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Kapitel 1

Los geht die wilde Fahrt

Dein Kind sei so frei es immer kann. Lass es gehen und hören, finden und fallen, aufstehen und irren.

Johann Heinrich Pestalozzi

Warum dieses Kapitel so wichtig ist:

Anhand dieser ersten Phase meines Lebens versuche ich, mit mir als Beispiel, Dir die Möglichkeit zu geben, die Ursprünge Deiner eigenen Entwicklung zu ergründen. Wie in den meisten späteren Kapiteln auch, beginne ich mit genau dieser Message. Ich werde später anhand meines Backgrounds beziehungsweise meiner Achterbahn versuchen aufzuzeigen, wie wichtig es für mich war, zu verstehen, dass meine Vergangenheit nicht meine Zukunft sein durfte. Durch mein Unterbewusstsein war meine Vergangenheit jedoch sehr lange präsent. Genau aus diesem Grunde erachte ich dieses Kapitel für wichtig, denn ich hatte in diesem Lebensabschnitt die meisten Schattenthemen.

Ich denke, dass einige Menschen Schattenthemen in sich tragen, sich darüber aber nicht bewusst sind. Sie sind prägend und haben mich vermeintlich zu dem gemacht, der ich heute bin. Genauso wie alle positiven Erfahrungen meines Lebens galt es auch dies zu akzeptieren, denn alles war ein Teil von mir. Es galt zu verstehen, zu akzeptieren und umzusetzen. Vor allem aber galt es, daraus etwas Positives zu entwickeln, was ich im späteren Verlauf dieses Buches noch näher beleuchtete.

Background:

(0 bis 13 Jahre)

Neumond, ein kühler bewölkter Donnerstag mit etwas Schneeregen. Es war der 5. März 1981 und ich wurde mit dem Namen Julian geboren. Ich verbrachte meine ersten Lebensmonate in einer Wohnung in Köln und erlebte dann bereits meinen ersten Umzug. Meine Eltern, auch selbst noch in jungen Jahren, erhielten die Möglichkeit, ein Eigenheim in einer kleinen Stadt südlich von Köln zu erwerben, begünstigt durch das Bauunternehmen von Mutters Vater und vorhandenem Grundbesitz der anderen Großeltern.

Schon früh reiste ich mit meinen Eltern in Form von Urlauben durch die Welt. Laut meiner Mutter ging meine erste Reise im Alter von einem halben Jahr nach Sylt beziehungsweise St. Peter Ording, wo man neben der Erholung auch Alternativen für Windeln finden wollte, da ich wohl unter einer Windeldermatitis litt. Auch die erste Flugreise ließ nicht lange auf sich warten – nach Madeira. So wuchs ich von Anfang an mit dem Reisen auf, sozusagen ein Frühstart des Reisens, den ich in meinem weiteren Leben so fortführen sollte.

Ich ging dann im Nachbarort in den Kindergarten, später in die Grundschule, die mein Großvater Jahre zuvor mit seiner Firma erbaut hatte. Zeitgleich meldeten mich meine Eltern im örtlichen Fußballverein an. Da ich sehr sportbegeistert zu sein schien, meldeten mich meine Eltern zusätzlich in einem Tennisverein an.

Die sozialen Kontakte aus Schule und Sport waren nicht das Einzige, was neu war. – Neu waren auch meine ersten Ängste, und zwar die vor Ärzten. Laut meiner Mutter wurden diese durch ein traumatisches Erlebnis beim damaligen Kinderarzt ausgelöst. Dieser setzte mir wohl auf eine brutale Art eine Spritze. Dieses einschlägige Erlebnis verfolgte mich bis in die Pubertät.

Durch meine beginnende Leidenschaft für den Fußball ergaben sich dann meine ersten guten Freundschaften, die teilweise Jahrzehnte hielten. Aber nicht nur dort und in der Schule verbrachte ich Zeit mit anderen, auch mit den Nachbarskindern verstand ich mich gut. Den direkten Nachbarn machte ich damals wohl eher Ärger, denn meine Fuß- und Tennisbälle ruinierten den Zaun und mussten ständig aus dem Garten und vom Flachdach geholt werden. Auch der Rasen litt.

