Читать книгу Dieser eine Ort - Julia Schulze - Страница 11
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Paula
Das Ultimatum
»Wenn er mich bis zum Ende des Sommers nicht küsst, dann ist endgültig Schluss.« Damit setzte Paula Frederik ein Ultimatum, von dem dieser nichts wusste.
Und der Sommer kam, die Zeit lief und nichts passierte. Dabei hatte es genug Gelegenheiten gegeben, Schulpausen, Partys, Busfahrten, Schulausflüge … Sie war sich so sicher, dass Frederik Interesse an ihr hatte. Ganz sicher.
Am letzten Schultag verließ Paula das Schulgebäude mit Tränen in den Augen. Sechs Wochen keine Schule hieß, sechs Wochen keine Pausen, keine gemeinsamen Schulstunden mit Frederik, um sich Zettelchen zu schreiben oder lange Blicke zuzuwerfen. Wieder dieses Sehnen, das sie ungeduldig durch die Ferien zerren würde bis zum nächsten Wiedersehen.
Gerade, in der letzten Stunde, als die Englisch-Referendarin Lehrprobe hatte, hatte sie zu Frederiks Platz geschielt und war fürchterlich errötet, als sie bemerkte, dass er sie wohl schon länger angesehen hatte. Schnell hatten beide weggeschaut und die Frage der jungen Lehrerin verpasst.
»I’m sorry.«
»Love is all you need«, hatte Paula auf ihren Tisch gekritzelt. Dann hatte es geklingelt, und die Schule sie in die Ferien entlassen.
Und jetzt? Frederik verschwand im Getümmel, und Paula blieb zurück. Sie wartete auf Annika. Sie wollten beide zum See – raus und bloß nicht nach Hause, wo sich Paulas Liebeskummer ungestört ausdehnen würde, ungestört, weil niemand dort war, der ihn aufhalten oder ablenken konnte. Ihre Eltern arbeiteten, wie immer eigentlich. Auf die stille Wohnung hatte sie wirklich keine Lust.
»Hey, Pauli!«, rief Annika und stand wie eine Welteneroberin auf der obersten Stufe der Eingangstreppe. »Bye, bye, Schule! Hallo, Ferien!«
Sie streckte beide Arme in die Luft, wirbelte herum und drückte Paula an sich. »Komm, lass uns endlich fahren.«
Zu ihrem Stammplatz, zu dem kleinen Stück aufgeschüttetem Sand unter der dichten Krone des alten Ahornbaums. Nicht weit vom Kiosk, wo es das beste Eis oder auch das ein oder andere Bier zu holen gab.
Sie brauchten nicht lange, bis sie das Glitzern des Wassers durch die Büsche erkennen konnten.
»Ich liebe dieses Stückchen Erde wie kein anderes«, sagte Paula und breitete ihre Decke aus.
»Ich auch.«
»Ich noch viel mehr.«
»Das stimmt. Paula und der See. Meinst du, Freddi kommt dann immer mit? Wenn ihr endlich mal zusammen seid?«
Paula rollte mit den Augen. »Na klar, wer mich liebt, muss auch den See lieben.«
»Na, dann sag das mal Frederik.«
»Wann denn? Und wie? Mann, seit der sechsten Klasse renn ich dem schon hinterher.«
»Das musst du mir nicht erzählen – ich bin schließlich langjährige Augenzeugin deiner Freddimania.«
»Ich sag’s dir, wenn das diesen Sommer nix wird, dann …«
»Was dann?«
»Ach nichts. Komm, lass uns schwimmen.«
Sie zogen sich um und rannten ins Wasser. Frisch und kalt umschloss es Paulas Körper. Sie tauchte ab, und ihre Lippen formten Worte, die in dicken Luftblasen aus ihrem Mund an die Oberfläche schwebten: »Komm und küss mich endlich!«
Als Paula wieder auftauchte, sah sie Frederik. Ihr Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus, bevor es in einen neuen, schnelleren Takt fand. Er war tatsächlich da, am Ufer, mit einem Kumpel, und sah sich nach einem Liegeplatz um.
»Nika, schau, wer da ist.«
»Ohhhh, dein süßer Frederik.« Annika machte einen Kussmund.
