Читать книгу Dieser eine Ort - Julia Schulze - Страница 10
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Jona
Unter dem Eis
Es war noch sehr früh am Morgen. So früh, dass selbst Mama noch tief und fest schlief und nicht mitbekam, wie er auf rutschigen Socken die Treppe hinunter durch den Flur schlich, dort seine Schneestiefel über die Hose stülpte und seine dicke Jacke anzog, eine dunkelblaue Daunenjacke mit Kapuze und einem kleinen Riss an der Seite von der letzten Schlittenfahrt, bei der er ungebremst durch eine Hecke gerast war. Trotzdem war es ein Riesenspaß gewesen!
Die Socken saßen schief um den Fuß und bildeten kleine Knubbel an den Sohlen, aber das durfte ihn jetzt nicht abhalten. Jona hatte etwas Wichtiges vor, da konnten ihn auch die SockenHubbel in den Schuhen nicht aufhalten.
Er hatte sich alles genau überlegt, auch, was er heute brauchen würde. In der Jackentasche tastete er nach dem Stück Schnur und dem kleinen, spitzen Haken. Gut, es war alles da, fehlte nur noch der Stock. Den würde er im Schuppen finden, dort, wo vieles lag, das Papa nicht mehr brauchte, und vieles, das Jona aufheben wollte. Er schlüpfte durch die Haustür und zog sie leise zu.
Die Luft war eisig und schnitt ihm in die Wangen. Es hatte wieder geschneit. Wenn gleich die Sonne aufging, würde es ein perfekter Wintertag werden.
In einer Ecke des alten Schuppens fand Jona den Stock, den er seit dem letzten Winter hier aufbewahrte. Jetzt hatte er alles. Es konnte losgehen.
Friedlich, wie das Weiß sich über alles gelegt hatte, wie eine dicke, warme Decke. Jona stellte sich vor, wie sich Grashalme, Äste und Sträucher in die Schneedecke kuschelten und träumten, vielleicht von den ersten warmen Sonnenstrahlen, vielleicht auch von Bienen oder Eichhörnchen, die sich mit ihnen unterhielten, vielleicht auch von Außerirdischen, die auf der Suche nach Treibstoff für ihr Schiff waren. Sie würden weiterfliegen müssen, denn wie ein Schutzmantel bewahrte die Schneedecke die Natur davor, entdeckt zu werden.
Vom Himmel aus musste das schön aussehen, die Welt wie eine riesige Zitroneneiskugel.
Seine Stiefel versanken tief. Manchmal verirrte sich ein Schneeklumpen in den Stiefelrand und hinterließ einen nassen Fleck an der Wade. Das machte nichts, er würde sich nachher umziehen und einen heißen Kakao trinken. Mama machte den besten Kakao. Er freute sich schon darauf.
Aber erst musste er zum See hinunter.
Der lag sanft eingebettet zwischen den Bäumen, die bauschige Federkissen aus Schnee trugen. Der See und alle seine Geheimnisse hielten Winterschlaf, verborgen unter einer festen Eisdecke. Nur die Sonne war jetzt wach, ein wenig lahm, aber wach genug, um einen glitzrigen Zauber auf den See zu werfen.
Vorsichtig setzte er einen Fuß auf das Eis. Es knarzte leise. Er musste jetzt gut aufpassen, dass die Eisdecke ihn auch tragen würde. Am Ufer, so hatte Papa gesagt, könne das Wasser nämlich nicht so gut gefrieren, weil es flacher und nicht so kalt sei. Okay, einen großen ersten Schritt. Kurz warten. Gut hinhören. Wenn die Eisdecke schwieg, erlaubte sie auch, weiter auf ihr herumzuspazieren. Jona konnte nichts hören, also machte er weitere große Schritte, schob den Schnee mit seinen Stiefeln zur Seite und zog seine Spur über den See, der eigentlich ihr gemeinsamer See gewesen war: zum Baden, zum Tauchen, zum Hockeyspielen und Eislaufen. Hier hatten Jona und sein Bruder schwimmen gelernt und Wasserläufer gefangen. Mit Püppi, dem Hund ihrer Nachbarn, am Ufer gespielt und Wettrennen zum Kiosk veranstaltet.
