Читать книгу Achterbahn des Daseins - Julian Mores - Страница 7

Оглавление

Kapitel 2

Turbulenzen, die Achterbahn ruckelt

Warum dieses Kapitel so wichtig ist:

In der Teenagerphase, um die es hier geht, ruckelte es gewaltig – rechts, links, hoch und runter. In dieser Phase meines Lebens ging es darum, zu ergründen, wieso ich zu keiner Zeit in eine innere Ruhe fand, die mir Sicherheit gegeben hätte und bei der ich mich selbst hätte finden können. Letztlich führte das aber dazu, dass ich diese Zusammenhänge und das Fehlen dieser inneren Ruhe und Sicherheit erkannte. In diesem Kapitel offenbart sich zudem, wie ich unterbewusst um die innere Ruhe kämpfte und früh Verantwortung übernehmen musste. Alles in allem war ich in dieser Situation nicht in der Lage, durch innere Ruhe oder Frieden mein Leben dahingehend zu entwickeln, wie ich sein wollte. Erst später sollte ich es schaffen, inneren Frieden zu finden, was im weiteren Verlauf des Buches genauer beleuchtet wird.

Background:

(13 bis 18 Jahre)

Nun war ich ein Teenager und der erste Fauxpas ließ nicht lange auf sich warten. Dieser Fauxpas hatte diesmal allerdings nichts mit meinen schulischen Belangen zu tun, es ging vielmehr um das Thema Fußball, denn es stand meine erste große Mannschaftstour an. Es ging nach Lloret del Mar in Spanien. Ich freute mich riesig auf diese Reise mit meinen Fußballjungs.

Ich kam aus einem Dorf, wo sich die ortsansässigen Vereine zu Festlichkeiten trafen und gegenseitig unterstützten, daher organisierten wir diese Tour zusammen mit unserem Karnevalsverein, dementsprechend auch mit dessen sogenannten Tanzmariechen. In ein, zwei davon war ich ziemlich verknallt. Sie mochten mich meiner Erinnerung nach zwar scheinbar ganz gern, jedoch wurde meine Liebe nicht unbedingt erwidert. Nun wusste ich ja um die Wirksamkeit der moralischen Erpressung und wollte mir in dieser Art und Weise nun auch bei der Damenwelt Liebe beziehungsweise Zuneigung erzwingen.

Ich stellte mich also während dieser Reise irgendwann provokant so auf ein Treppengeländer, dass es aussehen sollte, als würde ich mir etwas antun wollen. Da dies aber sehr viele Mitreisende mitbekamen, wurde das zu einer sehr peinlichen Geschichte, die mir bis heute anhängt. Soweit ich mich erinnere, wollte man mich sogar nach Hause schicken, tat es dann aber doch nicht, vermutlich, weil ich mich wieder beruhigt hatte und die erwachsenen Begleitpersonen wussten, dass ich ein bisschen am Rumpubertieren war.

Auf den weiteren Verlauf meines Fußballlebens nahm diese peinliche Geschichte aber glücklicherweise keinen Einfluss. Vielmehr zeigte sich, dass mich gerade mein Trainer nicht fallen ließ.

Was mein schulisches Fortkommen betraf, kam nun einmal mehr mein Kinderarzt ins Spiel. Dieser vermittelte mich an meine nächste Schule. – Nicht irgendeine Schule, das wäre in dieser Situation wahrscheinlich nicht mehr möglich gewesen. Man sah sich wohl gezwungen, mich an einer Schwererziehbaren- und Behindertenschule unterzubringen.

Das war für mich natürlich noch viel schlimmer als alles vorher Geschehene, denn die Schule war in Köln. Meine einzigen beiden Hoffnungsschimmer waren der Umstand, dass mein Vater ebenfalls in Köln arbeitete und ich notfalls zu ihm flüchten konnte, sowie die Behauptung, dass es sich nur um eine zeitlich begrenzte Zwischenlösung handeln sollte, bis man eine weitere Lösung gefunden hatte.

