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Prolog

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Wie einst mein Ahne, der sich Romanus der Schreiber nannte, bin auch ich durch die Ländereien gereist, habe Königinnen und Könige, Adelsherren, Gelehrte, Soldaten, Handwerker, Händlerinnen, Bauern und auch die Liebesdienerinnen getroffen. Sie alle erzählten mir ihre Geschichten, ihre Erfahrungen, Ängste, Sorgen und Hoffnungen. Einzelne Schicksale, ineinander verflochten wie die Fäden eines Stoffes, die wirr und ohne erkenntlichen Sinn das Leben eines einfachen Knechtes im Südwesten mit jenem einer Adelsherrin im Nordosten verbanden – durch Blutlinie, Bündnisse, Schwüre, Freundschaft oder den Dienst an einer weitvernetzten Gemeinschaft. Oder sie teilten dieselbe Idee, den gemeinsamen Glauben an die Götter, an Gerechtigkeit. Man bekämpfte denselben Feind, ohne voneinander zu wissen, aus unterschiedlichen Gründen, mit unterschiedlichen Mitteln.

Hätte der gesellschaftliche Stand, das alltägliche Leben einer Königin von jenem einer Magd kaum unterschiedlicher sein können, so war ihnen die Trauer gemein, wenn ein Freund, ein Geliebter oder Ehemann verstarb. Die Tränen kamen aus derselben Quelle.

Ich war in den kleinen Dörfern in den eisigen Bergen, zog über weite Felder, durch dichte Wälder, war auf den Höfen der Sangloren geladen, nächtigte mit Reisenden an Lagerfeuern, beschlief Liebesdienerinnen in den großen Städten für ein paar Kupferlinge und lebte in den Zeltstätten der Soldaten bei Feldzügen.

Ob ich im Königreich der vereinten Quaranenreiche und Stadtstaaten oder in den Wüstenprovinzen jenseits des Salzigen Sees war, all diese Menschen, mit denen ich sprach, teilten dieselben Sorgen. Sie alle richteten ihr Handeln danach aus, den nächsten Tag zu erleben, ungewiss darüber, ob er Segen brachte oder das Verderben – den gesellschaftlichen Absturz, eine Krankheit, den Verlust von Besitz, eines Körpergliedes, des Verstandes oder gar des Lebens.

Ich spielte in den Wirren dieser Geschichten keine Rolle, war nie ein Teil dieses Geflechtes, entschied nie über das Leben oder den Tod eines Mannes, änderte nie den Verlauf der wohl vorbestimmten Ereignisse. Dennoch denke ich, dass durch die Zeit meine Arbeit als einzige von Bedeutung zu sein scheint. Ich bin der Beobachter, der Zuhörer, der Erzähler und nun auch der Schreiber. Wenn mein Werk nicht entsteht, nicht überdauert, will alles Erlebte, Gefühlte und Gedachte nie gewesen sein.

Man sagt, die Sieger diktieren die Geschichte, berichten von ihren Errungenschaften, um für ihre Grausamkeiten Recht zu schaffen. Doch dies soll hier nicht geschehen – ich war nie einem Herrn verpflichtet.

Ich lebte als Erzähler, bot dem Publikum eine Geschichte, von der ich glaubte, dass es sie hören wollte. Manch einer mochte sie, manch einer schenkte mir Wein ein, bot mir Brot, einen Platz für die Nacht oder brachte gar meinen Beutel zum Klingeln. Andere hingegen schmähten meine Erzählungen, beschimpften mich oder bezeichneten mich als einen Lügner. Ihnen stand es frei zu gehen – und so werde ich auch jene nicht dazu anhalten, die meine Schriften nicht lesen wollen.

Nun bin ich alt. Lange habe ich der Unterhaltung meiner Gefährten gedient, weshalb ich anfing, die vielen Erzählungen der Menschen niederzuschreiben, auf dass auch in späterer Zeit ein Publikum, geplagt von alltäglichen Sorgen, der trübsinnigen Gegenwart entrissen werden kann und die Fantasie die Gedanken in eine fremde Welt reisen lässt.