Mit einem meiner besten Freunde aus diesen Tagen kam es durch den Boris-Becker-Hype zu immer mehr Tennismatches. Zusammen mit anderen Kindern bildete sich dann eine kleine Clique, mit der wir auf dem beheimateten Bolzplatz auch Fußball in sämtlichen Formen spielen. Eine der Spielformen war beispielsweise englisch, bei der man den Ball volley, also aus der Luft ins Tor schießen oder köpfen musste. Einer von uns hielt sich stets für den Besten und wollte immer um eine Cola spielen, das waren sozusagen meine ersten Sportwetten.

Damals gab es die ersten Spielkonsolen. Ein weiterer Kamerad aus dieser Clique war Tom. In den späteren Jahren übernachtete ich oft bei ihm und wir zockten meist am Wochenende die ganze Nacht Spiele wie Mariokart oder Fußball auf dem Supernintendo.

An diesem Punkt könnte man sich sicher die Frage stellen, wie es mit der Schule war. Kurzum: Ein gänzlich schlechter Schüler war ich nicht, aber auch nicht allzu strebsam, was zwangsläufig zu Problemen führte. In dieser Zeit, in der ich nach der Schule lieber den Fußball gegen die Mauer warf und hinterherhechtete, statt mich den schulischen Belangen zu widmen, war es eher der Standard, dass ich allein zu Hause und auf mich allein gestellt war. Das beflügelte mich natürlich in meinem Tun. Des Öfteren aß ich auch mittags bei unseren Nachbarn, wenn meine Mutter anderweitig beschäftigt war.

Mein Vater, ein Beamter des höheren Dienstes, war arbeiten, während meine Mutter damals teilweise wohl etwas Besseres zu tun hatte, als sich um mich zu kümmern. Gewiss nicht jeden Tag, dennoch oft genug, dass es wohl auffällig wurde, da sich meine Eltern bei meinen Grundschullehrern erklären mussten. Beim Recherchieren dieses Buches bestätigten sich diese Erinnerungen auch durch ehemalige Nachbarn, die ich danach fragte. Da ich aber wie gesagt nicht der schlechteste Schüler war und mich durchaus auch um Hausarbeit kümmerte, stellte sich meine Mutter gegenüber den Lehrern auf meine Seite.

Ich fing im Laufe der Zeit an, Zimmertüren zu zerstören, es flogen auch mal Sachen durch die Gegend. Meiner Oma missfiel das. Sie war sehr konservativ und oft bei uns im Haus. Oft zahlte sie die Zeche meiner Zerstörungen, denn das Geld spielte mehr oder weniger keine Rolle. Aber erst in meinem späteren Leben, als sie eine bedeutendere Rolle darin einnahm, erkannte ich die Tragweite ihrer Religiosität und Zuwendungen. Meinen Eltern, meiner drei Jahre jüngeren Schwester und mir fehlte es jedenfalls an nichts. Wir bekamen fast immer, was wir wollten. Es gab selten ein Nein.

Meine Eltern, die selbstverständlich keine Lust auf meine Zerstörungswut hatten, fanden eine Lösung und schickten mich in eine Kur nach Bad Wörishofen in Bayern. Doch was erlebte ich da für einen Scheiß: keine Freunde, kein Fußball und vor allem Heimweh. Die erste Kinderkur dauerte allerdings nur drei Wochen, die ich tapfer durchhielt.

Vielleicht war ich in dieser Zeit der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, denn damals fingen meine Eltern an zu streiten. Immer häufiger erledigte ich Hausarbeiten meiner Mutter, um eben nicht die Oma im Haus zu haben, und mähte – zugegebenermaßen für Geld – den Rasen, das alles allerdings noch nicht auf täglicher Basis.

Im Jahre 1990 passierte jedoch etwas Folgenschweres, was erhebliche Auswirkungen nach sich ziehen sollte: Ich kam aus meinem Kinderzimmer und sah meine Mutter heftig zitternd auf dem Küchenboden liegen. Ich schrie, heulte und rannte zu unseren Nachbarn, um Hilfe zu holen. Diese riefen sofort den Notarzt. Es stellte sich heraus, dass meine Mutter einem epileptischen Schock erlitten hatte.