Die Entfernung das Beschissenste, was mir aus meiner damaligen Sicht passieren konnte, aber ich hatte keine andere Wahl. Meine Eltern drohten mir sogar mit stationärem Aufenthalt, was für ein entsetzlicher Gedanke!

So blieb mir nichts anderes übrig, als diese Schule tatsächlich zu besuchen, allerdings in gewohnter Manier, sodass es nicht allzu lange anhielt und ich mich bald wieder regelmäßig verdrückte. Allerdings ging ich diesmal zu meinem Vater ins Büro. Ich hatte keine Ahnung warum, aber meine Ausflüge gestalteten sich immer sehr ruhig. So ging er mit mir des Öfteren erst einmal zu einer Bäckerei, Kaffee und Kuchen essen. Er schaffte es so, mich zu beruhigen und es erträglich zu machen.

In dieser Zeit verheimlichte ich das erste Mal vor Freunden, in welche Schule ich ging, denn diese Blamage wollte ich mir einfach nicht antun.

Schnell merkte ich jedoch auch dort, dass diese Schule etwas Positives für mich hatte, denn ich wurde dort irgendwie zu einer Art Star. Da sich auch schwerbehinderte Kinder auf dieser Schule befanden, ergab sich mein erster Kontakt zu behinderten Menschen.

Dass ich recht passabel Fußball spielte, fiel auch dem dortigen Sportlehrer auf. Dieser war für mich deswegen sehr interessant, weil er eine Fußballbundesligamannschaft trainierte, zwar nur die der Damen, aber immerhin. Er brachte mich dann dazu, meinen Mitschülern etwas beizubringen.

Unterm Strich fühlte ich mich so mit den teilweise behinderten Kindern wohler als auf der vorherigen Schule. Es war eine Erfahrung, zum ersten Mal ehrliche Anerkennung zu erhalten.

Es wurde trotz der weiten Entfernung zwar dadurch geringfügig besser, aber sogar dort gab es weiter die bekannten Probleme. Immer wieder stand ich aufgrund dessen kurz davor, stationär gegen schwere Erziehbarkeit behandelt zu werden. Die Blaumacherei war nun mal noch gegeben, weil ich nicht da war, wo ich sein wollte, was scheinbar selbst die Pädagogen nicht erkennen konnten.

Durch die Besuche bei meinem Vater im Büro bekam ich zu ihm ein besseres Verhältnis und so schickte er mich dann dorthin, wo ich hinwollte: in die Nähe unseres Hauses, zu meinen Freunden, wo ich mich wohlfühlte. – Na ja, zumindest fast. Es handelte sich zunächst um eine Hauptschule, bei der man auch den Realschulabschluss machen konnte. Für mich war das erst mal die beste Lösung, denn diese Schule lag direkt neben der Realschule, in der das Drama seinen Lauf genommen hatte.

So war ich in dieser Zeit der glücklichste Mensch der Welt und die Achterbahn fuhr steil bergauf, denn die Form des Schulabschlusses interessierte mich ja einen Dreck.

Wahrscheinlich aufgrund der Dankbarkeit, wieder richtig zu Hause zu sein, steckte ich mir das erste Mal selbst ein schulisches Ziel: den Realschulabschluss zu machen. Von da an ging es auch schulisch steil bergauf.

Zwar war es für mich etwas sehr Neues, mich mit den Gegebenheiten einer Hauptschule auseinanderzusetzen, aber dies sollten nur anfänglich Probleme bereiten. Abhauen war fortan jedenfalls in keiner Weise mehr ein Thema, vielmehr wurde ich ein bisschen zum Streber.

Nach anfänglichen Orientierungsschwierigkeiten lernte ich, mit meiner strengen Klassenlehrerin gut umzugehen, vermutlich wurde ich mit der Zeit sogar zu einem ihrer Lieblingsschüler. Ich wollte einfach nicht riskieren, wieder die Schule zu wechseln, denn ich war ja nun glücklich.