»Lass das, du Spinnerin.«
»Soll er sich doch zu uns setzen, oder?«
»Nein, warte … Doch, ja, aber nein, lieber nicht. Ich will nicht, dass er mich so …«
Zu spät für Einwände. Annika hob ihre Hände und stapfte winkend an Land. »Hey, Freddi! Frederik, hier sind wir!«
Paula kam hinter ihr her. Dieses verdammte Herzklopfen. Je wilder ihr Herz schlug, desto eher verschlug es ihr die Sprache, wenn Frederik in der Nähe war. Als sie aus dem Wasser kam, zog sie reflexartig ihren Bauch ein wenig ein und strich ihre Haare glatt. Es war anstrengend, nach den richtigen Worten zu suchen und sich gleichzeitig in der besten Pose zu zeigen, wenn nur zwei kleine Stoffteile den Körper bedeckten. Auf keinen Fall sollte Frederik sie von hinten sehen. Ihren Hintern und die unförmigen Oberschenkel.
»Hi, Annika. Hi, Paula.«
Und da war er wieder, der leicht verlängerte Blickkontakt.
»Hi, Frederik.« Mehr fiel ihr nicht ein. Viel mehr fiel ihr eigentlich nie ein. Wieso schaffte er es jedes Mal, sie so einzuschüchtern?
»Kommt, legt euch doch zu uns.« Annika zog die Liegedecken ein wenig zur Seite.
Annika dagegen war so unerschrocken, dass Paula sie im Stillen beneidete.
»Ja, cool. Komm, legen wir uns zu den beiden.« Frederik rollte eine Matte aus. »Ach ja, übrigens, mein Kumpel Linus. Das sind Annika und Paula aus meiner Stufe.«
»Hi.« Linus hob kurz die Hand zum Gruß und versenkte seinen Blick in seinem Rucksack.
»Der scheint ja nicht wirklich Lust auf unsere Gesellschaft zu haben«, dachte Paula.
Linus legte sich an den Rand, Frederik quetschte sich zwischen Paula und Annika. Paula drehte sich auf den Rücken, die Beine angewinkelt, auf die Ellbogen gestützt, bis alles wohlproportioniert aussah und nichts kommentiert werden konnte. Sie hatte oft genug gehört, wie Frederik Mädchen im Vorbeigehen begutachtete.
»Seid ihr öfter hier?«, fragte Frederik.
»Jeden Tag. Also Paula jedenfalls. Das ist ihr Platz, er ist ihr heilig. Also benimm dich«, erklärte Annika.
»Verstanden. Aber, hey, wisst ihr, dass hier letzten Winter ein Junge ertrunken ist? Ist alleine aufs Eis gegangen und zack, bricht er ein. Echt heftig. Ich glaub, die Eltern wohnen noch hier am See, dahinten in dem Haus. Mit dem kleinen Bruder.«
Er wand den Kopf zur rechten Seite. Hinter einer kleinen Anhöhe waren die Dachziegel eines Bauernhauses zu sehen.
»Oh Mann, jetzt verdirb uns bitte nicht die Laune, Freddi.« Annika schubste Frederik, und Frederik schubste Annika zurück.
Ein bisschen zu viel Körperkontakt, fand Paula und überlegte fieberhaft, was sie dazu sagen konnte. Die Geschichte bedrückte sie immer wieder. Natürlich hatte sie davon gehört. Sie war hier aufgewachsen, sie kannte den See in all seinen Facetten, auch in seinen dunkelsten.
»Ja, man hat den Bruder wohl auch nie gefunden.« Frederik ließ das Thema nicht los, ritt weiter darauf rum. Konnte er nicht ein bisschen … taktvoller sein?
»Jetzt erzähl mir nicht, hier schwimmt noch irgendwo ’ne Leiche rum.« Annika verzog das Gesicht.
»Nika!« Paula war entsetzt. Über diese Vorstellung und über das Gehabe ihrer Freundin, das Frederik auch noch zu gefallen schien. Er betrachtete die beiden Mädchen mit einem amüsierten Blick.
»Ich glaube nicht, dass er noch hier ist.« Das kam von Linus. Paula drehte sich zu ihm.
»Aber wenn ihr mich fragt, dann ist er ganz woanders. In irgendeiner Parallelwelt oder so was.«
»Alter, was redest du für einen Quatsch«, rief Frederik dazwischen und schlug mit einem Handtuch nach seinem Freund.
»Wieso nicht?« Linus wich den Schlägen aus.
»Ja, warum nicht?«, sagte Paula. So etwas musste auch für den überlebenden Bruder und die Eltern ein Trost sein.
»Ohhhh, ich halt’s nicht aus. Will jemand ein Bier? Ich geh mir eins holen.« Annika stand auf.