Durch diese Erkrankung veränderte sich im Laufe der Jahre vieles rund um die Familie. Meine Mutter, die seit dieser Zeit Tabletten einnehmen musste, vernachlässigte ihre Hausarbeiten immer häufiger, sodass ich neben meinen Hobbys mehr putzte, als Hausaufgaben zu machen. Fortan tauchte in immer kürzeren Abständen meine Oma in unserem Haus auf. Dies führte dazu, dass sie meine Schwester und mich immer öfter zu sehen bekam, das ausnutzte und uns mit Geldgeschenken in die Kirche lockte. Meinem Vater missfiel das, denn er war zu diesem Zeitpunkt bereits aus der Kirche ausgetreten.

In diesen Jahren benötigte dann auch noch meine Großmutter väterlicherseits durch ihr hohes Alter immer mehr Hilfe. Und da ich ja auch von ihr Geld erhielt, fing ich an, für sie einzukaufen und ihren Rasen zu mähen. Eine Vorstufe von dem, was ich in späteren Jahren erleben sollte.

Trotz dieser Widrigkeiten planten meine Eltern indes eine Art Umfunktionierung unseres Hauses. Der Plan war ein Anbau, der zunächst dazu dienen sollte, meine altersschwache Oma bei uns unterzubringen, danach sollten ich oder meine Schwester diesen Anbau als Wohnung nutzen. Tatsächlich war dieser Plan schon sehr weit fortgeschritten, doch es verging Zeit und die Krankheit meiner Mutter wurde schlimmer.

Durch die extreme finanzielle Ruhe, die es meinen Eltern erlaubte, mit uns Kindern mehrfach im Jahr in Urlaub zu fahren, und die noch nicht allzu weit fortgeschrittene Epilepsieerkrankung meiner Mutter, hielt der Burgfrieden in unserem Haus jedoch noch. Des Öfteren ging es bei unseren Reisen sogar so weit, dass mich mein Vater aus der Schule nahm, um unseren Urlaub zu verlängern. Dies kaschierte alles und alle schwerer werdenden Umstände.

Im vierten Schuljahr stand nun meine Versetzung auf die weiterführende Schule an.

Meine Eltern, wahrscheinlich eher meine Mutter als mein Vater, erwarteten die Empfehlung für das Gymnasium. Ich war trotz allem immer noch nicht ganz miserabel in der Schule, dennoch bekam ich nur die Empfehlung für die Realschule. Im Gegensatz zu meinen Eltern freute ich mich darüber, weil ich so mit meiner Fußballclique auf eine Schule gehen konnte. Meiner Mutter missfiel das zwar, aber sie konnte in diesem Fall nichts tun, zumal sie sich immer häufiger in Kuren befand und mein Vater sich mehr und mehr um diese Versetzungsangelegenheiten kümmerte.

So landete ich im Prinzip wunschgemäß auf der Realschule. Eigentlich war fast alles perfekt. Ich konnte weiter Fußball spielen, und all meinen Hobbys nachgehen. Dabei bemerkte ich jedoch nicht beziehungsweise ignorierte, wie es eigentlich bergab ging. Was im weiteren Verlauf meines Lebens im schulischen Bereich passieren sollte, war mehr als ein Albtraum. Nun hatte ich aber zunächst erst mal ein Etappenziel meiner Achterbahnfahrt erreicht und ging auf die weiterführende Realschule. Ich war absolut und rundum zufrieden – genau das, was man jedem Kind wünscht.

Nicht nur die Freunde, die ich über den Fußball und die Grundschule kennengelernt hatte, sondern auch die Möglichkeit, weiter meinen zahlreichen Hobbys nachzugehen, führten zunächst also in die Glückseligkeit. Übliche Dinge, wie das erste Mal verliebt zu sein beziehungsweise einen Schwarm zu haben, waren da noch eher nebensächlich. Ich wurde in der Schule jedenfalls ein immer faulerer Sack, nun stimmten auch die Noten nicht mehr. Dies führte letztlich zu Problemen bei meiner Versetzung.