Auf einer Hauptschule führten solche Geschichten zwar grundsätzlich zu Problemen, aber ich hatte ja ein As im Ärmel: den Fußball.

So kaschierte ich meine Strebsamkeit im Umgang mit Mitschülern. Da der Vertrauenslehrer eine Fußball-AG leitete und ich dieser angehörte, hatte ich auch zu ihm ein gutes Verhältnis. Das sollte sich fürs mich noch auszahlen.

In meinem zweiten Jahr auf der Hauptschule wurde abgestimmt, wo unsere Klassenfahrt hingehen sollte. Zu Auswahl standen unter anderem europäische Großstädte wie London, Paris oder Barcelona, aber letztlich wurde es dann Würzburg. Das passte mir als schon immer verwöhntem Bengel natürlich gar nicht in den Kram, aber damals machte ich mir natürlich keine Gedanken darüber, dass sich einige meiner Mitschüler vielleicht einfach nicht mehr leisten konnten. Ich wollte jedenfalls nicht mit nach Würzburg und lieber weiter zur Schule gehen. Grundsätzlich war das auch möglich, doch aus irgendeinem Grund zwangen mich meine Eltern zu dieser Fahrt.

Ich hatte meine schlechten Angewohnheiten nicht komplett abgelegt und kündigte meiner Klassenlehrerin an, dass ich direkt wieder zurückfahren und in die Schule gehen würde, wenn ich mit nach Würzburg musste. Ich bin mir nicht sicher, ob sie von meinen Eltern gebrieft wurde, aber scheinbar wusste sie schon sehr genau, dass ich meine Ankündigungen schnell in die Tat umsetzen würde. Aber immerhin wurde jetzt offen damit umgegangen und darüber gesprochen.

Also ging es erst mal nach Würzburg. Meine Klassenlehrerin schaffte es, mich durch unser gutes Verhältnis davon zu überzeugen, wenigstens eine Nacht zu bleiben. Das tat ich. Es war ein Tag voller Langeweile, ohne Fußball und mit Mitschülern, mit denen ich nichts anfangen konnte. Am zweiten Tag setzte ich mein Vorhaben dann um und fuhr mit dem Zug nach Hause, allerdings diesmal nicht aus Heimweh, sondern um wie üblich meinen Willen durchzusetzen, weil ich ein verwöhnter Bengel war. Mir wurde allerdings klar gesagt, dass ich mich sofort in der Schule melden musste.

Das tat ich und mein Verhalten hatte keinerlei Konsequenzen, denn ich hatte den Joker Fußball. Der Vertrauenslehrer half mir in dieser Situation, indem er mich sämtliche Trainingspläne für seine Fußball-AG entwickeln ließ. Das machte mir nicht nur Spaß, sondern führte auch zu so viel Vertrauen, das ich wirklich gern zu Schule ging.

Nun wurde es also erst einmal ruhig in der Schule. Aber so ruhig, wie es nun in der Schule zuging, so unruhig wurde es zunehmend zu Hause. Meine Mutter wurde immer kränker. Immer öfter besuchte sie Kuren, immer öfter kam lautstarker Streit auf. Das führte dazu, dass sich auch immer mehr meine Oma bei uns blicken ließ. Dies war natürlich in keiner Weise förderlich, denn sie bestach meine Schwester und mich immer öfters mit noch mehr Geld, sonntags die Kirche zu besuchen. Meinem Vater, der zu diesem Zeitpunkt ja bereits aus der Kirche ausgetreten war, missfiel das so sehr, dass dies zu weiterem Streit führte.

Meiner anderen Großmutter ging es derweil ebenfalls immer schlechter. Weil meine Mutter nicht mehr in der Lage war, sich um sie zu kümmern, entschlossen sich meine Eltern und mein Onkel väterlicherseits, den bereits fertigen Bauplan ad acta zu legen. Diese Oma wurde ein oder zwei Jahre später in ein Altersheim transferiert. Für sie war das natürlich ein inakzeptabler Zustand, für mich aber auch nicht optimal, weil so meine später geplante Wohnung hinfällig wurde. Durch ihr hohes Alter aber wahrscheinlich auch Unglückseligkeit verstarb meine Oma nach etwas mehr als einem Jahr in diesem Altersheim. Sie wurde 88 Jahre alt.

