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2. Kapitel

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Eisiger Wind peitschte ihm ins Gesicht. Seine Augen waren zusammengekniffen, der Wasserdunst hatte in seinem dichten grauen Bart Kristalle gebildet. Sein Haar war von dem langen Marsch durch den tiefen Schnee verschwitzt und klebte nun steif auf seiner Stirn. Während seine rechte Hand den Wanderstab führte, umklammerte seine Linke fest den gefilzten Umhang vor der Brust. Er wagte nicht, die bläulich gefärbten Finger zu bewegen, in denen er kein Leben mehr fühlte.

Jeder Atemzug schmerzte den alten Mann in der Brust, seine Wollkleider waren gefroren, die lederne Hose steif, in den Stiefeln sammelte sich Schnee, den er bei jedem Schritt hineinschaufelte.

Seine Gedanken waren längst von dichtem Nebel verschleiert. Die Worte, die er immerzu stammelte, gaben ihm Mut, zwangen ihn zu weiteren Schritten und erinnerten ihn an den Eid, den er vor vielen Jahren geschworen und vor wenigen Wochen erneuert hatte. Er war Ermon, ein Gesandter, Phindorch und Quarandor des Hohen Sanglors Echandus von Dagosturas. Sein Leben war in Hinblick auf die Botschaft, die er geschworen hatte zu überbringen, bedeutungslos. Zu sterben sei ihm erst gestattet, wenn er seine Nachricht überbracht hatte.

War der Wind wie Peitschenhiebe, das gefrorene Wasser in den Stiefeln wie scharfe Dolchklingen, so war die Kälte sein größter Feind. Sie umschlang ihn wie einen Freund, ließ ihn allen Kummer und Schmerz vergessen – um ihn zuletzt, sobald er sie in sein Herz ließe, in die Knie zu zwingen und über seinen ewigen Schlaf zu wachen.

Er saß bereits gebeugt, die Hand die kleine Rolle unter seinem Umhang berührend, auf die er den Wortlaut seiner Botschaft geschrieben hatte, als das Peitschen des Windes dem Heulen der verlorenen Seelen wich.

Feuer prasselte. Mit einem tiefen Atemzug sog er den Qualm in sein Inneres. Ermon wagte nicht, die Augen aufzuschlagen und den gehässigen Fratzen der Torwächter entgegenzublicken. Jener Torwächter des Horodius, die über die Seelen urteilten, die Verdorbenen als ruhelose Schatten wandeln ließen, die Seligen bis zur Ewigen Halle geleiteten, wo all die tapferen Krieger, die starken Herrscher, Sangloren und Könige und Tempelwächter, zu steinernen Statuen verwandelt standen. Selbst große Künstler und begabte Handwerker weilten unter ihnen.

Sein ganzes Leben hatte er gedient, treu ergeben, nie des Eigennutzes bedacht. Nur dieses eine Mal war er von seinem Schwur abgewichen und die Strafe des Horodius fiel nun auf ihn herab wie die Axt des Henkers.

»Die Torwächter des Horodius sind weit fort, sie wagen es nicht, über die Seele des Phindorchs Ermon zu urteilen, sie in die Ewige Halle aufzunehmen oder ruhelos wandeln zu lassen.«

Verwundert riss er die Augen auf. Keine finsteren Kreaturen fielen über ihn her.

Er lag auf dem Boden, im Kamin lechzten Flammenzungen um Holzscheite und wärmten seine Brust, die mit einem dicken Bärenfell zugedeckt war. Zu seiner anderen Seite gähnte ein Villar, ein wildes Tier aus dem Bergreich, kaum zu zähmen, scheu und dennoch begehrt. Villare waren dem Hund sehr ähnlich, doch ihr Fell war dichter. Sie lebten meist als Einzelgänger in den hohen Bergen, waren ausgezeichnete Jäger, die alles Leben rissen, welches dem vielen Schnee trotzen konnte. Nur wenige dieser Tiere ließen sich domestizieren. Das Tier schnüffelte kurz an seinem Kopf, als er sich bewegte, und wandte sich, ohne weiteres Interesse an ihm zu zeigen, wieder ab.

Der Duft von warmem gewürztem Wein und Rauch lag in der kleinen Hütte. Licht gaben nur das Kaminfeuer und das Aufflammen der Glut einer Pfeife im Dunklen.

»Du hattest wahrlich geglaubt, Horodius der Ewige habe deine Seele aufsteigen lassen, wenn ich nicht gänzlich irre?« Die Glut der Pfeife leuchtete erneut auf und gab das bärtige Gesicht eines stämmigen Mannes zu erkennen, in dicke Filzkleidung mit einem Pelzüberwurf gehüllt. »Timerus der Mächtige selbst muss sich deiner angenommen haben, als er Kurus nach Osten zu den Hängen getrieben hat, um dort zu jagen.«

Der Villar hob kurz den Kopf, als er seinen Namen hörte, brummte, als kein Befehl des Herrn folgte, und bettete sein Haupt wieder auf seine Tatzen.

»Wahrlich, dass du mich gefunden hast! Den Göttern sei Dank.«

»Was treibt dich, dass du dieser Tage den Osthang erklimmst? Das ewige Weiß, der Schnee, der selbst zur warmen Jahreszeit nicht schmilzt, ist des Pilgers größter Feind.« Der Bärtige nahm einen Zug aus der Pfeife. »Warum bist du nicht der Straße gefolgt, hast bei den kleinen Gaststätten genächtigt, auf dass deine Reise sicher ist?«

»Mein Weg führt mich zum Niederen Sanglor Ogondorus dem Weißen«, murmelte Ermon mit schwacher Stimme.

»Doch nicht direkt, wie mir scheint.« Der Bärtige legte seine Pfeife auf den kleinen Tisch neben sich, hob einen Kessel hoch, der darauf stand, und befestigte den Henkel an einem Haken über der Feuerstelle.

»Ich wollte den Rat eines Freundes einholen, ehe ich in der Feste des Sanglors vorspreche.«

»Die Kunde, die du zu überbringen hast, muss von großer Bedeutung sein, dass du es wagst, den Schwur zu brechen.« Der Bärtige warf einen Blick auf die Rolle, die auf dem Tisch stand, seufzte und setzte sich wieder auf seinen knarzenden Holzschemel.

»Hast du ihr meine Worte entnommen? So weißt du von meinen Nöten.«

»Es stand mir nicht zu, sie zu lesen – nicht solange dein Herz noch schlägt, die Brust sich hebt und senkt!«

Der Quarandor seufzte schwermütig. »Du weißt, mein Herr und Manarch war kein Freund des Königs, doch er war der Krone ein treuer Diener und gehorchte dem Machtwort.« Er hielt inne, suchte mit den Augen die dunkle Holzdecke ab, als hoffte er, dort die rechten Worte zu finden.

»Du sprichst, als stünde der König nicht mehr«, sprach der Bärtige leise, ahnend, welch Botschaft der Quarandor überbrachte.