Nur zum Eisangeln hatte er nie mitgedurft. Letztes Jahr hatte er seinen Bruder angebettelt, dass er ihn doch endlich einmal mitnehmen solle.
»Im nächsten Winter, Jona, dann bist du groß genug, und ich nehm dich mit«, hatte sein Bruder stattdessen geantwortet.
»Dann angelst du, ich schau nur zu, und du bringst uns einen Fisch mit, einverstanden?«
»Versprichst du’s?«
»Ich versprech’s dir, Kleiner.«
Ungeduldig und voller Vorfreude auf das gemeinsame Abenteuer hatte Jona seinem Bruder hinterhergeschaut.
Als Jona ungefähr in der Mitte des Sees angekommen war, kniete er sich hin, schob Schnee beiseite und schielte durch das freigewordene Loch. Dunkel war es darunter. Aber er wusste, dass die Fische dort auch im Winter waren, wo sollten sie auch hin? Und außerdem machte Fischen das kalte Wasser nichts aus, durch ihren Körper floss kälteres Blut, hatte Papa ihm erklärt.
Gemeinsam losziehen, ja, das hatten sie sich vorgenommen. Weil das jetzt nicht mehr ging, musste er das hier allein schaffen. Wenn er einen Fisch fangen würde, so dachte Jona, würde sein Bruder, wo immer er jetzt auch war, sehr stolz auf ihn sein, und seine Eltern auch. Vielleicht würde seine Mutter ihn zubereiten und ihm das erste Stück zum Probieren lassen. Ja, das war ein guter Plan. Er würde das auch allein schaffen. Er war jetzt groß genug, das hatte sein Bruder ihm schließlich auch gesagt.
Kräftig stieß er mit dem Stock gegen die Eisdecke. Einmal, noch einmal. Ein dumpfes Pochen gab die Eisdecke zurück, widerwillig, bis sie entnervt nachgab. Kleine Risse zeigten sich. Jona hob den Stock immer wieder an, bis das Eis ein kleines Loch freigab, durch das der Angelhaken passte.
Seine Hände waren rot und eiskalt. Warum hatte er nur die Handschuhe vergessen? Er betrachtete die blauen Linien unter seiner Haut und seine blassen Finger – wie die Hände von Außerirdischen. Mit tausend kleinen Adern, durch die eine dunkle Flüssigkeit lief, die Zauberkräfte enthielt. Mit steifen Fingern band er das Stück Schnur um den Stock, fest und mehrfach, so wie er es bei seinem Bruder viele Male beobachtet hatte. Den Angelhaken an die Schnur, fertig war seine erste Eisangel. Stolz hielt er sie in die Luft, dann tauchte er den Haken in das schwarze Wasser und dachte, dass die Fische nun bestimmt einen Heidenschreck bekamen.
Er beugte sich näher zum Wasser hin. So dunkel war es gar nicht. Es schimmerte und funkelte. Er beugte sich tiefer, noch tiefer, noch näher ran an das Loch.
Es gluckerte unter ihm.
Ein Knarzen. Ein Knacksen. Ein Schwappen.
Plötzlich sah er überall kleine leuchtende Sterne aufblitzen.
Kalt war ihm nicht. Auch nicht warm. Irgendwo dazwischen, es war schwer zu sagen. Auf jeden Fall brauchte Jona die Stiefel nicht mehr. Er ließ sie von seinen Füßen gleiten und trieb durch das Glitzern, das ihn umgab. Er drehte sich und sah die Fische, die er eigentlich hatte angeln wollen.