Zu Hause häuften sich die Streitereien meiner Eltern. Je mehr sie sich stritten, desto mehr arbeitete ich im Haushalt. Ich wurde mehr und mehr auch der Greenkeeper unseres Rasens beziehungsweise des ganzen Gartens. Für den war eigentlich mein Vater zuständig, aber er als Vorzeigebeamter hatte keinen Spaß daran, sich um den Garten zu kümmern. Was er am liebsten machte war, neue Bäume zu kaufen und sich um sein relativ großes Aquarium zu kümmern. So kam es ihm sehr recht, dass ich durch Rasenmähen mein erstes Taschengeld verdiente. – Leider fast immer auf Kosten meiner Hausaufgaben.

In dieser Zeit kam ich auch das erste Mal mit Alkohol in Berührung, allerdings nur in der Form, dass ich die Gäste meiner Eltern bei deren Geburtstagspartys oder Skat-Abenden mit Bier zu versorgen hatte.

Gegen Ende des Schuljahres wurden meine Eltern darauf hingewiesen, dass es wahrscheinlich nicht für eine Versetzung reichen würde. Da solche Sachen meistens immer noch meine Mutter regelte, kümmerte sie sich in gewohnter Manier um diese Belange und legte sich einmal mehr mit den Lehrern an. Mama macht das schon, dachte ich wahrscheinlich. Jedoch waren meine Noten so schlecht geworden, dass da nichts mehr zu machen war. Aber sitzen bleiben? Auf keinen Fall! Statt mich die Klasse wiederholen zu lassen, schickten meine Eltern mich einfach auf eine andere Schule. Fündig wurde sie in der für mich nicht gerade nahe gelegenen Stadt Königswinter. Die dort gerade eröffnete CJD-Schule beinhaltete sowohl einen Real- als auch einen Gymnasialbereich und war teils privat, teils halböffentlich. Sie war aber blöderweise 15 Kilometer entfernt, was für mich in diesem Alter der blanke Horror war und neue Probleme vorprogrammiert.

Mir ging es fortan mental absolut miserabel. Ironischerweise begann ich wieder in der fünften Klasse, aber eben mit Aussicht aufs Gymnasium. Durch den bereits erlernten Stoff fiel es mir natürlich sehr leicht, gute Noten zu schreiben. Noten, die dazu führten, dass ich nach einem halben Jahr tatsächlich aufs Gymnasium ging. Konnte das vielleicht sogar der Plan meiner Eltern gewesen sein?

Trotz der guten Noten war ich sehr oft krank in dieser Zeit. Manchmal war ich es tatsächlich, manchmal tat ich einfach so, um mit meinem Arsch im Bett zu bleiben. Nun kam hinzu, dass ich mich immer öfter aus der Schule verdrückte und schwänzte. Wenn mir was nicht passte oder ich Heimweh hatte, gab es für mich kein Halten. Aufgrund meiner entsprechenden Krankheitstage schleppte mich meine Mutter daraufhin zu einem Kinderarzt. Um rauszufinden, was mit mir los war, führte dieser sämtliche Tests mit mir durch. Zwecks Lernanalyse zu meinem Unwohlsein beziehungsweise Befinden und der dazu gehörigen Psychologie zeichnete er mit mir ein Videointerview auf. Leider habe ich heute nur noch grobe Erinnerung daran. Da ich mich aber diesem Arzt keineswegs anvertraute und auch meinen Eltern nichts von meinem Heimweh erzählte, blieb alles beim Alten.

Um nur ja weiter die guten Noten aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass ich überhaupt zur Schule ging, versorgte mich meine Mutter so gut wie jeden Tag mit Geld, Versprechen oder Leckereien aus der Bäckerei. Doch es wurde schlimmer. Ich war mittlerweile so koordiniert, dass ich genau wusste, wie und wann ich zurück nach Hause kam.

Ein Schulfreund, mit dem ich dann doch einigermaßen grün wurde, war Erwin. Er war meines Wissens nach adoptiert und kam aus dem asiatischen Raum. Diese Freundschaft rührte daher, da er den Sport genauso liebte wie ich. Er brachte mir das Badmintonspielen bei. Da er aber aus genau der entgegengesetzter Richtung meines Wohnorts kam, einem Ort namens Erpel, traf ich mich maximal alle sechs Wochen mit ihm. Doch auch er konnte nicht verhindern, dass es immer schlimmer wurde. Ich war mittlerweile in der sechsten Klasse angekommen.