»Kein Schwert wird er noch heben, doch treu seine eigene Klinge in der Ewigen Halle halten.«

Es folgte ein Schweigen, während sie dem Knistern des brennenden Holzes lauschten und des Königs Tod gedachten.

»Mein Herr und Manarch schickte mich, noch ehe der Rat der Hohen Sangloren zusammen mit den Niederen Sangloren und den Adelsherren des Ostens in der Königsstätte zusammentreffen wird. Mein Herr bittet um das Gespräch mit Ogondorus dem Weißen.«

»Soweit mir bekannt, ist kein Niederer Sanglor an der Königswahl beteiligt. Warum sollten auch jene zur Königsstätte aufbrechen?«

»Der Rat der Hohen Sangloren wählt zumeist einen bereits bestimmten Nachfolger, den Erben des Vaters, um ihn als den neuen Herrscher zu legitimieren. Doch dieser Erbe nun, ein junger Knabe, ist zu viele Winter vom Mannesalter entfernt. Seine Mutter, Königin Sarina von Kairaden, hält noch die Munt über ihren Sohn. Doch sie ist verhasst beim Volk, man wird verlangen, dass sie heiratet. Einen Mann, welcher der Krone würdig ist! Verweigert die Königin eine erneute Eheschließung, damit ihr Sohn eines Tages das Erbe des Vaters antreten kann, wird er gewiss einem … Unfall … zum Opfer fallen.«

»Könige kommen und gehen.« Der Bärtige zuckte mit den Schultern, während er seine Pfeife ausklopfte, säuberte und mit frischem Tabak stopfte. »Es hat stets der Rat der Hohen Sangloren geherrscht. Er wird einen neuen mächtigen Mann zum König wählen, so verlangt es die Tradition.«

»Dir, mein Freund, mögen die Gehässigkeiten und Kämpfe um die Thronfolge fremd sein. Hier in den Bergen, wo einzig die Kälte des Mannes Feind ist. Sangloren, Manarchen, Krieger, Vanarchen, Söhne reicher Händler und selbst Künstler, Gelehrte und Phindorchen werden zur Königsfeste kommen, um die Hand der Königsmutter zu erbitten, während der hohe Adel eigene Pläne und Intrigen schmiedet, allen voraus Prinz Vindigor von Tallân, der Neffe des verstorbenen Königs. Unser Reich wird in Krieg verfallen! Die Quaranenreiche im Süden und Westen werden ihre alten Bündnisse und damit den Frieden brechen, sie werden ihre eigenen Grenzen stärken wollen, wegen eines Paktes mit dem neuen Königsgeschlecht. Man stelle sich vor, Bargodon von Milang würde seine Schätze nicht selbst verwalten, sondern dem neuen König – oder dessen Feind – übertragen! Das Reich Milang würde nicht länger den Frieden und den Handel sichern, es würde einen Keil zwischen alle Adelsfamilien treiben.«

Die Stimme des alten Mannes brauste, sein Bart bebte bei jedem Wort. »Doch während in unserem vereinten Königreich die Stadtstaaten und die Quaranenreiche gegeneinander zu Felde ziehen, werden die Königreiche weit jenseits unserer Grenzen ein Heer aufstellen. Sie werden erneut ihre Soldaten über den Salzigen See schicken, um unsere Länder zu erobern.«

Der Bergmann schwieg, seine Augen funkelten im dämmrigen Licht der glimmenden Pfeife, während dichter Rauch sein Gesicht verhüllte. Er war ein Mann des Schwertes, ein Krieger, kein Ratgeber, der das Spiel der Politik beherrschte, der Intrigen ausfocht und nach Macht strebte. »Ein Sturm ist aufgezogen. Der Mond wird sich leeren, ehe wir den Pass überwinden können«, sagte er schließlich bei dem Gedanken, den Alten zur Feste des Niederen Sanglors Ogondorus des Weißen zu geleiten.

»So viele Tage? Mir bleibt nicht diese Zeit!«

»Ich fürchte, mein Freund, deine Reise hat mehr Tribute eingefordert, als dir bewusst ist.« Der Bärtige schob die dichten Augenbrauen zusammen und deutete auf das Bärenfell.

Schmerz erfüllte den Leib des Quarandors. Er hätte geschrien, wäre er nicht von Schweigen umhüllt gewesen. Vorsichtig bewegte er seinen rechten Arm, führte ihn unter dem Fell hervor und betrachtete die bleiche Hand, in die das Leben zurückkehrte.

»Du solltest den Blick davor bewahren!« Der Bärtige erhob sich und kniete neben seinen alten Freund, doch dieser war von Bitterkeit ergriffen. Zitternd schob er das Fell von seiner Brust, stöhnend und keuchend betrachtete er seine leblose Linke, wo die Finger des Todes Farbe angenommen hatten.

Der Schmerz war ein Brennen und die Flammen leckten an seiner Seele. Er war ein Gesandter, ein Quarandor, ein Phindorch. Als hätte man dem Krieger den Schwertarm genommen, wurde er, der Schreiber, seiner Federführung beraubt.

Sein Bart bebte, die Augen blitzten wütend auf, als er zornentbrannt schrie: »Warum, bei Timerus dem Mächtigen, hast du mir die Hand nicht abgeschlagen, als ich noch schlief, und mir dies erspart?«

»Kein Phindorch sollte seiner federführenden Hand beraubt sein, wenn er in die Ewige Halle eintritt.«

Sie saßen zu Tisch und schlürften die wässrige Suppe. Der Bärtige wiederholte gedanklich den Vorgang einer Amputation. Einst war er ein Krieger gewesen, ein Sohn der Göttin Helemâs, ein Handlanger machtgieriger Anführer. Nur schmerzlich erinnerte er sich an diese Zeit zurück, in der er als Krieger durch die Lande zog, Schlachten in den Straßen der Städte oder auf dem Felde schlug. Eines hatten beide Orte gemeinsam: das Grauen, den Schmerz, den Gestank der Verwesung. Der Tod war so gegenwärtig wie die Sonne am Tag und der Mond in der Nacht. Er hatte schnell gelernt, einfache Wunden zu versorgen, Blutungen zu stillen und durfte schließlich auch Amputationen beiwohnen. Dabei war nicht das Abtrennen der erkrankten, kaputten Glieder das Schwierige, oder der Schmerz, sondern die Zeit danach. Die meisten Menschen starben an Verblutung oder an einem eiternden Stumpf. Er hatte gelernt, sauber zu arbeiten, sich und die Wunde zu waschen, wusste, welches Werkzeug einzusetzen war, doch er konnte nicht voraussagen, ob sein Freund die Qualen überleben würde. Zumal er hier, in seiner entlegenen Hütte, nicht das Werkzeug der Heiler aus den Städten hatte.