»Bring mir eins mit«, sagte Frederik und blinzelte schelmisch zu Annika hoch.
»Hol’s dir selbst, Macho.« Auf ihren langen Beinen stolzierte sie Richtung Kiosk.
»Okay, okay, ich geh mir auch was zu trinken holen.« Frederik stand ebenfalls auf.
Paula wurde unruhig. Sie schaffte es einfach nicht, mit Frederik einmal allein zu sein, und gleichzeitig war sie froh darum. Als er außer Sichtweite war, ließ sie sich auf ihr Handtuch fallen. Ihre Bauchmuskeln entspannten sich, und sie seufzte laut.
»Kann nerven, der Kerl, oder?«
Paula schreckte hoch. Sie hatte Frederiks Freund völlig vergessen.
»Ach nö, ich mag ihn.« Hatte sie das tatsächlich gesagt? Heiße Röte schoss ihr in die Wangen. »Also ich find ihn nett.«
Da wusste sie, dass sie sich verraten hatte. Linus grinste über das ganze Gesicht.
»Alle Mädels finden Fred ›nett‹.« Seine Hände malten Anführungszeichen in die Luft.
»Halt bloß die Klappe!«
»Ich werde schweigen.« Linus kreuzte Mittelund Zeigefinger.
»Ich schwör’s.«
Paula sah, wie er ein Lachen unterdrückte, und glaubte ihm kein Wort. Trotzdem musste sie schmunzeln.
Sie richtete sich auf und blickte über den See. Ihren See. Es war ein perfekter Sommertag, das Licht glitzerte auf der Wasseroberfläche, von überall drangen Kindergeschrei, Geplansche und von etwas weiter her das Getobe vom Volleyballfeld an ihr Ohr. Das Südufer war heute dicht belegt von den Nackten. Rauchschwaden zogen über die Wiese auf der anderen Uferseite und lockten mit dem würzigen Duft von Grillfleisch. Ein paar Gesichter kamen ihr bekannt vor. Menschen, die wie sie oft oder über viele Jahre hierherkamen – zum Baden, Sonnen, Spazierengehen. Im FFK-Bereich entdeckte sie auch den Typen, der seit ein paar Wochen immer allein unter einem Baum im Schatten lag, man kannte hier nur seinen Nachnamen, irgendwas mit K. Ganz in seiner Nähe lag ein weiteres Handtuch. Ob er jemanden kennengelernt hatte oder genau wie sie noch immer von einem Kuss von einer ganz bestimmten Person träumte? Am anderen Ende des Sees sah sie einen cognacfarbenen Cockerspaniel ins Wasser rennen, ein einziges Gespritze aus Fell und Wasser. Das musste Püppi sein. Und die Frau daneben Annikas Mama.
Zwischen Annikas Eltern lief es nicht gut, aber darauf durfte Paula sie nicht ansprechen. »Hör mir bloß auf mit meinen Eltern. Sobald ich mein Abi hab, bin ich hier weg!«
Paula glaubte Annika aufs Wort. Ihre Freundin würde sicherlich so weit weg wie möglich irgendwo studieren und weiterfeiern. Was aus ihr, Paula, werden sollte, wusste sie noch nicht genau. Sie kannte kaum etwas anderes als das, was man von zu Hause aus mit dem Fahrrad erreichen konnte. Und: Die Welt war groß – wo sollte sie anfangen, nach einem neuen Platz zu suchen? Zum Glück hatte sie noch zwei Schuljahre Zeit, dieser Frage nachzugehen.
»Wollen wir eine Runde schwimmen?« Linus unterbrach ihr Sinnieren. Er hatte sich auf einen Ellbogen gestützt und schaute Paula an.
Ja, Paula wollte unbedingt schwimmen.
»Na los, wo bleibst du denn?« Sie rannte los.
Als sie ins Wasser eintauchte, erschrak sie kurz. Ob er Frederik von ihrem wackelnden Hinterteil erzählen würde? Von dem bisschen Zuviel? Sie schwamm los. Schnell. Davon.
Linus holte sie ein »Wow, du machst das öfter, oder?«
»Was? Vor Jungs davonlaufen oder schwimmen?«
Linus lachte. »Wahrscheinlich beides.«
Dann kraulte er ihr davon. Richtung Sprungturm. Keine gute Idee.
Sie holte auf: »Hey, Linus, warte mal!«
Linus hob den Kopf aus dem Wasser. »Was? Kannst du etwa nicht mehr? Ich dachte, wir schwimmen bis zu dem Turm da!«
»Ne, lass mal. Das Ding ist Schrott. Schon lange. Da soll eigentlich niemand mehr hin.«
Einen Moment betrachtete Linus das alte Gerüst.