In meinen ersten Sommerferien in dieser Schule erfuhr ich, dass ein weiterer Junge aus meinem Dorf dieselbe Schule besuchen sollte. Ein Hoffnungsschimmer, aber es gab für mich zwei Probleme damit: Der andere ging nicht in dieselbe Stufe und hatte auch nicht wirklich dieselben Interessen wie ich, sodass ich nicht wirklich was mit ihm zu schaffen hatte.

Dadurch, dass ich immer öfter blaumachte, konnte ich aber wenigstens weiter Fußball spielen, denn Konsequenzen hatte es nicht. Das war für mich die Welt, in der noch alles in Ordnung war, und in der ich mich wohl und geborgen fühlte.

Aber dann gab es etwas, was ich auf dieser Schule doch irgendwie cool fand: Meine Klassenlehrerin war nebenberuflich Musikerin. Da ich mich mit ihr irgendwie gut verstand, überredete sie mich dazu, in ihre Musik-AG einzutreten. So sang ich dann in einem Chor. Da sie wohl einige Engagements hatte, kam es dazu, dass wir einmal in einer Altersresidenz in Bad Honnef auftraten. Dennoch ging mir nichts über meinen Fußball.

Zu Hause wurde ich währenddessen immer aggressiver, um meinen Willen durchzusetzen. Ich kam fast immer damit durch und konnte zu Hause bleiben. Konsequenzen wie Hausarrest oder vergleichbare Dinge gab es so gut wie nie. Durch meinen Erfolg versuchte ich das dann zunehmend auch bei meinen Lehrern – mit den entsprechenden Folgen.

Das Heimweh hätte ich zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich unter keinen Umständen zugegeben, denn es passte nicht in meine heile Fußballwelt, wo Coolness über alles ging. Mittlerweile war dies aber nicht mehr das einzige Problem, das ich entwickelte: Meine Eltern wurden wegen meines Verhaltens immer häufiger zum Direktor gebeten, was schließlich auch zu einem sogenannten Tadel führte. Da klinkte sich mein Vater zum ersten Mal richtig in die schulischen Belange ein, doch hätte es nichts gebracht, meinem Vater den wahren Grund für mein Verhalten anzuvertrauen. Vielleicht war ich ein guter Schauspieler, denn bei keinem ließ ich mein Heimweh wie Heimweh aussehen und auch er verstand es nicht. Ich gab immer wieder andere Gründe für mein Verhalten an. Schließlich sollte ich von der Schule geworfen werden. Da mein Vater allerdings sehr diplomatisch war, wobei ich nicht weiß, ob auch Geld geflossen ist oder er sonstigen Einfluss geltend machte, handelte er mit dem Schuldirektor einen Deal aus.

Für mich war es allerdings kein guter Deal, da er es nicht besser, sondern noch viel schlechter machte. Vater schickte mich ein zweites Mal in eine Kur nach Bad Wörishofen, für ganze sechs Wochen. Ich war natürlich nicht damit einverstanden und versuchte, wie gewohnt, aggressiv meinen Willen durchzusetzen. Da ich aber sonst der Schule verwiesen worden wäre, behielten meine Eltern diesmal die Oberhand und zogen diese Sache konsequent durch. Meine Eltern setzten mich bei den dortigen Nonnen ab und fuhren wieder nach Hause. Ja, Nonnen, weil es sich um eine Art Kloster handelte.

Während der fünfstündigen Autofahrt dorthin hatte ich aber bereits Pläne geschmiedet und es dauerte nur eine Nacht, sie in die Tat umzusetzen. Da ich ja das zweite Mal dort war, kannte ich die Umgebung schon. Ich hatte trotz meiner jungen Jahre genug Geld, dank der vielen Reisen mit meinen Eltern auch genügend Ahnung und organisierte mir kurzerhand ein Nahverkehrsticket nach München. Wenn man so will, war dies meine erste eigenständige Reise. Und ich war stolz auf mich, denn ich hatte alle ausgetrickst.

Auf der knapp anderthalbstündigen Fahrt nach München bekam ich dann aber doch erste Gewissensbisse und auch etwas Angst, aber eher Angst vor der Reaktion meiner Eltern als davor, dass mir etwas passieren könnte.