Nach dem kargen Mahl schürte der Bärtige das Feuer, breitete grobe Leinen auf dem Boden aus, die das Blut aufsaugen sollten, und nahm Säge und Schaufel von der Wand, die er dort aufgehängt hatte. Er schliff seinen Dolch und legte ihn zusammen mit dem Schleifstein neben ein paar Leinenschnüre auf den Boden, während der Phindorch noch am Tisch saß und von dem starken Wein trank, den der Bärtige in einem kleinen Fass aufbewahrte, um sich zu betäuben. Danach kochte er ein paar Leinentücher aus und legte sie für später bereit.

Schließlich holte der Bärtige von draußen einen Kübel und ein Stück Holz, das er sorgsam mit etwas Leder umwickelte.

Schweigend sahen sich die beiden Männer an. Sie wussten, für das Leben gab es keine Gewissheit, für das Leid hingegen schon.

Der Bärtige musste seinen Freund stützen, der vom vielen Wein bereits benommen war, als er ihn auf die Leinen auf dem Boden bettete und ihm das umwickelte Stück Holz zwischen dessen Zähnen klemmte, auf dass er sich nicht die Zunge abbeiße. Danach nahm er die Bänder und band damit an mehreren Stellen den Arm fest ab, auf dass das Blut nicht mehr fließe.

Zuletzt legte er die Schaufel in die Glut und nahm den Kessel mit geschmolzenem Schnee von der Feuerstelle, um sich darin gründlich die Hände zu waschen.

Angespannt atmete der Bärtige tief durch. Er warf dem Quarandor einen letzten Blick zu, der zitternd nickte, seine wunde Hand ein letztes Mal betrachtete, dann sich abwandte.

Schließlich sprach der Bärtige ein leises Gebet zu Arondus dem Heiler, dann hob er die Säge und setzte sie am Unterarm an.

Der Phindorch und Quarandor stöhnte, krümmte sich vor Schmerz, er wollte seine Hand zurückziehen, doch der Bärtige stemmte sich mit seinem gesamten Gewicht auf den Arm und sägte entschlossen weiter. Kurz darauf sackte der Gelehrte schlaff zur Seite.

Er musste schnell arbeiten, das Blut schoss aus dem Arm, welches er im Kübel sammelte. Dann nahm er seitlich zwei Schnitte vor und schob die Muskelstränge von den beiden Knochen zurück, die er mit dem Schleifstein glattschliff. Schließlich zog er die Haut mit dem Fleisch wieder vor die beiden Knochenstümpfe und griff nach der Schaufel in der Feuerstelle, dessen glühendes Eisen er auf den Stumpf drückte, um die Blutung zu stoppen. Sofort stieg ihm der beißende, atemraubende Gestank verbrannten Fleisches in die Nase. Ein Gestank, der auch in den kommenden Tagen nicht verflogen sein würde. Abschließend nahm er die ausgekochten Leinentücher und wickelte sie sorgsam um den Stumpf. Mehr konnte er nun für seinen Freund nicht tun.

Der Mond begann sich bereits wieder zu füllen, als sie in Begleitung des Villars dem Weg durch die verschneite Berglandschaft folgten. Das Weiß war seit zwei Tagen nicht mehr vom Himmel gefallen, doch die Sonne vermochte noch nicht mit ihrem Schein die Wolkendecke zu durchbrechen. Es war ein steiler Weg den Berg hinauf, fort von der kleinen Hütte nahe dem Wald.

Die vergangenen Tage waren geprägt von Schmerz und der ständigen Angst, die Folgen der Amputation nicht zu überstehen. Jeden Tag versorgte der bärtige Nordmann die Wunde aufs Neue, wusch die Tücher in kochendem Wasser und legte sie wieder um den Stumpf. Gegen die Schmerzen gab es zwar genügend Kräuter und Säfte, doch der Bärtige hatte nichts davon in seiner Hütte, weshalb der schwere Wein das einzige Mittel war, mit welchem der Phindorch und Quarandor seine Sinne berauschen konnte.

Während sein Freund gegen das Fieber kämpfte, war der Bärtige jagen gegangen, um dem Siechen eine nahrhafte Speise zubereiten zu können, und er wärmte die Hütte durch ständiges Nachlegen von Feuerholz.

Schließlich erholte sich der Phindorch und Quarandor schneller als erhofft. Bald konnte er sich aufrichten und ein paar Schritte tun. Er wollte möglichst rasch aufbrechen, und obwohl der Bärtige sich um den Stumpf sorgte, der noch stark angeschwollen war, konnte der Gelehrte nicht davon abgehalten werden, bald wieder aufzubrechen, um seinen Weg fortzusetzen. Der Nordmann wusste, er konnte seinem Freund dies nicht ausschlagen, weshalb er missmutig einwilligte, ihn zur Feste des Sanglors Ogondorus des Weißen zu begleiten. Und so marschierten sie nun in Begleitung des Villars durch den Schnee, ohne auch nur ein weiteres Wort über das Erbe des Königs oder die Botschaft des Phindorchs gesprochen zu haben.

Zur Mittagszeit hatten sie den Pass erklommen und konnten nun der schmalen Straße folgen, die durch die Stollen der Pogloraen hinab ins Tal führte. Sie saßen auf kleinen Felsvorsprüngen, etwas Fleisch und Nüsse essend. Kummer lag in den Augen des Quarandors, als er zu seinem linken Ärmel hinsah. Anstelle der Hand lugten die blutigen Binden aus dem Ärmelloch hervor.

»Ogondorus der Weiße wird seinen besten Heiler rufen lassen, der sich deiner Schmerzen annimmt.«

»Nicht die Schmerzen plagen mich!« Der alte Phindorch seufzte schwermütig. »Mir ist, als sei ich ein Knabe, dem die Manneskraft geraubt wurde.«

»Mein Freund, du warst von deinem Weg abgekommen, hast deinen Schwur gebrochen, um mich aufzusuchen. Sprich, warum lädst du diese Schuld auf dich?«

»Auch du hast einen Schwur gebrochen und Schuld auf dich geladen!«, antwortete der Gelehrte und ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen.

»Du weißt, ich tat dies, um mich nicht gegen jene zu wenden, die ich einst schwor zu schützen.«

»Man sagt, in den Bergen des Westens sei ein Narr zugegen, der einst ein Sohn der Helemâs gewesen ist, wie du.«

»Der Narr bekämpfte nahezu jede Obrigkeit des Königreichs. Sangloren, Obere, Wächter des Tempels des Timerus, Gesandte des Königs. Kenas von Gardanal – einst ein stolzer Krieger, später ein Handlanger der Familie Hêmen, zuletzt auch deren Feind«, bekannte der Bärtige.

