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Positivität und nonfictional acting

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Diese letzte Bemerkung – „sie nehmen alles weg“ – ist vielleicht die berührendste im ganzen Buch. Was soll man dagegen tun? Ich bin älter geworden mit der Selbstverständlichkeit, dass progressives Theater aufklärt, ernüchtert, ironisiert, Distanz lehrt. Und nun erinnern mich die Notizen von Julian Beck an die Option einer anderen Art von „Fortschritt“, an ein anderes Konzept von Wachstum, das wieder zusammenwachsen lässt, was der westliche Fortschritt durchtrennt hat. Und vielleicht wirken viele der Notizen von Julian Beck auch deshalb so frisch, weil sie vor allem Fragen sammeln – zum Teil tatsächlich in Listen, zum Teil aber auch als offene Denkimpulse inmitten längerer Argumentationen. „Das Theater macht Angst“, schreibt Beck 1969 in Italien, „weil es sich mit Geheimnissen und geheimen Fragen befasst. Seit Jahrhunderten fragt das Theater: wer sind wir woher kommen wir wohin gehen wir. Jetzt fragt es: was ist los wohin geht das was tun was stelle ich mit meinem einzigartigen Leben an in diesem Moment, wenn der kollektive Genius der Menschheit die Frage beantworten muss: Wie kann unser Planet überleben?“

Die Corona-Krise, der Bambusvorhang des neuen Kalten KI-Krieges, den die neue Weltmacht China baut, macht diese Frage nach dem Überleben unseres Planeten umso dringlicher. Julian Becks Notizen sind Teil eines neu erwachenden planetarischen Bewusstseins, das fast zeitgleich auch von Denkerinnen wie Donna Haraway und Lynn Margulis vorbereitet wurde, von James Lovelock oder Bruno Latour und dem ganzheitlichen Wissen der Indigenen. Daher wirkt nach all den Jahrzehnten Das Theater leben wie ein Reisebuch ins Post-Anthropozän, das Antworten auf die Frage, wie unser Planet überleben kann, absichtlich an den Rändern des westlichen Lebensmodells gesucht hat. Die vor mehr als fünfzig Jahren gestellte Frage macht das alte Wende-Buch eines wilden Theatermannes plötzlich wieder brisant. Werke wie Paradise Now schufen positive Szenarien der sozialen Einmischung, deren solidarischer Geist das Gegenteil vom Ellenbogengeist der kapitalistischen Gesellschaften bezeugt.

Hat den Ostdeutschen, fragte mich neulich wohlmeinend ein westdeutscher Journalist, nach 1989 nicht einfach nur ein bisschen der Ellenbogen gefehlt? Dagegen, scheint mir, hat Julian Beck nach szenischen Strategien der Empathie gesucht und Theaterformen entwickelt, die Gefühle der Isolation und Ohnmacht im Erlebnis der Aufführung selbst zu überwinden erlauben. Das führte zu der herausfordernden Idee, eine Praxis des „nonfictional acting“ zu kreieren – also eine Spielweise, die nicht darauf beruht, Figuren und die für sie erfundenen Geschichten darzustellen, sondern sich eher an Strukturen des Rituals und der Zeremonie zu orientieren.

Seltsamerweise verbindet sich der Begriff der Handlung im Theater ja ausgerechnet mit einer Form von Theater, das wie eine Maschine gebaut ist. In ihr führt eins zum anderen, immer voran, weitestgehend berechenbar dem Ende entgegen. Die Handlung ist in diesem Theater der Guckkästen und Fiktionen eine logische Verkettung von Ursachen und Wirkungen, die sich im Verhalten einer Gruppe von Menschen auflöst. Diese Spielwerke dulden Menschen nur dann und nur gerade so lange, wie sie diesem Fortschritt des Geschehens dienen. Alles, was sie in ihren kurzen Auftritten sagen und tun, ist in diesem Sinne konfektioniert und begründet durch die Logik dieser Maschine – durch ihren Hunger nach entsprechenden Details, die Anlässe zu neuen Handlungen werden und Wissen produzieren, das zu neuen Konflikten führt.

Ganz anders ist hingegen das Verständnis von „Handlung“ in diesem Buch von Julian Beck. „Jeden Augenblick entstehen wir und vergehen: Ich will etwas und etwas will mich.“ Alles ist eingebettet – das Publikum in die Aufführung, das Leben der Ensemblemitglieder in die Art und Weise ihrer Produktion – und zu handeln bedeutet daher in Paradise Now, etwas zu tun, das gemeinsam erzeugt wird, mit anderen, jetzt. „Spielen als Aktion“ heißt Julian Becks siebter Imperativ des zeitgenössischen Theaters. Aus ihm folgt der Gedanke, dass „exzellente Form eine Lüge ist“. Die Kunst des Living Theatre hat sich über Jahrzehnte immer weiter von den Rahmungen gelöst, die sich am Broadway z. B. mit „Könnerschaft“ oder „Brillanz“ verbinden. Diese Verschiebung des Akzents vom Gelungenen in Richtung der Aktion und Unmittelbarkeit entwickelte im Schaffen Julian Becks eine große Kraft. „Perfection is something for assholes“, postuliert sechzig Jahre später Taylor Mac, ein anderer Nachfahre des Living Theatre, in seiner 24 Stunden dauernden Zeremonie zur politischen Geschichte der populären Musik.

Julian Becks Notizen sind keine Musterbücher, keine Betriebsanleitungen wie Brechts „Modellbücher“, sondern Begleitbücher innerer Reinigungs- und Entwicklungsprozesse. Sie sind der Welt entgegengeschrieben und versuchen, eine Ankunft der eigenen Arbeit, der Kompanie und Kreationen da draußen, unter den Menschen und mit den Menschen, durch ein inneres Wissen vorzubereiten. Julian Beck nennt den Broadway und unsere Repertoirebühnen „das exklusive Theater“. Dagegen entwickelte das Living Theatre in den zwanzig Jahren seiner Wanderungen die Idee des geteilten Ritus, eines Festes der Verbindung – nicht nur mit dem Publikum, auch durch das Publikum hindurch. Wobei die Präsenz des physischen Körpers bei der Schaffung seines „neuen Theaters“, in dem Schauspieler und Publikum ineinander aufgehen, eine besonders auffällige Rolle spielt, ähnlich wie im zeitgleichen Schaffen der Wiener Aktivisten und später im Werk von Paul McCarthy oder den Arbeiten von Vinge/Müller oder den Naked Shit Pictures von Gilbert & George.

„Schwimmen, spüren, dass wir Schönheit sind und heilig.“ Esoterik ist der griechischen Wortherkunft nach „dem inneren Bereich“ zugehörig und beim Living Theatre verbindet sich das mit einer Sprache, die sich im inneren Lebens-, Schaffens- und Denkprozess einer Gruppe von Menschen gebildet hat. In Julian Becks Schriften kristallisiert sich diese dem inneren Bereich zugehörige Sprache heraus und verbindet dabei den spirituellen Erkenntnisweg mit dem politischen. Dieser Haltung folgend wendet er z. B. das Stereotyp des technischen Einfühlungslehrers „Stanislawski“ und zeigt ihn als einen Lehrer der reflektierten Trance, des Identitätstauschs, der Immersion ins Andere und des Anderen in einen selbst. Rausch und Trance sind für Beck dabei keine Idealzustände, sondern Mittel der Begegnung und reflektiert eingesetzte Techniken, um Grenzen zu überwinden. Immer wieder geht es um diesen anarchischen Messianismus: das Kommende vorzubereiten.

Das Theater leben

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