Die Halbtagsschule hatte zur Folge, dass ich sehr viel Zeit hatte, die ich damit verbrachte, Fußball zu spielen, mich um den Haushalt zu kümmern oder all den Hobbys nachzugehen, die ich so hatte. In dieser Zeit, als sich andere Jungs für Mädchen interessierten, war mein Augenmerk doch tatsächlich eher auf Fußball gerichtet – vielleicht auch aufgrund des peinlichen Erlebnisses während der Bustour. Dennoch ergaben sich erste sexuelle Handlungen, allerdings nicht mit einem Mädchen, sondern mit einem Jungen. Es war damals wohl eher ein Ausprobieren, aber da es mehrmals vorkam, war es womöglich ein Vorläufer meines weiteren sexuellen Lebens. Ich dachte damals eher ein bisschen bi schadet nie. Wir hatten teilweise ungeschützten Sex, weil wir uns in dem Alter überhaupt keine Gedanken darüber machten beziehungsweise glaubten, dass uns dadurch, dass wir ja aus dem Dorf kamen, so etwas wie Geschlechtskrankheiten nicht passieren würde. Für mich war es eher Spielerei und hatte nichts mit schwul zu tun. Natürlich geschah dies in aller Heimlichkeit, wir lebten ja in einem Dorf. Interessanterweise war dieser Dorfkumpane ein paar Jahre später mit einer Frau verheiratet und hat meines Wissens sogar mehrere Kinder. Doch ich war Fußballer und so schlief dieses erste Ausprobieren zunächst einmal ein.

Fernab dieser sexuellen Phase verbrachte ich zudem mit einem anderen Freund mittlerweile immer mehr Zeit. Er spielte ebenfalls Fußball, aber erfreute sich nicht so wie ich großer Beliebtheit. Er kam auch bei Weitem nicht an mein fußballerisches Level heran. Dennoch hatte er für mich einen riesigen Vorteil: Seine Eltern hatten im Keller ein Schwimmbad, wo wir sehr oft schwammen und Wasserball spielten. Da er in der Nachbarschaft wohnte, übernachtete ich das eine oder andere Mal bei ihm. Er hatte im Gegensatz zu mir zwei Zimmer zur Verfügung. Das Zimmer auf dem Dachboden wurde zu einer Zocker-Arena umfunktioniert. Bis tief in den Morgen spielten wir an den Wochenenden mit der Konsole Supernintendo oder schauten einfach amerikanischen Basketball, denn in dieser Zeit war der Hype um Leute wie Michael Jordan oder Dennis Rodman einfach riesig und cool.

Nichtsdestotrotz wurde ich mit meiner Fußballmannschaft immer erfolgreicher. So erfolgreich, dass wir später auf einem Level mit Fußballern, die es später bis in die Bundesliga schafften, spielten.

So erfolgreich ich im Fußball auch war, desto mehr Ungemach braute sich zu Hause zusammen. Ungewollt hatte ich ein neues Hobby: Streit schlichten. Immer häufiger stritten sich meine Eltern, sodass ich mich veranlasst fühlte, Frieden zwischen ihnen zu stiften. Durch die häufigen Streitereien meiner Eltern sowie die eingekehrte Ruhe in schulischen Belangen bekam ich noch mehr Freiheiten, als ich sowieso schon hatte. So hatte ich beispielsweise keine Sperrstunde bei den ersten Partys, die ich besuchte. Einige meiner Freunde hatten Partykeller und zudem wohnten wir ja sehr idyllisch an einem Fluss Sieg, den man auch zum Partymachen nutzen konnte. Da mir Bier bitter war, landete ich bei einer Bier-Cola-Mischung, aber schnell wechselten wir zu Schnaps, sodass sich im Laufe der Zeit der Promillegehalt deutlich erhöhte. So kam ich auch zu meinen ersten Spitznamen: Meine Lauffreunde nannten mich gerne Kipptest oder auch Promille, weil ich ziemlich kräftig zulangte, wenn es Alkohol gab. Ich hatte also ein weiteres neues Hobby: Saufen.