»Das ist wahr. Das Königshaus hat ihn verstoßen, die Tempelwächter hetzten ihm die Krieger nach, als sei er ihr größter Feind. Du teilst dieses Schicksal.«

»Ich habe mein Schwert abgelegt, vor vielen Jahren.«

»Der Tod des Königs, die Kämpfe um sein Erbe, die Gefahr von den Völkern jenseits des Salzigen Sees, die unser Königreich womöglich erneut erobern werden wollen …« Der Quarandor schüttelte müde den Kopf. »Doch leiden werden die Bürger, die Bauern, die Armen, die in einen Krieg gezwungen werden, den sie nicht wollen. Sie benötigen den Schutz der Söhne der Helemâs dringender denn je!«

»Die Bruderschaft ist zerfallen und verfeindet. Rachsüchtig waren die Krieger, machtgierig die Oberen. Man gewinnt eine Schlacht mit einem Heer, nicht mit einem einzelnen Soldaten.«

»Ich hörte von einem Mann, der die Verstoßenen sammeln und erneut einen möchte. Der Fluch der Göttin Helemâs wird von euch genommen, solltet ihr eure Schwerter wieder führen wie einst in jungen Tagen.«

»Der König ist kaum gestorben und schon wird nach den Verfluchten gesucht?«

»Als dieser Mann, ein Lehrmeister, vor Jahren seinen Entschluss fasste, dem Königreich zu dienen, den Frieden zu bewahren, indem jene Verfluchten zurückgeholt werden, die nicht käuflich sind, nicht einem einzelnen Herrn dienen oder wegen Habgier Raubzüge unternehmen, bedurfte das Heil unseres Königs keiner Sorge. Einst wollte dieser Gelehrte die Sangloren vor der Gefahr warnen, die der Süden darstellen könnte, wenn die Gerüchte stimmen und tatsächlich für eine erneute Eroberung unseres Königreichs gerüstet wird. Doch mir scheint, unser Reich ist vielmehr von innen gefährdet. Zum einen ist das der Kampf um die Erbfolge. Man wird den schwachen Sohn oder die verhasste Königswitwe nicht dulden. Zum anderen rückt eine Eheschließung der Sanglorentochter Ilorene von Milang zunehmend in das Interesse der Mächtigen. Wohl kaum wird man in der Königsstätte zusehen, wie ein bedeutungsloser Sprössling aus dem Haus Hêmen, der Ilorene von Milang versprochen ist, eines Tages über das reiche Quaranenreich im Süden herrschen wird.«

»Was wirst du tun, sobald wir bei Sanglor Ogondorus dem Weißen eingetroffen sind?«, fragte der Nordmann nun endlich.

»Mein Herr und Manarch schickt mich, um Ogondorus als seinen Verbündeten zu wissen im Kampf um den Thron. Dich sollte dies jedoch wenig kümmern.«

Es war später Nachmittag, der Himmel hatte sich stärker zugezogen, als sie über den schmalen Pfad schritten, der zur Feste des Sanglors Ogondorus des Weißen hinaufführte. Sie gelangten zu einem unbemannten Tor. Die Türen waren bereits vor vielen Jahren morsch zusammengebrochen, lediglich der Steinbogen war übrig geblieben. Die Feste zu erneuern sei Verschwendung, zu abgelegen lag das Reich des Weißen Sanglors, zu kalt waren die Nächte in diesen Höhen, zu steil der Weg für Händler. Die Festung hoch in den Bergen sei selbst als Geschenk eine Strafe, wie man im Scherze sprach. Ungemütlich sei es in den Gemäuern, die Leute schienen kaum zu sprechen, seien stur und rüpelhaft. Nichts, das sich zu erobern lohnte, lag hinter dem steinernen Torbogen verborgen.

Bald konnten sie in der Ferne die Lichter der Feuer in den Türmen erkennen, die tags wie nachts hell leuchteten und selbst im Nebel auszumachen waren, um den Wanderern und Schutzsuchenden den Weg zu zeigen.

Das Gemäuer der Feste selbst war kaum zu erkennen, es war mit Eis und Schnee überzogen und schien mit der Felswand zu verschmelzen. Lediglich eine hölzerne Brücke führte über die schmale tiefe Schlucht zum verschlossenen Portal.

Der Bärtige war überrascht. Weder Wächter noch Soldaten oder gar nur einfache Knechte standen beim Tor, um Unwillkommene fortzuweisen, von Reisenden den Wegzoll einzufordern oder Ehrengäste willkommen zu heißen. Nur die Gesichter zweier steinerner Statuen blickten mit ihren leblosen Augen auf die beiden Wanderer herab.

Der Phindorch deutete auf den eisernen Ring neben dem verschlossenen Portal. »Mein Arm ist zu schwach.«

Der Bärtige trat neben seinen alten Freund und schlug mit dem Ring gegen die darunter angebrachte Eisenplatte. Lang tat sich nichts, dann gab das Tor mit leisem Knarren nach und wurde einen Spalt breit geöffnet.

Die beiden Gefährten warfen sich einen überraschten Blick zu, dann traten sie und der Villar in das düstere Innere der Feste. Hinter ihnen schloss sich wieder das Portal, ohne dass sie einen Wächter gesehen hätten, und die Dunkelheit umschlang sie wie die Schwärze der Nacht.

Schritte waren zu hören, die über den staubigen Boden schleiften, eine Fackel loderte auf und kam ihnen langsam entgegen, bis sie, kaum eine Armeslänge entfernt, vor ihnen stehen blieb. Nur langsam konnten sich die Augen der beiden Männer an die grellen Flammen gewöhnen, bis sie schließlich das Gesicht des Fackelträgers erkennen konnten. Ein hagerer Mann, in lumpenhafte Kleider gehüllt, mit dürren Armen und kahlem Kopf stand vor ihnen.

»Phindorch Ermon, Quarandor des Hohen Sanglors von Dagosturas, Euer Kommen war nicht erwartet!«

»Ich überbringe deinem Herrn und Manarch eine Botschaft meines Herrn und Manarchs.«

»Ihr seht müde und entkräftet aus. Eure Hand scheint mir verletzt.« Er deutete auf den Ärmel, aus welchem die vollgebluteten Binden hingen.

»Meine Kunde drängt. Bringe mich zu Sanglor Ogondorus dem Weißen!«

»Und Eure Verletzung? Die Heiler könnten …«

»Die Kälte hat mich meiner Hand beraubt. Sie wurde mir bereits genommen. Die Kunde drängt, die Künste der Heiler können warten.«

Der Fackelträger warf einen verstimmten Blick zu dem Bärtigen hinüber, dann musterte er den Villar, der getreu neben seinem Herrn stand, seine Augen glänzten im Schein der Flammen, die Zunge hing ihm aus dem Maul, Dampfwolken qualmten daraus empor.

»Folgt mir!« Der hagere Mann wandte sich um und schritt in leicht gebückter Haltung den leeren Gang voraus.

Nichts schien ein Geräusch zu verursachen, lediglich ihre Schritte, die über den Boden schlurften, hallten von den Wänden wider. Endlos schien ihr Weg zu sein, schmucklos, düster und unbeleuchtet, wie er war. Nicht einmal Halterungen für Fackeln waren zu sehen.