»Lass uns einfach zur anderen Seeseite rüber.« Paula schwamm los. Linus folgte ihr.
Schwer atmend ließen sie sich auf die Wiese fallen, die direkt an den FKK-Bereich grenzte. Wassertropfen perlten an ihnen herunter, ihre Brustkörbe hoben und senkten sich in einem schnellen Rhythmus. Alles pulsierte. Alles lebte.
»Dich hab ich hier noch nie gesehen, oder?«
»Ich bin das erste Mal hier, ich gestehe.«
Sie drehte sich zu Frederiks Kumpel um. Frederik, der jetzt mit Annika auf der anderen Seite zusammensaß und Bier trank. Vielleicht schwatzten sie, lachten über Frederiks Witze, schubsten sich. Paula schüttelte ihre nassen Haare. Sie hatte Annika nie als Konkurrentin gesehen. Und trotzdem: So hatte sie sich den Ferienanfang nicht vorgestellt. Etwas lief anders, sie wusste nur noch nicht, was. Eigentlich wollte sie von Frederik loskommen, und noch viel mehr wollte sie eigentlich endlich von ihm geküsst werden. Die Chancen standen nicht schlecht. Auch Annika hatte ihr das bestätigt. »Aber wenn er gar nicht mich, sondern Annika …?« Paula schob den Gedanken weg. Annika war ihre Freundin.
»Wie kommt es, dass du noch nie hier warst?« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Jungen neben sich zu.
»Hm, der See ist nicht gerade ums Eck.« Das klang nach einer Ausrede.
»Okay, blöde Ausrede«, bestätigte Linus, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
»Also deiner Hautfarbe nach zu urteilen, bist du eher so der Drinnen-Typ, oder?« Paula wollte ihn provozieren. Vielleicht war er ein Streber, so einer, der lieber Zeit mit seinem Mathebuch verbrachte.
Linus schaute an sich hinunter. »Du hast mich durchschaut! Rate weiter. Ich bin gespannt, was du noch über mich herausfindest.« Entspannt ließ er sich auf den Rücken fallen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
»Okay. Also du bist gerne drinnen … Und lernst? Für dein Einser-Abi?«
»Du denkst, ich bin ein Streber, der sich hinter den Schulbüchern versteckt?«
»Niemals!« Paula fühlte sich erneut ertappt. Sie kreuzte, wie Linus vorhin, schwörend die Finger und hoffte, dass sie nicht rot wurde. »Neuer Versuch: Du bist ein heimlicher Rockstar, der gerade am nächsten Platin-Album arbeitet.«
»Gut geraten. Willst du ein Autogramm?«
»Ja, bitte. Mit persönlicher Widmung.«
»Geht klar.«
Linus drehte sich auf den Bauch. Wassertropfen rollten aus seinem Haar zwischen seinen Schulterblättern hinunter und landeten in der Kuhle am unteren Rücken. Unter seiner blassen Haut spielten die Muskeln im Takt der Bewegungen. Paula schaute weg. Sie versuchte, Annika und Frederik auf der anderen Seite auszumachen.
»Sag mal, woher kennst du eigentlich Frederik?«
»Ach, Fred und ich, wir kennen uns schon Ewigkeiten! Wir waren Sandkasten-Buddys.«
»Echt?«
»Ja, wir haben uns beim Burgenbauen kennengelernt. Da waren wir irgendwie drei oder so.«
Die Vorstellung der beiden Jungs, mit Eimerchen und Schäufelchen im Sand spielend, gefiel Paula. Auch wenn die beiden nicht unterschiedlicher hätten sein können.
Sie warf einen weiteren Blick auf Linus’ Rücken und fragte: »Aber ihr seid sonst nicht oft zusammen unterwegs, oder? Sonst wären wir uns doch schon mal über den Weg gelaufen?«
»Fred und ich? Erst seit Kurzem wieder. Meine Eltern sind vor Ewigkeiten mit mir von hier weggezogen und na ja, jetzt sind wir wieder hier.«
»Tja, von diesem Ort kommt man eben nicht los.«
»Scheint so.«
Sie sah, wie Linus nach einem kleinen Kiesel suchte und ihn in den See schleuderte. Pling. Pling. War das Wut oder Frust, oder langweilte ihn das Gespräch? Themenwechsel, entschied Paula.
