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März. Musikgarten

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„Haben Sie eben etwa Specki zu Ihrem Baby gesagt?“, fragt die Frau, die gerade links neben Anne auf dem Boden Platz genommen hat. Eine Frau, wie aus einer Waschmittelwerbung gefallen. Eine, die noch nie dieselben Socken zweimal hintereinander angezogen hat, geschweige denn, ohne sich abzuschminken ins Bett gegangen ist.

Bevor Anne sich in der Lage sieht, zu antworten, würdigt sie innerlich die Formulierung mit „Sie“ und „Specki“ und tauft die Linguistin neben ihr auf den Namen Clementine. Ja, Anne hat tatsächlich eben „Specki“ gesagt, als sie Paul aus der Jacke geschält hat und seine kräftigen Ärmchen und Beinchen sichtbar wurden, die aus den Öffnungen seines Bodys herausquollen. Ein verkleinertes Michelin-Männchen, ein Baby-Schwarzenegger, und deshalb denkt sie immer rechtzeitig an die Flucht nach vorn. Wenn sie zuerst irgendwas sagt, sagt es keine andere Mama mehr. Anne beschließt, es vorerst nur bei den Eckdaten zu belassen: 68 Zentimeter, 9,6 Kilo. Und jetzt kommst du, Clementine!

Doch die schüttelt nur den Kopf. „Das verwächst sich doch, wenn er erst mal krabbelt. Aber schon mal dran gedacht, was so eine Ansprache mit Ihrem Baby macht? Also emotional gesehen, mein ich?“ Die drei anderen Frauen, die mit Clementine und Anne einen Sitzkreis bilden, gucken und schweigen. Anne guckt und schweigt auch, betretener Blick auf die Uhr, zu spät, um jetzt noch abzuhauen. Sie wollte das nie, nie Sitzkreis, nie diese Mamas, nie diese Sprüche. Sie wollte ihr voriges Leben, nur mit Baby.

Dass da was auf sie zukommen würde, hatte sie schon damals im Geburtsvorbereitungskurs geahnt. Ein Crashkurs, ein Tag, vier Stunden. Damit müsste es ihr Kurs eigentlich ins Guinnessbuch der Rekorde als kürzester Geburtsvorbereitungskurs der Welt geschafft haben. Na, zumindest in Hamburg. Da hat man ihr und Hendrik jedenfalls gesagt, die erste Woche mit dem Baby sollten sie die Wohnung besser nicht verlassen, damit das Baby nicht von zu vielen Klängen und ungewohnten Gerüchen belastet würde. Man solle ebenfalls davon absehen, sich mit parfümierten Cremes und Duschgels zu waschen und zu pflegen, weil das Kind sonst verwirrt wäre, wenn Mama nicht nur nach Mama, sondern auch ein bisschen nach Nivea rieche. Nach dem Kurs zog Anne Hendrik an der Hand nach draußen. „Versprich mir eins“, hatte sie gesagt. „Versprich mir, dass wir uns nicht in der Wohnung verschanzen, nicht in der ersten Woche und danach auch nicht. Auch nicht, wenn unser Baby eine Nivea-Verwirrung erleiden sollte“, sagte sie, und Hendrik wusste, wann man Annes Sätze einfach unkommentiert lassen sollte. Zumal sie noch einen Satz hinterherschob: „Und so was hier zahlt die Krankenkasse. Gibt’s das?!“

Das Schweigen bei den „Little Music Stars“ hält nun schon seit einer ganzen Weile an und wird erst gebrochen, als eine Frau mit rot gefärbten Haaren, Leggins, Wollsocken und Bernsteinkette sich mit einer Wandergitarre bewaffnet auf ein Yogakissen setzt. Sie ist die Leiterin von Little Music Stars – Klangwelten für Babys ab drei Monaten – und beginnt nun auf ihrer Gitarre ein paar einfache Akkorde anzustimmen und dabei irgendwie besonnen zu summen.