»Einst standen Frauen zu beiden Seiten, hielten ihre Hände offen und beleuchteten mit Magie den Pfad«, erklärte Phindorch Ermon mit einem matten Lächeln auf den Lippen. »Einsame, karge Jahre sind seither vergangen, wie mir scheint. Prächtig war einst ihr Anblick, der Fremde verblüffte und umnebelte. Quarandoren waren geblendet, zu beeindruckt waren sie von dem glanzvollen Empfang, von diesem endlosen Marsch entlang dieses Prunks. Es war Sanglor Ogondorus dem Weißen ein Leichtes, die Männer zu beeinflussen, sie zu lenken, ganz nach seinem Willen.«

»Kaum vorzustellen, von diesen Mauern umgeben Eindruck zu erlangen«, antwortete der Bärtige mit knurriger Stimme.

Ihre Schritte klangen hohler als zuvor, die Wände taten sich auf und verloren sich in der Finsternis. Der Fackelträger wurde langsamer, deutete ihnen mit dem Arm, stehen zu bleiben, während er selbst vorausschlurfte, bis ein Geländer seinen Weg versperrte.

»Phindorch Ermon, Quarandor des Hohen Sanglors von Dagosturas, in Begleitung eines Gehilfen und eines Villars.« Die Stimme des Fackelträgers war laut und kräftig. Nichts stand ihr gegenüber, was die Worte zurückwerfen hätte können. Als stünde der Mann vor einem weiten Abgrund und ließe das Gesagte mittels Magie verstärken.

Plötzlich taten sich unzählige kleine Lichter auf, die zu großen Feuern aufflammten, geschlichtetes Holz in Mannshöhe verschlangen und jene Weite erhellten, die in der Schwärze verborgen gelegen hatte.

»Das kann doch nicht …«, verblüfft ließ der Bärtige den Mund offen stehen, während er vorsichtig vortrat und in die gigantische Halle hinabblickte, die ihr Ende weit hinten im Berg verborgen zu nehmen schien. Die Wände waren so hoch wie kein anderes Gebäude im gesamten Königreich, geschmückt mit unzähligen Bildhauereien und Skulpturen. In die steinerne Decke war ein Gewölbe geschlagen, an dem die begabtesten Künstler gearbeitet haben mussten, die Säulen waren mit bemaltem Kalk verziert, bis weit hinauf, wo selbst das beste Auge nichts mehr erkennen konnte.

Der Boden war mit schönsten Steinen ausgelegt, rötlichem und weißem Marmor, bestückt mit Edelsteinen. In der Mitte stand eine Tafel, an der wohl das gesamte Gefolge eines Sanglors Platz finden konnte.

Die vielen Feuerstellen zu beiden Seiten der Tafel erhellten die Halle mit wärmendem Licht und warfen zugleich durch die teils behauenen Säulen unzählige Schattenfiguren, die kriegerische Szenen darstellten, an die Wände der Höhle.

»Phindorch Ermon, Quarandor des Hohen Sanglors von Dagosturas, eine seltene Ehre wird mir zuteil!«, polterte eine laute Stimme von jenseits der prächtigen Halle. »Tretet näher!«

Sie traten gemeinsam die breite Treppe hinab, die zur Halle hinunterführte, wobei Kurus, der Villar, nervös an jeder Stufe schnüffelte. Sein Schwanz zuckte, als wittere er ein fremdes Wesen. Der Fackelträger blieb neben der ersten Säule stehen, neigte sein Haupt und deutete mit dem freien Arm auffordernd zum hinteren Ende der Halle.

Langsam schritten die beiden Gefährten durch die kalte Halle, Kurus huschte von Säule zu Säule, der Bärtige betrachtete beunruhigt die tanzenden Schattenbilder an den Wänden, während der Phindorch mit einem matten Lächeln auf den Lippen zügig voranschritt. Plötzlich blieb der Villar stehen, den Kopf leicht geduckt, das Maul knurrend geöffnet.

Der Bärtige griff nach dem Dolch, den er unter seinem dicken Wams trug, und sah sich nach allen Seiten um, doch Ermon hob abwehrend seinen Stab und deutete ihm, die Klinge nicht hervorzuholen.

»Dein Hund fürchtet sich wohl«, rief die laute Stimme von jenseits der Halle aus dem Verborgenen hervor.

»Mein Villar verachtet feige Männer, die sich hinter schützenden Mauern und Türmen verbergen!«, murrte der Bärtige wütend.

»So zeigt Euch, meine getreuen Diener!«, antwortete die Stimme, woraufhin die tanzenden Schatten an den Wänden erstarrten.

Entsetzt blickte der Bärtige zu den Säulen, wo die in Stein gehauenen Fratzen und Kreaturen nun zum Leben erwachten. Sie traten langsam aus dem Verborgenen hervor, groß gewachsen, von ihren Beinen bis zum Schopf behaart. Die mit Krallen bestückten Pranken waren gehoben, kräftig genug, einen Krieger zu erschlagen. Die Köpfe waren groß und von einer dichten Mähne umgeben. Die Augen leuchteten düster, mit ihrer dicken Zunge leckten sie sich über ihre glänzenden, spitzen Zähne. Selbst die furchtlosen Bären der Berge würden diese Ungeheuer meiden.

Krallen scharrten über den Steinboden, als weitere Wesen neben den Pelzbestien erschienen. Deren Beine waren verkürzt, schmal, als bestünden sie nur aus Knochen, der Rumpf war von einem dicken Panzer umgeben und wo die Arme beginnen sollten, ragten auf jeder Seite zwei Krallen hervor, die wie lange, gelenkige Stacheln wirkten. Ihr Kopf war klein, doch mit großen Augen bestückt. Gierig starrten sie die Fremden an.

Dumpfe Schritte waren hinter ihnen zu vernehmen, als erneut Geschöpfe aus dem Schatten der Säulen traten. Unzählige Figuren in gebückter Haltung, mit schweren Stiefeln, kurzen Beinen und kräftigen Armen kamen langsam auf sie zu. Ihre Häupter waren mit einer Eisenplatte überzogen, die wohl einst mit Nägeln in deren Schädel geschlagen worden waren. Die Augen verbargen sich hinter buschigen Brauen. Die Ohren waren größer als jene der Menschen, die Nase abgeflacht, der Mund schmal. Das Kinn schien in den dicken Hals überzugehen. Panzer aus festem Leder versuchten die muskulösen Schultern und Oberarme zu umschließen, drohten jedoch bei jeder Bewegung an den Nähten zu zerreißen. In ihren schaufelartigen Händen hielten sie Hacken und Hämmer, die sie über den Steinboden schleiften. Die Hosen waren aus dickem Leder und mit unzähligen Taschen bestückt, die allesamt mit kleinen Dingen gefüllt waren. Zwar hatte der Bärtige noch nie zuvor einen von ihnen zu Gesicht bekommen, doch mussten dies die Pogloraen sein, die einst die Berge beherrscht hatten, die ihre Stollen in den Fels geschlagen hatten, um die Passwege auch mit Fuhrwerken befahren zu können.