»Jetzt sag mal ehrlich: Machst du wirklich Musik? Spielst du in einer Band oder so?«
»Ich spiele Bass.«
Beruhigt stellte Paula fest, dass das hier ein gutes Gesprächsthema zu sein schien. Ein wirklich gutes, denn seine Gesichtszüge wurden weicher.
»Hin und wieder schreibe ich an einem Song. In meinem Zimmer. Oder in dem Keller, wo unser Proberaum ist. Kein Sonnenlicht. Du weißt schon, Orte für Drinnen-Typen.«
Linus setzte sich auf und betrachtete Paula von der Seite.
»Komm doch mal vorbei. Wir proben zweimal die Woche. Hinten beim Industriegelände.«
»Muss ich dann mit euren Fans Schlange stehen, oder bekomme ich einen exklusiven Backstage-Pass?«
»Ah, da gibt es nur uns vier Musiker, unsere Instrumente, einen Hausmeister und ein paar Mäuse vielleicht. Die kleinen Nagetiere, du weißt schon. Wäre das exklusiv genug?«
»Ich denk drüber nach.«
Linus musste lachen. »Und du? Was ist das für eine Geschichte mit dir und dem See?«
»Was meinst du?«
»Na ja, es ist ja offensichtlich, dass du öfter hier bist, wahrscheinlich öfter als wir alle zusammen, oder?«
Er sah sie an. Lächelte vorsichtig, prüfend, wie weit er mit seinen Fragen bei ihr vordringen durfte. Paula hielt seinem Blick stand. Er schaute immer noch. Paulas Herzschlag beschleunigte sich wieder. Sie suchte das Gras nach Halmen ab, an denen sie rupfen konnte.
»Stimmt schon. Irgendwie ist mir das noch nie so bewusst gewesen. Der See ist einfach immer da. Und ich auch. Ich hab das Gefühl, er kennt mich besser als meine Eltern.«
Linus schwieg. Er schien in seinem eigenen Gedankengewebe zu hängen.
»Hast du auch so einen Ort?«, fragte sie zurück.
»Vielleicht geht es mir beim Musikmachen so.« Er schwang sich in die Hocke und fuhr sich durch seine nassen Haare. »Wenn ich Musik machen kann, dann bin ich angekommen. Dafür braucht es keinen festen Platz auf der Landkarte. Wir sind einfach zu oft umgezogen. Lange Geschichte«, fuhr er fort. »Aber es muss schön sein, einen Ort so inund auswendig zu kennen.«
Paula schwieg für einen Moment. Dachte an Linus und seine Band. »Ich hab auch mal ein Instrument gespielt. Klavier.«
»Was ist passiert?«
Sie schaute auf ihre Hände, die weiter Grashalme ausfindig machten und daran zupften. Wieso erzählte sie ihm das?
»Nichts. Ich hab aufgehört.« Sie drehte kleine Grashalmknötchen mit ihrer Hand. Dann zog sie mit einem Arm einen weiten Bogen über die Szenerie vor ihnen. »Ich hab doch das hier.«
»Na, dann … Rückrunde!« Linus sprang auf und stellte sich zwischen sie und den See. »Wollen wir zurück zu den anderen?«
Paula war dankbar für den Schnitt. Linus hatte an etwas gerüttelt, an dem nichts zu rütteln war. Sie konnte sich schlicht kein teures Hobby leisten. Trotzdem, es war schön, mit jemandem über ihren See zu sprechen, über diese tiefe Bindung, die sie zu ihm verspürte.
Am gegenüberliegenden Ufer drehte der Ferienanfang weiter auf. Inmitten des Gewimmels aus Badehosen, Luftmatratzen, Einhörnern und Schwimmflügeln, blitzte Annikas rosaroter Bikini hervor. Daneben saß jemand, Frederik. Das Herzklopfen, das sie seit der sechsten Klasse begleitete, dieses unstete Klopfen, das gerne in die Kehle wanderte und in den Ohren dröhnte, war ein bisschen zur Seite gerutscht. Hatte Platz gemacht. Für was? Für ein Gefühl, das sich am besten mit Unwillen beschreiben ließ. Wo kam das her?
»Hey, Erde an Paula?« Linus wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum.
Paula holte ihren Blick zurück vom anderen Ufer und sah Linus an, seine wasserblauen Augen, seine Sommersprossen, seine nassen Strubbelhaare.
»Sorry. Ich war mit meinen Gedanken grad …«
»Schon klar.« Linus schob sich ein paar Strähnen aus der Stirn.