Sie lächelten ihn an! Ihre Blubb-Münder waren leicht geöffnet, und ihre Flossen paddelten hin und her, als würden sie ihm zuwinken. Ein Fisch kam besonders nah. Dann drehte er schnell wieder ab.
Jona war froh, schwimmen und tauchen gelernt zu haben. Mit kräftigen Froschbeinschlägen tauchte er hinter dem Fisch her. Es ging sehr tief abwärts, Wasserranken, lila und goldglänzend, streiften seine Jackenärmel. Er tauchte tiefer. Das Wassergras wurde immer dichter, bis es sich auf einmal auftat wie ein Vorhang. Dahinter war es hell. Und aus dem Licht kam ihm von unten jemand entgegengeschwommen. Ein großer dunkler Punkt näherte sich. Ein Mensch.
Jona traute seinen Augen nicht. Finn!
Finn tauchte durch das Seegras hindurch auf Jona zu, Luftblasen sprudelnd und winkend. Finn hatte richtige Froschhände bekommen. Lange knotige Finger, gar nicht schrumplig, sondern glatt und kräftig mit Schwimmhäuten dazwischen.
Aber es war eindeutig Finn, sein großer Bruder Finn. Den Jona seit genau einem Jahr und drei Tagen mehr als vermisste. So sehr, dass ihm manchmal das Atmen wehtat und er zu seiner Mutter gelaufen war, weil er dachte, er würde ersticken.
»Mein kleiner Jona, das ist der Schmerz. Wenn er sehr groß ist, bläht er sich riesig auf – hier drinnen«, seine Mutter hatte ihre Hände auf seinen Brustkorb gelegt, genau dahin, wo es so schmerzte. »Mir tut es hier auch weh, wenn ich an ihn denke, weißt du?«
Davon war der Schmerz zwar nicht weggegangen, aber wenigstens hatte Jona keine Angst mehr gehabt. Im Gegenteil, er hatte vermutet, dass Finn vielleicht einfach in seinem zu kleinen Brustkorb hauste und an die Rippen stieß.
Und jetzt? Nichts tat weh, nichts schmerzte. Finn hatte einen neuen Platz gefunden, hier unten, bei den Fischen.
Finn nahm Jona an die Hand. Gemeinsam schwammen die Brüder durch das Seegras. Finn zeigte Jona den See von einer Seite, wie er ihn noch nie gesehen hatte. Hier, unter der Eisdecke, wo Menschen nur sehr selten hinkamen. Sie wussten nichts von der schillernden Welt der lächelnden Fische.
Mama und Papa würden staunen, wenn er ihnen nachher davon erzählte. Aber erst hatte er noch eine Menge Fragen. An Finn. Wie redete man unter Wasser? Und wie atmete man? Wie lebte man überhaupt hier? Er strampelte hinter seinem Bruder her, der immer schneller schwamm.
»Finn! Finn, hörst du mich? Ich muss gleich zurück, warte, schwimm nicht weg …«
Er hatte Mühe mitzuhalten, und der Abstand zwischen ihnen wurde größer. Jona bekam Angst.
»Finn, bleib hier!«
Um sie herum wurde es immer heller, vielleicht weil sie wieder so nah an der Eisdecke schwammen oder weil es hier unten noch ein anderes Licht gab, eines, von dem Jona noch nie etwas gehört hatte. Er musste Finn fragen, ob es eine Erklärung dafür gab … Finn!
Plötzlich wurde es sehr hell. Gleißend hell. Jona musste die Augen kurz zusammenkneifen. Er hoffte, Finn nicht aus den Augen zu verlieren. Er hatte ihn doch schon einmal aus den Augen verloren, weil Augen nicht alles festhalten konnten, manches einfach wegrutschte und weder von Augen noch von Armen gehalten werden konnte.
Da tauchten auf einmal Mama und Papa auf.