Trotz ihrer kleinen Erscheinung neben den pelzigen Ungetümen wirkten sie in ihrem Gleichschritt bedrohlicher als alles andere.

»Wie du siehst, Fremder, verstecken wir uns nicht!« Ein fetter Mann trat in den Schein der Feuer. Sein Bart war ergraut, die Hände wulstig, das Haar quoll unter seinem Helm hervor und fiel ihm fettig von den Schultern herab. Ein breites Grinsen lag auf dem Gesicht des mit gierigen Augen starrenden Sanglors und entblößte das dunkel gefärbte, lückenhafte Gebiss. Lediglich die Kleidung, aus prächtigen Stoffen gefertigt, verriet den Stand des Mannes.

»Viele Tage sind vergangen, seitdem Ihr zuletzt unseren Höhlen einen Besuch abgestattet habt! Euer Kommen überrascht uns«, wandte er sich an den Phindorch und Quarandor des Hohen Sanglors von Dagosturas. »Ach, wo bleibt Euer Ehrgefühl! Kaum ein Mensch lässt sich weniger einschüchtern als Ihr, alter Mann! Früher gabt Ihr Euch noch die Mühe, so zu tun, als fürchtet Ihr meine getreuen Diener.«

Der Sanglor wedelte mit der Hand, woraufhin die Pelzbestien, Krallenwesen und Pogloraen nahezu geräuschlos wieder hinter den Säulen verschwanden. Dann wandte er sich um und schritt den Weg bis zu seinem steinernen Thron zurück, der auf einigen Treppen erhöht stand.

»Sanglor Ogondorus, mein Herr und Manarch, schickt mich mit einer traurigen Kunde.« Ermon verbeugte sich, ohne von den getreuen Dienern eingeschüchtert zu wirken.

»Traurig?«, rief der Sanglor überrascht aus, beugte sich auf seinem steinernen Stuhl zur Seite und stieß einen lauten Furz aus. »Ah, ein erleichterndes Gefühl, will ich meinen!« Der Beleibte lachte und fuhr sich mit seiner Hand über den dicken Bauch. »Ah, frisches Roggenbrot, so sehr ich die feste Kruste, das weiche Herz liebe, so sehr stinkt der Atem aus dem Arsch!« Er schüttelte den Kopf. »Traurig ist die Tatsache, dass Euer Herr und Manarch meiner jährlichen Einladung zu den großen Festspielen bereits mehrmals nicht nachgekommen ist. Er fühlt sich nicht einmal bemüßigt, seinen Quarandor zu schicken!«

»Verzeiht meine Direktheit, Sanglor, doch des Königs Seele ist zur Ewigen Halle aufgestiegen.«

Augenblicklich wurde der Sanglor ernst. Er kratzte sich an seinem Kinn, als überlege er seine Worte. »Pah! Ewige Halle. Auch er war nie zu mir gekommen, nicht ein einziges Mal in seiner Zeit als König!«

»Ich bin mir sicher, Ihr versucht Eure Trauer hinter Spott zu verbergen.« Ermon zuckte mit den Schultern und erinnerte den Sanglor an den Schwur, den er dem Königshaus geleistet hatte. Spott über den König oder dessen Familie wurde mit dem Tod bestraft, davon waren selbst hohe Adelsangehörige nicht ausgeschlossen.

»Ah, gewiss. Doch um mir diese … traurige Kunde zu überbringen, seid Ihr nicht über den Pass zu mir gekommen. Ein gefährlicher Weg zu dieser schweren Zeit.«

»Schwere Zeiten werden uns bevorstehen, wenn wir nicht handeln.«

»Mich erfreut, Ihr kommt zum Punkt.« Der Sanglor schnippte mit den Fingern und ließ sich von einem Bergmann einen Kelch heißen gewürzten Weines bringen. »Handeln sagt Ihr? Wir betreiben schon lange keinen Handel mehr mit den anderen Adelsfamilien. Schenkt doch auch meinen Gästen ein!«, fuhr er mit gespielter Verärgerung den Bergmann an.

Der Phindorch ignorierte die bewusste Fehldeutung seiner Worte. »Ein Kampf um die Thronfolge wird ausbrechen und verheerend für alle Quaranenreiche sein«, antwortete Phindorch Ermon, nachdem er an dem übelriechenden, dampfenden Wein genippt hatte.

»Gewiss, doch mein Reich ist davon ausgeschlossen.« Grinsend lehnte sich der Sanglor zurück und trank zufrieden aus seinem Kelch. »Kein Hauptmann ist töricht genug, seine Soldaten den steilen Weg heraufzuschicken. Meine Höhlen sind gut geschützt, die Feste uneinnehmbar.«

»Eure Feste hat sich bereits besserer Tage erfreut!«, stieß der Quarandor wütend hervor. »Eure Gänge sind verlassen, die Feuer brennen nur halb so hoch wie einst zu prächtigen Zeiten, als hier ständig Gäste geladen waren. Nun tummeln sich nur getreue Diener und Schattentänzer in diesem Saal! Nicht einmal die Bürger kriechen aus ihren Löchern hervor, um an den Empfängen teilzunehmen. Wo einst stolze Soldaten Wache hielten, verstaubt selbst der Dreck der letzten Ratten, die sich – klug, wie sie sind – woandershin zurückgezogen haben. Wo ist Sanglor Ogondorus der Weiße nur geblieben, von dem alle dachten, er trüge den Namen ob seiner Weisheit! Der Schnee gab Euch diesen Namen und der Schnee wird auch Euer Grab sein, wenn Ihr nicht erneut zum Leben erwacht!«

Es kehrte Stille ein, nachdem der Quarandor zu Ende gesprochen hatte. Wut hatte ihn übermannt, ihm die Vernunft ausgetrieben und ihn Worte sagen lassen, die man vor einem Sanglor niemals aussprechen durfte.

Ogondorus sah finster von seinem Thron zu seinen Gästen herab. Dann hob er den Blick und sah sich in dem Saal um. Tatsächlich war früher diese Halle mit Gästen, Gesang und dem Duft feinster Speisen gefüllt gewesen. In den Kaminen hatten Feuer gebrannt, die bis weit hinauf zu den obersten Säulenzeichnungen gereicht hatten, Dienerinnen der Liebe hatten zu den Liedern getanzt und edler Wein war aus den Fässern in die Krüge geflossen. Ogondorus der Weiße war ein Name, den man mit Stolz und Ehrfurcht ausgesprochen hatte.

»Warum seid Ihr gekommen, Phindorch Ermon, Quarandor des Hohen Sanglors von Dagosturas?«

»Mich erfreut, Ihr kommt zum Punkt!«

»Ich bin von Neugierde ergriffen, was vermag für den Hohen Sanglor von derartiger Dringlichkeit zu sein, dass er seinen getreuesten Diener diesen beschwerlichen Weg auf sich nehmen lässt, dass jener, ein Phindorch und Quarandor, gar die Hand opfert?« Sanglor Ogondorus lehnte sich in seinem Thron zurück und ließ sich von einem seiner Diener erneut von dem dampfenden Gebräu nachschenken.