Es verging dann einige Zeit, bis es darum ging, was ich beruflich machen würde. Im Prinzip war mein Weg geebnet: Ich sollte Beamter werden, wie mein Vater. Ich bewarb mich also bei der Stadt Köln und wurde zu einem kurzen Vorstellungsgespräch eingeladen. Ich sollte im gärtnerischen Bereich einsteigen, dort hatte ich im Laufe der Zeit ein Schulpraktikum absolviert. Ein Arbeitskollege meines Vaters führte dieses Gespräch. Eigentlich ziemlich schnell wurde ich daraufhin zu einem Eignungstest beim alten Rathaus der Stadt Köln eingeladen. Meiner Erinnerung nach waren es 150 Bewerber, von denen 25 zu einem finalen Vorstellungsgespräch eingeladen werden sollten. Ein zweites Vorstellungsgespräch brauchte ich allerdings nicht, denn mein Vater brachte mir den Vertrag direkt mit nach Hause. Das Einzige, was ich noch tun musste war, den Realschulabschluss zu Ende bringen.

Da ich ja zweimal dieselbe Stufe in einem Schuljahr besuchte, war ich nun in der zehnten Klasse und alt genug, um den Führerschein zu erwerben, den ich natürlich spendiert bekam. Alles lief bestens. Nach einem Mal Durchfallen in der Theorie schaffte ich den Lappen in kürzester Zeit. Beim Fußball lief ebenfalls alles bestens. Zum Führerschein bekam ich mit 18 Jahren dann ein Budget von 10.000 DM für ein Auto und mein beruflicher Weg war ja eigentlich auch schon geebnet. – Eigentlich.

Da ich einfach nur glücklich und natürlich auch stolz auf die jüngsten Erfolge war, bekam ich die zunehmenden Probleme meiner Eltern nicht so richtig mit. Während ich den Führerschein machte, fuhr meine Mutter wieder in eine Kur. Da sie so etwas ja mittlerweile öfters tat und ich mit dem Fußball, der Schule, den Hausarbeiten und dem Führerschein beschäftigt war, besuchte ich sie diesmal nicht. Ich wollte mir von ihr einfach nicht mehr anhören, dass sie sehr früh sterben werde, was sie mir und meiner Schwester gerne zu verstehen gab, damit wir ihr Leid angemessen würdigten.

Meine Schwester und mein Vater besuchten sie ebenfalls nur einmal. Bei diesem Besuch kam es laut meinem Vater wohl wieder mal zu einem Streit, unter anderem deswegen, weil ich meine Mutter nicht besucht hatte. Als mein Vater sie nach der Kur abholen wollte, war sie bereits weg. Vater sagte uns Kindern, dass meine Mutter alleine mit dem Zug nach Hause gefahren sei.

Nichts ahnend warteten wir auf sie. Die Zeit verging, aber sie kam nicht. Wir fingen an, uns Sorgen zu machen. Gegen 23 Uhr rief mein Vater bei der Polizei an und machte eine Vermisstenanzeige.

Grundsätzlich riet die Polizei erst einmal zum weiteren Abwarten, da meine Mutter jedoch an epileptischen Anfällen litt, wurde die Sache dann aber doch ernst genommen. Drei Tage später wurde meine Mutter ausfindig gemacht: Sie war schlichtweg abgehauen und bei Freunden untergetaucht.

Meine Schwester und ich wussten nicht, was los war, und waren verängstigt. Später war Mutters Version die, dass sie es sehr wohl meinem Vater gesagt habe. Alles in allem schlussfolgerte ich aber, dass sie nicht zu Hause angerufen hatte und sich selbst wichtiger war, als uns die Sorge um sie zu ersparen.