Anne schaut auf ihre Finger, die ihr plötzlich fremd vorkommen. Früher, als sie noch als Landschaftsgärtnerin im Stadtpark arbeitete, sahen sie nach Anpacken aus. Immer ein bisschen Dreck unter den Nägeln, Finger so stark wie Äste. Ihr Freund Hendrik hatte, als sie sich kennenlernten, mal gesagt, Anne sehe immer aus, als wäre sie rund um die Uhr bereit, sich ein Paar Gummistiefel anzuziehen und in den Stall zu marschieren, um dort beim Kalben mit anzupacken oder an die vorderste Front, um mit Sandsäcken einen Damm zu bauen.

Daran muss Anne jetzt denken, als die Wandergitarre das erste Mitsinglied anstimmt und ihre Unkrauthände dazu zwingt, zu klatschen. „Wozu sind die Hände da, Hände da, Hände da? Die Hände sind zum Klatschen da, dazu sind sie da.“ Die anderen Mamas rechts neben ihr steigen mit Verve ein, nach links zu Clementine mag Anne nicht mehr gucken. Sie klatscht einfach so mit und fühlt sich dabei wie der Aufziehhase aus der Duracell-Werbung, der eingeschaltet wurde und mit dem Klatschen erst aufhören würde, wenn die Batterie alle ist. Und Anne fragt sich inzwischen, was das Ganze eigentlich mit ihr macht. Also, emotional gesehen.

Sie empfand es ja schon als Zumutung, dass sie direkt nach dem Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft aus den Beeten im Stadtpark ins Büro verfrachtet wurde, und verstand bis zum letzten Tag vor dem Mutterschutz nicht, was sie mit diesen Dateien und Ordnern eigentlich machen sollte. Der Krieg gegen das Unkraut war ihr lieber. Er war klarer. Raus und weg.

„Wozu sind die Hände da, Hände da Hände da? Die Hände sind zum Winken da, dazu sind sie da.“ Anne winkt und versucht, mit Paul Kontakt aufzunehmen, aber der ist mit seiner Schnullerkette maximal beschäftigt.

Mamas, die ins Leere winken, und Anne weiß nicht mehr, wie sie sitzen soll, und das nach gerade mal zehn Minuten. Die Frau rechts neben ihr, die mit ihren blonden Locken ein bisschen wie ein Engel aussieht, ist anscheinend im Schneidersitz auf die Welt gekommen. Wie ein Buddha sitzt sie da. Ein Buddha mit Stillbrüsten. Anne konnte schon immer schlecht lange sitzen. Sie erträgt die Welt besser, wenn sie in Bewegung ist. Selbst langsam zu gehen, fällt ihr schwer. Hendrik sagt immer: „ Auch wenn du versuchst zu schlendern, sieht es nach Marschieren aus.“

Und so war sie vor rund dreieinhalb Monaten dann auch ins Krankenhaus marschiert, als die Wehen einsetzten. Sie hatte darauf bestanden, die eineinhalb Kilometer zu laufen. Hendrik wusste, dass es zwecklos war, Anne davon abzuhalten. Und so liefen sie gemeinsam ins Krankenhaus, hoch auf die Entbindungsstation – und nur acht Stunden später mit ihrem Sohn Paul im Kinderwagen wieder zurück. Alles lief so, wie Anne es sich vorgestellt hatte. Der Geburt hatte sie entgegengesehen wie einem Naturereignis. Wind und Wetter, Kämpfen, Zähne zusammenbeißen, Blut, Schweiß, Aufstehen, Weitermachen. Naturereignisse kann sie.