»Der Fred. Immer raubt er den Frauen den Verstand.«
Ohne nachzudenken, ohne an wackelnde Hintern, verrutschte Frisuren und an die richtigen Worte zu denken, stand Paula auf, griff nach Linus’ Hand und zog ihn Richtung Wasser. »Okay, wer verliert, gibt ein Eis aus!«
Sie rannten los, das Wasser spritzte, ihre Körper klatschten in das Nass, und sie kraulten um die Wette. Sie kamen gleichzeitig an. Zehenspitzen berührten den Sand. Es fühlte sich an, als käme Paula nach einem Ausflug ins All wieder auf die Erde zurück. Um sie herum tobten kleine Kinder, schrien Eltern, und dazwischen saßen Annika und Frederik, ihre Arme berührten sich, sie lachten über etwas, hoben ihre Köpfe und winkten gleichzeitig. Annikas Lachen saß schief. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, Paula wusste es sofort.
»Linus?«, fragte Paula.
Bevor Linus aus dem Wasser steigen konnte, hielt Paula ihn kurz an der Schulter zurück. Linus schaute auf die Stelle, die Paula gerade noch berührt und schnell wieder losgelassen hatte, dann hob er den Blick.
»Ich würde gern mal mitkommen.«
Stirnrunzeln.
»Zu den Kellermäusen?«
»Na klar!« Ein Strahlen. Seine Sommersprossen hüpfen ihm auf der Nase herum. Ihr Herz meldete sich zurück. Ein federweiches Hüpfen im Brustkorb.
»Gib mir doch deine Telefonnummer, dann …«
»Hey, ihr Wasserratten!« Annikas Stimme drängte sich von Weitem zwischen sie. »Wir warten schon Ewigkeiten. Euer Bier wird schal.«
Sie erhob sich und kam auf Paula zu. Sie sah gut aus. Perfekt.
»Geb ich dir nachher«, sagte Paula schnell, bevor Annika sie hören konnte.
»Cool. Ich …«, hob Linus an.
Doch da stand Annika bereits vor ihnen.
»Na, da scheinst du ja endlich jemanden getroffen zu haben, der genauso wasserverrückt ist wie du.«
Annika schlang ihre Arme um Paulas Schultern und schob sie zu den Liegedecken. Sie setzte sich an den Rand und wollte Paula den Platz neben Frederik überlassen.
Paula zögerte.
Linus stand hinter ihr. Sie konnte seine Nähe spüren. Seinen Atem hören. Ihr Nacken kribbelte. Er hatte nach ihrer Nummer gefragt.
Für einen winzigen Augenblick stand alles still. Nur das Pochen hinter den Rippen blieb, federweich und leicht, und gab der Stille ein Geräusch.
»Keine Lust auf Bier. Ich hol mir ein Eis. Wie sieht’s mit dir aus, Linus?« Sie wandte ihren Kopf in seine Richtung.
»Aber sicher. Wette ist Wette.«
Annika klappte der Kiefer nach unten. »What the fuck?«, formte sie stumm mit ihrem Mund.
»Wir sind gleich wieder da.«
Zum zweiten Mal griff Paula Linus’ Hand, die rau war und noch ein bisschen nass vom Baden. Er drückte ihre Finger zusammen, ganz leicht, dann ließ Paula wieder los, doch ihre Handfläche britzelte von der Berührung.
Paula hatte plötzlich eine Ahnung, was anders laufen könnte. Der Sommer hatte eine Überraschung für sie ausgepackt und zu ihrem Lieblingsbadeplatz geführt. Auf einmal verloren die Ferien ihren Schrecken, die lange, schulfreie Zeit lag nicht wie Ödland vor ihr, sondern als etwas Neues, das darauf wartete, von ihr entdeckt zu werden.
Paula dachte nicht mehr an das Ultimatum. Sie war weit davon entfernt. Sie dachte in diesem Moment an gar nichts, und das tat gut. Sie genoss es, neben diesem Jungen herzugehen, der sie mit seinen hellen Augen so neugierig und abwartend betrachtet hatte, ohne sie nervös zu machen. Der Sommersprossen zum Tanzen bringen konnte. Der sie zu einer Bandprobe eingeladen hatte. Vielleicht würde der Sommer anders werden als all die anderen davor. Einmal ganz anders.
»Ich mag Wassereis am liebsten – und du?«
»Ich mag dich«, sagte Linus da. Einfach so. Ganz leicht.