Nun ja, jetzt waren wir zumindest beruhigt, dass nichts passiert war, jedoch bekam ich nun Angst, dass sich meine Eltern scheiden lassen würden. Diese Aktion schlug Wellen. Meine noch lebende Großmutter väterlicherseits, die sich ja sowieso schon im Altersheim herumplagte, verkraftete dies gar nicht und auch für meine Großeltern mütterlicherseits war diese Aktion ein Schock. Für mich allerdings der größte, weil ich ja sehr tief in unserem Haus verwurzelt war. Nun war auf einmal alles in der Schwebe.

Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Als ich eines schönen Novembertages zur Schule ging, hatte ich eine Vertretungsstunde, da einer meiner Lehrer krank war. Diese Vertretungsstunde war bei einer Lehrerin, mit der ich nicht zurechtkam. Ich war gerade in einer sensiblen Phase und sehr anfällig für negative Äußerungen, wie sie diese Frau über meine Eltern machte. Ich rastete nicht aus, aber ich verlangte eine Entschuldigung – bekam sie jedoch nicht. Gereizt wie ich war, wollte ich mich zusammenreißen, aber hätte Amok laufen können vor Wut. Ich erinnere mich nicht mehr an das, was diese Frau sagte, aber es führte zumindest dazu, dass ich weiter energisch darauf pochte, dass sie sich entschuldigen sollte. Ich würde sogar auf die Pause verzichten, wenn es sein musste. Auch als alle anderen Mitschüler schon längst auf dem Pausenhof waren, blieb ich stur vor Ort. Diese Frau schickte mich weg und drohte mir mit einem Klassenbucheintrag. So wartete ich vor dem Lehrerzimmer auf sie. Als sie dann auftauchte, forderte ich sie mit sturem Nachdruck nochmals auf, sich zu entschuldigen. Nicht nur, dass sie es nicht tat, sie legte auch noch nach und versuchte, mich zu ignorieren, was mich noch wütender machte. Sie wollte sich ins Lehrerzimmer verdrücken, also steckte ich schnell meinen Fuß in die Tür und drückte sie wieder auf, blöderweise so, dass sie stolperte und umknickte. Zwar wusste ich in dem Moment, dass es natürlich mein Fehler gewesen sein könnte, aber zum einen wollte ich nur mein Zuhause schützen, das ja in den Seilen hing, zum anderen war für mich diese Frau auch nicht das, was ich damals pädagogisch wertvoll genannt hätte.

Diese Lehrerin hatte ein bekanntes Verhältnis mit dem Schuldirektor. Zunächst wurde ich nach Hause geschickt, doch dann kam es zum Schlimmsten: Sie warfen mich von der Schule, und das kurz vorm Ziel. Aufgrund des persönlichen Verhältnisses zwischen dieser Frau und dem Schuldirektor konnten mich selbst meine Klassenlehrerin und der Vertrauenslehrer nicht mehr retten. Vor allem dem Vertrauenslehrer tat diese Situation unheimlich leid und so besuchte er mich sogar zu Hause und sagte mir, wenn er dabei gewesen wäre, wäre das nicht passiert. Immerhin etwas.

Ich hatte also meine Schulpflicht erfüllt, aber der berufliche Plan, Beamter zu werden, war in sehr weite Ferne gerückt, denn statt Realschulabschluss Klasse zehn, war es nun nur Hauptschulabschluss Klasse neun. Ich weiß nicht, ob diese Situation meine Eltern wieder zusammenbrachte, aber irgendwie kamen sie sich näher. Mein Vater schlug mir nun die Lösung Abendschule vor. Meine Mutter könne mich, solange ich den Führerschein noch nicht ausgehändigt bekommen hatte, hinbringen und abholen.