»Ein Krieg, wie ich fürchte.« Phindorch Ermon seufzte und wankte, doch stürzte er nicht, sondern wurde von dunklen Schatten aufgefangen, ein Nebel aus schwarzem Qualm formte sich zu einem Stuhl, der Rücken- und Armlehnen in sich barg. Der Nordmann öffnete fassungslos den Mund, doch für seinen Freund schien die Gegenwart der Magie an diesem Ort eine solche Selbstverständlichkeit zu sein, dass er keine Regung zeigte, als er sich zurücklehnte.

»Zu keinem Tag waren die Reiche frei von Krieg und Leid! Was kümmert mich der Belang dieser machtgierigen Adelsfamilien?«

»Keine Kämpfe unter Rivalen!«, rief der Phindorch mit bitterer Verärgerung. »Man berichtet von einem Heer aus dem Süden, jenseits des Salzigen Sees.«

»Ein Heer der Barbaren?« Der Sanglor lachte laut. »Nie würden sich die Völker des Südens einen!«

»Gewiss nicht zu alter Zeit, doch spricht man von einer Gestalt, die die Ragonen einen und anführen kann. Selbst die Terostoren schließen sich diesem Anführer an, anstatt das Heer aus Räubern zu vernichten. Schon bald werden alle Ländereien des Südens geeint sein, unter der Führung einer einzigen Gestalt, die weder einer Schöpfung Ursprung nahm noch den Hauch des Todes fürchte – so erzählt man sich. Und unser Reich, ein Reich des Königs, ist zerfallen. Nun, da ein unfähiger Balg das Erbe von des Königs aufgestiegener Seele antritt, werden alle Familien ihre Söhne nach Norden zur Königsstätte schicken, um den Jungen zu töten und die Mutter, die Witwe, zu ehelichen.« Die Worte des Phindorchs verhallten in den endlosen Weiten der finsteren Halle.

»Was erhofft sich Euer Herr und Manarch, Sanglor Echandus von Dagosturas, von mir? Erbittet er meine Zustimmung, meinen Segen, die Witwe zu ehelichen?«

»Mein Herr und Manarch strebt nicht nach dem Thron des Königs, er sorgt sich lediglich um sein Volk und will die Krone nicht auf dem Haupte eines Mannes wissen, der schwach ist oder von einer Frau kontrolliert wird.«

»Sollte«, der Sanglor des Weißen Quaranenreiches räusperte sich, »sollte dieses Degenkind bei einem der vielen Übungskämpfe …«, der Beleibte suchte nach Worten. »So viele Seelen sind bereits durch missglückte Übungskämpfe zum Aufsteigen … ermutigt worden. Wäre es so abwegig, wenn diesem Balg selbiges Schicksal zukäme? Und wenn die Mutter, eine trauernde Witwe, geschwächt durch ihren Kummer, an einer Krankheit leide, noch bevor ein Mann sie zu seinem Weibe machen konnte … Wer wird dann dieses bürdevolle Amt annehmen? Ist es nicht sein Neffe?«

»Prinz Vindigor von Tallân, Weißer Sanglor«, stimmte der Phindorch zu.

»Vindigor wird nicht wagen, dieses Amt anzunehmen!«, polterte der Sanglor wütend. »Seine Familie ist stark, doch ohne Reichtum – und daher auch ohne Macht.«

»Nicht, wenn er Sanglor über ein Quaranenreich wird, welches für seinen Reichtum ebenso bekannt ist wie die einzige Erbin selbigen Quaranenreiches für ihre Schönheit.«

»Ihr sprecht von Ilorene von Milang.« Jeglicher Spott, aller Hohn war aus der Stimme des Beleibten gewichen, während seine Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten.

»Prinz Vindigor wird mit all seinen Kriegern zur Hauptstadt des Quaranenreiches der Milang reisen und dem Hohen Sanglor Bargodon von Milang ein Angebot unterbreiten, welches dieser nicht ausschlagen kann – trotz eines angeblichen Versprechens gegenüber dem Hêmen-Adel, dass Timus von Hêmen Ilorene ehelichen wird.«

Erneut verfielen die beiden Männer in Schweigen, während alle Anwesenden angespannt nachzudenken schienen.

»Euer Herr und Manarch erhofft sich von mir meine Unterstützung, sollte er Vindigor angreifen?«, fragte der Sanglor schließlich.

»Keinesfalls! Ein Angriff auf die Königsfamilie ist Hochverrat!« Der Phindorch bedachte seine Worte genau, ehe er fortfuhr. »Der Hohe Sanglor Echandus von Dagosturas erbittet, dass Ihr die Königswitwe zu Eurem Weib nehmt und somit die Krone beerbt.«

»Warum sollte er dies wünschen?«

»Ihr steht mit keiner der Adelsfamilien noch im Bunde, zu lange lebt Ihr bereits zurückgezogen in den Bergen. Außerdem seid Ihr erfahren und wisst ein Heer anzuführen.«

»Prinz Vindigor erweist sich, wie man sich erzählt, ebenso als tüchtiger Heermeister.«

»Prinz Vindigor ist ein Stratege zu Felde, doch ist er durchfressen von Machtgier und Misstrauen. Er wird alle Söhne der Sangloren töten lassen, um die Reiche zu schwächen und später an seine Familie zu binden, durch Schenkungen oder Eheschließungen. Es wird zu einem Krieg kommen, inmitten des Königreichs, während von jenseits des Salzigen Sees der wahre Feind droht. Doch Ihr, Weißer Sanglor, seid fähig, die Gemüter der verfeindeten Familien zu besänftigen, ein Heer zu rüsten und gegen den Süden zu Felde zu ziehen.«

»Und welchen Vorteil erhofft sich Euer Herr und Manarch?«

»Er fürchtet die Macht der Königsfamilie. Den Streit um den Thron wird er nicht gewinnen, zu gering ist sein Einfluss, zu tief ist er in die einzelnen Machtkämpfe verwickelt. Doch mit Euch als König weiß er einen gemäßigten Verbündeten.«

»Dann scheint bei unserem gemeinsamen Vorhaben Eile geboten zu sein. Prinz Vindigor wird gewiss bereits auf dem Weg nach Milang sein, um dort dem Hohen Sanglor sein Angebot zu unterbreiten.«

»Gewiss.« Der Phindorch und Quarandor nickte zustimmend und holte aus seinem Gewand ein mehrfach gefaltetes Stück Pergament hervor, welches er einem der Diener reichte, der das besiegelte Schriftstück dem Sanglor übergab. Dieser erbrach das große Wachssiegel und entfaltete das Schriftstück mit neugierigem Blick.

