gesehen habe (Die Kinder müssen aber mal Haare waschen), kommentieren es (Aber dringend!), so als müssten sie mich irgendwie in der Welt da draußen halten (Am besten jetzt gleich, noch vor dem Abendbrot) und verhindern, dass ich in mir versinke, zur Ruhe komme, und wenn ich mich darauf einlasse, spalten sie es sinnlos auf, selbst das Alltäglichste (Soll ich es jetzt oder morgen tun? War um will ich es nicht heute tun? Bin ich faul oder gelassen? Wahrscheinlich faul. Wäre ich gelassen, würde ich mich das nicht fragen. Bin ich überfordert? Wahrscheinlich. Blödsinn. Mit Haarewaschen? Warum schaffen es andere, ihren Kindern regelmäßig die Haare zu waschen? Ich bin zu müde. Von was? Ich hab ja noch nicht mal den Kindern die Haare gewaschen …).

Jeder Gedanke zerbricht verzweifelt in zwei Möglichkeiten. Und diese beiden Möglichkeiten dann in vier weitere, bis ich gar nichts mehr weiß. Und manchmal fassen sie den Irrsinn unter einer Überschrift zusammen, so als wäre mein Leben nur ein Bericht, eine Geschichte über bereits Geschehenes. Und nicht mein Leben.

So treiben sie mich durch die Tage, reden auf mich ein, bis ich müde bin, und je lauter sie werden, desto weniger weiß ich, was zu tun und zu sagen ist.

Ich werde immer stiller. Die Sprache ist zu einer Mauer geworden, die ich nicht mehr zu überwinden weiß, und die Bedeutung der Worte ist mir auch verloren gegangen. Ihre festgelegten Bedeutungen sind unzureichend geworden, keines beherbergt Bilder, die davon erzählen können, die einfangen könnten, wie ich mich fühle. Ich bin ein heimlicher Mensch geworden. Einer, der sprachlos hinter einer Mauer haust.

Ich wünschte, Jonas hätte meine Hand genommen. Nicht gedrückt. Gehalten. Es fühlt sich an, als wäre ich neben das Leben gerutscht. Plötzlich sehe ich mich selbst, so als würde ich noch immer da im Türrahmen stehen, sehe mich hier halbnackt, in Unterhose und T-Shirt, auf Knien, zwischen kaputten Häusern und zerstörten Straßen sitzen, mit meinen idiotisch automatischen Händen Playmobilfrauen, Ninja Turtles und wilde Tiere sortieren. Ein Riese in einer zerstörten Spielzeugwelt.

Eine Frau auf Knien. Sortieren und ordnen.

Ich weiß plötzlich, dass ich mich an dieses Bild erinnern werde.

Die Architektur des Knotens

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