In München angekommen stellte ich dann aber fest, dass mein Plan Fehler hatte – mein Budget reichte nicht aus, um die Reise nach Hause fortzusetzen, da ich von München aus ein Fernverkehrsticket gebraucht hätte. Aus Angst vor meinen Eltern wollte ich natürlich nicht zu Hause anrufen. Also kam ich auf die Idee, meinen Hausarzt anzurufen, dessen Nummer ich dabei hatte, weil er die Kur verschrieben hatte. Es gab damals noch keine Handys, dafür aber Telefonzellen.

Ich kann nicht mehr sagen, wie das damalige Gespräch mit dem Arzt verlief, jedoch fand er eine Lösung, um mir bei meiner Weiterfahrt behilflich zu sein. Vermutlich erschien es ihm als die beste Methode, mich nach Hause zu holen.

Ich machte mir also von meinem verbliebenen Geld einen schönen Tag in München, aß Weißwürste mit süßem Senf, besuchte die Ebener Straße, in der mein Lieblingsverein FC Bayern München beheimatet war, und schaute mir das Olympiastadion an.

In den ersten Abendstunden setzte ich mich dann in den Zug Richtung Bonn. Seltsamerweise bekam ich nun immer mehr Angst, nach Hause zu kommen oder auch nur auszusteigen. Dennoch tat ich es, aber lief dann so schnell es ging vom Bonner Hauptbahnhof weg, um meinen Eltern aus dem Weg zu gehen, die zweifelsohne dort auf mich warteten.

Nun hatte ich Panik. Um erst einmal die Lage zu checken, rief ich zu Hause an. Da mich meine Mutter tatsächlich am Bahnhof in Empfang nehmen wollte, ging mein Vater ans Telefon. Normalerweise war es eher er, der lautstark oder cholerisch wurde, doch zu meiner Überraschung blieb er ruhig und beruhigte auf diese Art sogar mich. Er überzeugte mich davon, nach Hause zu kommen. Dennoch war ich unsicher und schlich erst mal um unser Haus rum, um weiter die Lage zu checken. Da meine Mutter ja mit dem Auto schneller war als ich mit dem Bus, war sie natürlich schon vor mir zu Hause. Sie hatte wohl vom Bahnhof aus angerufen, als ich nicht da war.

Da ich den Eindruck hatte, dass die beiden ruhig waren, wagte ich es endlich, an der Tür zu klingeln. Meine Mutter öffnete und bekam einen Heulkrampf. Anders als erwartet, beruhigte mein Vater eher meine Mutter als mich. Er war wie gesagt bei so etwas eher cholerisch, aber diesmal sagte er mir, dass es das Wichtigste sei, das ich wieder zu Hause war. Vielleicht war dies das erste Mal, dass er sah, das ich unter Heimweh litt. Statt mich auszuschimpfen, trank er entspannt sein Bier und sagte in ruhigem Ton zu mir, dass er noch keinen Zwölfjährigen erlebt habe, der imstande war, so eine eigenständige Reise auf die Reihe zu bekommen. Die Art, wie er es sagte, habe ich kurioserweise bis heute nicht vergessen. Wahrscheinlich, weil ich das erste Mal spürte, das er mich vielleicht verstanden haben könnte.

Inwieweit meine Eltern über das weitere Vorgehen diskutierten, vermag ich nicht zu sagen, wie üblich war jedoch das Erste, was wir machten, spontan in Urlaub zu fahren. Es war irgendeine kanarische Insel. Dass ich von der Schule flog, war nicht mehr zu ändern. So fand wahrscheinlich mein Vater eine Lösung, die auch für mich zunächst einmal in Ordnung zu sein schien: Sie schickten mich auf eine reine Privatschule.

Diese Privatschule war in Bonn. Da es sich um eine rein private Schule handelte, gab es pro Sekundarstufe maximal drei Schüler. Nicht nur der etwas nähere Standort, sondern auch die Prämisse, dass mich meine Mutter dort jeden Tag abholt, und es eine Halbtagsschule war, stimmten mich einigermaßen zufrieden, obwohl ich immer noch nicht richtig bei meinen Freunden war. Aber da ich zum einen selbst keinen anderen Weg für mich sah und ja sehr schnell zu Hause war, wurde es zunächst kurze Zeit ruhig um mich. Durch mein immer noch schlechtes Gewissen und der zunehmenden Krankheit meiner Mutter, die dadurch immer öfter zu Kuren fuhr, wurde ich mehr und mehr zum Hausmann der Familie.