»Mein Herr und Manarch ist zu fern der Königsstätte, um Stimmen für Eure Ernennung zu finden, doch trug er seinem Gadorch an, Euch willkommen zu heißen und Euch jeden Dienst zu gewähren.«

»Der Hohe Sanglor von Dagosturas scheint mir schier unbegrenztes Vertrauen zu schenken«, bemerkte der Weiße Sanglor überrascht, als er von dem wertvollen Pergament aufsah.

»Mein Herr und Manarch vertraut auf die Freundschaft, die Euch einst verband.«

»Dieses Schriftstück reicht aus, um jede Unterstützung einzufordern?« Der beleibte Sanglor wedelte mit dem Stück Pergament und kicherte verdutzt.

Erstmals erwachte der Bärtige aus seiner starren Haltung und warf seinem alten Freund einen zweifelnden Blick zu, als ob er die Urteilsfähigkeit des Sanglors Echandus in Frage stelle, da jener offensichtlich diesem fetten, kichernden und furzenden Greis zum Amt des Thronanwärters verhelfen wollte, doch Ermon besänftigte den Nordmann mit einem matten Lächeln.

Sanglor Ogondorus der Weiße erhob sich von seinem Thron und trat die spärlich erhellten Stufen zu den beiden Gästen hinab, ein zufriedenes Lächeln zierte sein aufgedunsenes Gesicht.

»Ihr habt wahrlich viel Vertrauen für einen Quarandor.« Ein seltsames Funkeln trat in die Augen des Sanglors, jeglicher Anschein von Verrücktheit war gewichen.

Kurus zuckte unruhig mit dem Schwanz, knurrte kurz, dann schien das Tier wie gebändigt zu sein, als plötzlich ein greller Lichtblitz aufleuchtete und wie ein Geschoss, aus dem Hinterhalt abgefeuert, auf sie zukam.

Der Bärtige griff nach seiner Klinge, doch als er das Metall unter seinem Gewand hervorgebracht hatte, erstarrten all seine Glieder, als sei sein Körper seiner Kontrolle entzogen worden. Einzig sein Verstand war noch wachsam und klar, während er langsam den Boden unter seinen Füßen verlor und im Raum schwebte, als stünde er auf einem Podest aus grellem bläulichem Licht.

»Oh, verzeiht!« Der Sanglor lachte hämisch und klopfte Phindorch Ermon auf die Schulter. Zwar schwebte der Schriftengelehrte nicht auf einem Nebel aus Licht, doch war zweifellos auch er mit einem unsichtbaren Bann belegt worden, kaum dass er von seinem Stuhl aus schwarzem Qualm aufgesprungen war.

»Ihr kommt als Gast in meine Hallen«, polterte der Sanglor, trat zurück und breitete die Arme aus, woraufhin alle Feuer aufloderten und erstmals die wahre Größe dieses gewaltigen Saals zu erkennen gaben. »Ihr nehmt meine Freundschaft in Anspruch und erteilt mir die Anweisung, an einer Intrige teilzunehmen, um die Königsfamilie zu stürzen!«, schrie der fette Sanglor, dass ihm der Speichel aus dem Mund spritzte. Mit vor Wut gerötetem Kopf und geweiteten Augen blickte er sich im Saal um. »Kommt, oh meine Diener!«

Schatten regten sich, Krallen kratzten an den steinernen Säulen, schwere Tatzen schlugen gegen den Boden, als die Schattentänzer und Pogloraen hervortraten und wie Raubtiere ihre Beute umzingelten. Kurus heulte auf, tänzelte zurück, zeigte Furcht, wie der Bärtige es noch nie zuvor gesehen hatte.

»Stopft diesem Villar, diesem Drecksgetier, das Maul!«, schrie der Sanglor wütend, woraufhin einer der Pogloraen vortrat, die Stiefel schlurfend, in der Rechten eine Spitzhacke haltend.

»Wagt es nicht … ich bin ein Quarandor des Hohen Sanglors Echandus von Dagosturas! Niemals wurden je ein Quarandor und seine Begleitung angegriffen.«

»Wagt es nicht, mich zum Narren zu halten!«, unterbrach der Beleibte den Phindorch. »Ihr, Ermon, wagt, mich aufzusuchen und den Feind des Königs als einen Gast zu laden?«

Entsetzen breitete sich im Bärtigen aus. Wie konnte der Sanglor ihn erkannt haben, wo er all die Jahre verborgen gelebt hatte? Kaum jemand kannte seinen Namen oder gar sein Gesicht.

Doch all dies schien dem Sanglor nur pure Freude zu bereiten, als dieser die Verzweiflung in den Augen des wehrlosen Bärtigen sah. »Ja, ich weiß, wer Ihr seid, Rachomus von Tarangien. Ihr seid eine Plage! Männer, die einst einen Schwur ablegten, brachen diesen Eid, um jene zu bekämpfen, die sie einst zu schützen gelobten. Feige, hinterhältige, weibische Verräter seid ihr!«

Nahezu mit vollkommener Gelassenheit wandte er sich dem Phindorch und Quarandor zu, der nun auf die Knie gefallen war, das Gesicht erblasst, die Augen voller Leere. »Prinz Vindigor von Tallân war eher hier bei mir zu Gast und machte mir wahrlich ein großzügiges Geschenk. Ein Handel, den nur ein Narr hätte ausschlagen können. Er warnte mich zudem vor Euch und Eurem Manarch, Ihr würdet kommen und einen jämmerlichen Plan ausfassen. Aber ich nehme natürlich Euer Angebot an und werde zur Königsstätte reisen und all Eure Hilfe in Anspruch nehmen.« Dabei wedelte der Beleibte mit dem Stück Pergament, das der Phindorch ihm zuvor gegeben hatte, zog einen Dolch hervor und leckte mit seiner Zunge genüsslich über die Klinge. »Euer Herr und Manarch, der Hohe Sanglor von Dagosturas, fürchtet Prinz Vindigor zu Recht. Der Prinz wird Eure Familie vernichten, die Kinder rauben und Weiber schänden!« Dann stach er mit seinem Dolch zu, durchstieß alles Fleisch, das Blut spritzte dem Beleibten ins Gesicht, der sich an jedem Hieb ergötzte, bis der leblose Körper des Schreibgelehrten zurückfiel und der schwarze Nebel ihn verschlang.

Der Bärtige wollte schreien, doch entkam kein Laut seiner Kehle, er wollte fliehen, doch war er noch gefangen in den Fängen des gleißenden Lichts.

»Tötet den Villar!«, befahl der Sanglor mit belangloser, leiser Stimme.

Es war, als zerreiße seine Brust, als die Pogloraen Kurus grob am Genick packten und hinunterdrückten, als sei der Villar ein lebloses Wesen. Dann holte ein Bergmann mit der Spitzhacke aus und durchstieß den Leib des treuen Gefährten, trieb das Metall so tief durch Knochen und Fleisch, bis der Schädel gespalten war.

Das Erbe der Väter

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