Mama links neben ihm und Papa rechts, ein bisschen weiter entfernt. Aber Finn war weg. Wo war Finn? Es war immer noch sehr hell, aber es hatte aufgehört zu glitzern. Weißes Licht stach Jona in die Augen. Er konnte nichts mehr erkennen.
»Ich muss einfach die Augen zumachen«, flüsterte er.
»Jona, komm zurück.« Mamas Stimme.
Aber ja doch, er war doch da, wo sollte er auch sein? Was wollte Mama denn? Gab es schon Frühstück?
Aber er hatte noch gar keinen Fisch gefangen. Er wollte doch einen Fisch mitbringen. Eine Überraschung sollte es werden.
Er öffnete die Augen wieder, und wieder saßen seine Eltern neben ihm. Auf einem Bett, das nicht seines war. Es war viel zu weiß. Wie die Schneedecke, nur wärmer … Er tauchte wieder darin ein. Er fühlte sich steif und müde, unendlich müde, so müde, dass ihm die Augen wieder zufielen.
»Jona.«
Jemand drückte seine Hand, dann spürte er eine warme Handfläche an seiner Wange. Er blinzelte und sah, wie Mama ihn anlächelte. Sie hatte keinen Blubb-Mund. Alles an ihr war schmal, auch ihre Augen, aus denen Tränen tropften und auf seine Bettdecke plumpsten. Warum weinte sie denn?
»Mama, ich hab Finn gesehen.«
»Oh Gott, mein Schatz.«
Ihr schmaler Mutterkörper drückte sich gegen seinen Brustkorb. Jona musste husten. Husten tat weh. Er stöhnte. Sofort ließ seine Mutter ihn wieder los.
»Entschuldige, mein Kleiner, ich bin einfach so froh, dass du bei uns bist, dass es dir gut geht. Ich hätte es nicht ertragen, wenn du auch noch … dieser verdammte See!«
Wieder eine Träne. Was war denn los?
Jona musste ihnen von Finn erzählen. Dass Finn gar nicht weg war. Dass er eigentlich einen Fisch hatte angeln wollen und stattdessen seinen Bruder wiedergefunden hatte. Wenn er mehr Zeit gehabt hätte, vielleicht wäre Finn dann mitgekommen und sie hätten doch gemeinsam … So wie Finn es eben versprochen hatte, bevor er für immer unter dem Eis verschwunden war. Weil es diese eine dünne Stelle gegeben hatte.
»Mama, Finn hat Froschhände und kann irre schnell schwimmen damit. Er ist da unten im See!«
»Ach, Jona«, seine Mutter seufzte. »Wir haben doch darüber gesprochen. Finn ist jetzt woanders, nicht mehr im See, irgendwo anders, und nicht mehr bei uns. Er ist …«
Mama hatte keine Ahnung! Er, Jona, wusste, wo Finn jetzt war. »Nein, nein, ich weiß es ganz sicher, wir sind zusammen getaucht.«
Seine Mutter sah weg, suchte den Blick von seinem Vater, der am Fenster stand, mit dem Rücken zu Jona.
Jona verstand nicht. »Das ist doch eine gute Nachricht! Finn ist gar nicht tot!«
Er versuchte es ein letztes Mal: »Mama, Papa, Finn geht es gut, ich weiß es, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Unter dem Eis.«
Da drehte sich sein Vater zu ihm um, mit seinem Blick, der zurückgekommen war, zurück aus der Ferne, zurück ins Krankenhaus, in sein Zimmer, an sein Bett, zurück zu ihm, Jona. Er lächelte ihn an, und Jona konnte seinen Bruder darin erkennen, das schiefe Lächeln, das Lächeln, bevor Finn das letzte Mal zum See losgezogen war, das Lächeln, als er heute Morgen durch das Gras getaucht kam und ihm zugewunken hatte.
»Ja, das ist eine gute Nachricht, Jona«, sagte sein Vater.