Es sei mir verziehen, dass ich meine Geschichte mit zwei Freunden beginne, die einander vermutlich nie begegnet waren. Und doch hatten sie derselben Idee gedient, dieselben Ideale verfolgt, die einst von einer Bruderschaft – den Söhnen der Göttin Helemâs – verkörpert worden waren.

Das Geschehen beginnt in einer Zeit der Umbrüche, ohne dass deren Ausmaß den Bürgern des Königreichs bewusst war – auch ich hatte damals die Bedeutung der jüngsten Ereignisse nicht im Geringsten erahnt.

Während im Südwesten in den Quaranenreichen die Sangloren herrschten, standen den Stadtstaaten im nördlichen Osten Statthalter vor. Der König, welcher das vereinte Reich von seinem Palast in der Königsstätte aus regierte, war nicht annähernd so bedeutend, wie es die Größe seines beherrschten Gebietes vermuten lässt. Er war eine repräsentative Figur, die einzig in Kriegszeiten uneingeschränkt mächtig war. In der anhaltenden Friedenszeit hingegen spielte er keine Rolle für den Alltag der Bewohner in den fernen Quaranenreichen, sodass kaum ein Bürger von der Krankheit wusste, die den gealterten König schwächte – anders als sein Tod, der das Reich erschüttern und jedes einzelne Leben betreffen würde.

Von seinem Tod wussten zu Beginn dieser Geschichte jedoch nur wenige – auch ich nicht –, und diejenigen, die eingeweiht waren, unternahmen alles, um diese Nachricht geheim zu halten. Palastwachen wurden bestochen, eingesperrt oder ermordet ebenso wie die Diener, Heilkundigen und Priester, die man auch die Tempelwächter des Timerus nannte.

Mit dem Wissen, dass der König eines schwachen Geschlechts bald sterben und nur einen unmündigen Sohn sowie eine Witwe hinterlassen würde, die zwar ihrer Stellung wegen begehrt, aber beim Volk verachtet war, schmiedeten die hohen Adelsmänner, Statthalter und einflussreichen Tempelwächter Pläne für einen neuen Thronerben. Man wollte Verbündete gewinnen, sandte Quarandore mit Botschaften und Bündnisverträgen aus. Doch von Bedeutung waren allen voran nur die Hohen Sangloren, die als Einzige bei der Königswahl stimmberechtigt waren. Unter ihnen gab es einen Mann, der besonderen Einfluss genoss. Bargodon von Milang stand nicht nur dem reichsten Quaranenreich vor; wer ihn als Verbündeten wusste, würde auch die Königswahl für sich gewinnen.

Die Angst, dass der Kampf um die Thronfolge das Reich spalten würde, trieb den Lehrmeister Tandûn von Amosthal nun an, nach Westen zu reisen, wo in den Bergen einstige Söhne der Göttin Helemâs zurückgezogen lebten. Wegen Eidbruches verstoßen, lebten diese Männer abgeschieden von ihren einstigen Wirkungsstätten, um durch die Selbstgeißelung Gnade bei der Göttin Helemâs zu erlangen, auf dass diese Krieger nach ihrem Tod die Ewige Halle betreten dürften. Tandûn von Amosthal wollte in Begleitung seiner Schülerin diese Männer zurückgewinnen, sie abermals eine unbestechliche Gemeinschaft bilden lassen, die durch ihre Einsätze und den Kontakt zu den Sangloren den Frieden und die politische Stabilität in den Quaranenreichen wahren könnte. Doch auch er hatte die Machtgier und Durchtriebenheit seiner Feinde unterschätzt. Er wusste nicht, dass es längst zu spät war, um den Thronfolgekrieg aufzuhalten.

Das Erbe der Väter

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