Sylvester dieses Jahres gab es dann eine von Fußballkollegen veranstaltete Party. Als mich mein Vater dorthin fuhr, fragte er mich, ob ich bei Freunden übernachten könne, denn er hatte meine Mutter zu einem Neujahrskonzert in der Kölner Philharmonie eingeladen und wollte eine Nacht allein mit ihr in unserem Haus verbringen.

Total glücklich freute ich mich darüber und übernachtete bei Freunden. Das war wahrscheinlich auch für mich besser, weil ich an diesem Abend so richtig besoffen war. Als ich dann wieder nach Hause kam, erzählte mir mein Vater, dass alles sehr gut gelaufen sei, aber meine Mutter noch etwas Zeit brauchen würde. Diese Freude hielt genau zwei Tage.

Mein Vater öffnete einen Brief. Ich konnte ihm schon im Gesicht ansehen, wie sehr ihn das traf: Er war vom Anwalt meiner Mutter, die die Scheidung einreichte. Das war der Tag, an dem mein Vater meine Mutter aufgab.

Aufgrund des vergangenen Jahres hatte dies nicht mehr die Tragweite, die man nun eventuell annehmen könnte. Für mich war mittlerweile am wichtigsten, dort wohnen zu bleiben, und das war durch meinen Vater möglich. Zu ihm entwickelte ich zu dieser Zeit ein überraschend gutes Verhältnis.

Was die Schule anging, so fiel mir die Abendschule doch erheblich schwer. Die Gesellschaft einiger Mitschüler, die gar keinen Bock hatten zu lernen und lieber über Aktivitäten im Knast plauderten, den sie wegen Rowdytums und ähnlichem Mist schon besucht hatten, passte überhaupt nicht zu meinen Zielen. Ich hoffte, mit dem Führerschein würde ich es einfacher haben.

Den Führerschein erhielt ich schließlich, die Schule klappte allerdings nicht, gar nicht, sodass ich einmal mehr abbrach. Zu heftig war der Unterschied zwischen dem Leben, das ich kannte, und dem meiner Mitschüler.

Nun war sie vorbei, die Schulzeit, und damit mein Lotterleben, aber wenigstens hatte ich noch ein Zuhause. Doch wie sollte es weitergehen? Ich war mittlerweile 18 Jahre alt – volljährig!

Da mein Vater nicht gerne sah, dass ich mit seinem noch relativ neuen Audi A6 herumfuhr, waren wir beide uns einig, dass ich ein eigenes Auto bekam. Ich hätte mich wahrscheinlich mit weniger zufriedengegeben, aber mein Vater legte Wert auf einen Neuwagen, auch wenn es ein Fernost-Auto werden sollte. Ihm war das so wichtig, dass er auch anmerkte, dass er für die Reparaturen aufkommen würde. Wie gesagt, bekam ich ein üppiges Budget. So wurde mein erstes Auto ein Hyundai Absent.

Mein Vater suchte sich im Laufe des Jahres eine neue Frau, aber zunächst wohnten er, meine Schwester und ich zu dritt in unserem Haus. Fortan gingen meine Schwester und ich öfter bei meiner Oma essen, die natürlich mittlerweile mitbekommen hatten, dass es mit meinem Berufswunsch nicht mehr klappen würde. Und so endete meine Teenagerzeit mit vielen Fragezeichen, aber immerhin mit Erfolg beim Führerschein und dem Fußball, bei dem ich zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt angekommen war.

Analyse:

In dieser wichtigen Phase, in der sicherlich auch Scheißebauen dazu gehören kann, durchlebte ich eine sehr turbulente Zeit. Eine Zeit, die mehr war, als nur ein bisschen Scheiße bauen. Ich war kein Kind mehr, aber auch noch nicht erwachsen. Zu reifen und mich selbst entwickeln, war unter diesen Umständen nur schwer möglich und mir nicht gelungen. Ich konnte durch all die Sorgen und Probleme nicht zu mir selbst finden, da ich keine innere Ruhe hatte.

Achterbahn des Daseins

Подняться наверх