Leider dauerte der Aufenthalt in dieser Schule nur ein bisschen länger als ein halbes Jahr. Diesmal war es jedoch nicht das Heimweh, das mich aus der Bahn warf, vielmehr war es der erste Kontakt zu Drogen. Da es sich ja um eine reine Privatschule handelte, die monatlich rund 1.000 Mark kostete, plus die Lehrmaterialien, wurde diese Schule von entsprechend gut betuchten Schülern besucht. Da es ja nur sehr wenige Schüler gab, kam ich in Kontakt mit den älteren Mitschülern und hing mit ihnen in der Pause ab. Rauchen war das eine, aber die kifften nicht nur, sondern unterhielten sich auch über Koks, Nutten und Knarren. Für mich als mittlerweile Dreizehnjähriger, der nur Fußball und das Dorf kannte, war das natürlich etwas beängstigend. Zwar waren die Mitschüler schon etwas älter, aber aufgrund der kleinen Größe der Schule wurde auch dies zu einem Problem, weil man ihnen ja nicht aus dem Weg gehen konnte. Nach und nach weigerte ich mich immer öfter, zur Schule zu gehen. Ich koppelte mich immer weiter ab, da dies für mich ein No-Go und nicht meine Welt war.

Das ging natürlich nicht lange gut. Im Grunde war es das alte Spiel: Ich lief weg, wurde zornig und flog am Ende von der Schule. – Anderer Grund, selbes Ergebnis.

Mein Weg war jedoch nun zu Ende, zumindest auf dieser Schule. Nun war ich als mittlerweile Dreizehnjähriger ein Teenager und kein kleines Kind mehr.

Analyse:

Der Beginn meines Lebens startete mit noch sehr jungen Eltern. Von Beginn an wuchs ich mit einem kleinen, aber goldenen Löffel auf. Auch die dörfliche Umgebung hätte eigentlich ein gutes Leben vorprogrammieren sollen. Durch die Reiselust meiner Eltern lernte ich früh andere Orte kennen. Nach einer normalen Zeit im Kindergarten und der Grundschule lernte ich ebenfalls früh eine Sozialgemeinschaft kennen. Durch mein traumatisches Ereignis bei meinem damaligen Kinderarzt entwickelten sich meine ersten bewussten Ängste. Sehr schnell begann sich der Fußball zu meiner Leidenschaft zu entwickeln. Schulisch lief es nicht so gut, und so ergaben sich die ersten Probleme, die über die Norm der gesunden Emotionen hinausgingen. Daran änderte auch der konservative Einfluss meiner Großmutter nichts.

Durch die Kur wurde es nicht besser, sehr viel veränderte sich indes durch den Schicksalsschlag bei meiner Mutter. Von Beginn an sah ich dabei zu, wie meine Mutter kränker wurde, Tabletten nahm und ich daher früh anfangen musste, sie bei der Hausarbeit zu unterstützen. Durch meine Oma lernte ich, mich kaufen zu lassen.

Den Beginn des Albtraumes war die Entscheidung meiner Eltern, mich auf eine weit entfernte Schule zu schicken. Ich lernte dadurch schnell, eine Maske aufzusetzen. Durch meine Käuflichkeit hielten meine Eltern, in erster Linie meine Mutter, mich zunächst bei der Stange, aber Vertrauen in die Liebe meiner Eltern war fortan verschwunden. So entwickelten sich schnell negative Emotionen, die sich durch meine Erfolge mithilfe von Aggression immer weiter verstärkten.

Durch den Fußball entwickelten sich aber auch neue Bezugspersonen, Halt und Geborgenheit. Der Fußball entwickelte sich zu meinem Zugpferd. Es war kurioserweise mein Vater, der mir, obwohl ich definitiv ein Mutterkind war, die erste liebevolle Anerkennung gab.

Achterbahn des Daseins

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