Auf die Naturereignisse, die danach folgten, war sie weniger gut vorbereitet. Zum Beispiel hatten Babys in Annes Vorstellung grundsätzlich irgendwie mehr Fähigkeiten gehabt oder weniger, das weiß sie manchmal nicht. Aber auf jeden Fall entweder so viel mehr, dass man deutlich mehr gefordert ist oder so viel weniger, dass man auch mal seine Ruhe hat. Aber dieser bizarre Zustand aus so viel Zeit wie noch nie, die man jedoch absolut nicht nutzen kann, das hatte sie so nicht eingeplant.

Vor allen Dingen hatte Anne sich nicht vorstellen können, dass sie sich trotz ihres speckigen Pauls manchmal verdammt allein fühlen würde. Jedenfalls hat sie sich neulich tatsächlich gefreut, als ihre Mutter anrief. Und das hätte sie eigentlich für undenkbar gehalten. Besonders nach diesem albernen Putzbesuch neulich. Da war ihre Mutter kurz nach Pauls Geburt einmal aus Stuttgart zu ihnen nach Hamburg gekommen, um zu helfen, was aus ihrer Sicht darin bestand, mit einem Handstaubsauger die Wohnung Zentimeter für Zentimeter zu bearbeiten. Hendrik und Anne fiel es schwer, zu sagen, dass sie das nicht unbedingt mit helfen gemeint hatten. Sondern eher so ein allumfassendes Mitdenken. Milch fehlt = Milch holen, Kind hat vielleicht Bauchschmerzen = in der Apotheke um Rat fragen, Eltern sind übermüdet = das Baby in den Kinderwagen packen und eine Runde drehen. So was halt.

Hendrik wies dann irgendwann höflich darauf hin, dass der Staub auf dem obersten Regal in der Abstellkammer vor der Geburt nicht ihr drängendstes Problem gewesen sei und nach der Geburt eben auch nicht. Aber Hendrik hatte nicht bedacht, dass Annes Mutter keine Frau für zwischen den Zeilen war. Also übernahm Anne und sagte ihrer Mutter nach eineinhalb Tagen, sie möge ihren Handstaubsauger doch einpacken und sich anders sinnvoll einbringen. Nach einem weiteren Tag sagte sie ihrer Mutter, dass sie auch alles weitere einpacken könne. Anne bedankte sich umfänglich für die Hilfe. So sauber – und jetzt endlich auch mal unter dem Kleiderschrank – sei es in ihrer Wohnung noch nie gewesen.

Seitdem sind die Tage sehr langsam vergangen und doch verflogen. Hendrik kommt meist erst abends nach Hause und ihre Freundinnen arbeiten tagsüber. Außerdem, und das merkt sie jetzt doch sehr, sind es eben auch nie echte Frauenfreundschaften gewesen. Also nicht solche, von denen sie glaubt, dass andere Frauen sie haben. So mit endlosen Telefonaten und Weißweinschorle trinken und Probleme wälzen und Geheimnisse austauschen. Anne hat es vorher nie gefehlt, weil sie am Ende solcher Dauerkonversationen nie so richtig wusste, was und warum man sich das alles stundenlang erzählen sollte. Vieles findet sie einfach nicht der Rede wert. Aber neulich, als gegen 15 Uhr der Paketbote klingelte, und sie merkte, dass ihr „Hallo!“ ihr erstes Wort des Tages war und ihre belegte Stimme sich fremd anhörte, fand auch sie, dass es Zeit war, etwas zu tun. Also setzte sie sich vor den Computer und gab ein: Kurse für Babys ab drei Monaten.

Sie fand: PEKiP, Pikler, Pampersgymnastik, Babyschwimmen, Babymassage, Baby-Yoga, Tanzen mit der Babytrage, Mother-Father-Child-Workout und Musikgarten für Babys. Sie dachte nicht lange nach und entschied sich für den Musikgarten Little Music Stars, für Babys ab drei Monaten, vor allen Dingen weil sie das Wort Garten an den Stadtpark erinnerte, obwohl sie nicht wusste, was der Garten mit Babymusik zu tun haben sollte. Ob man da Lieder über Bäume singt?

Egal. 10.30 Uhr am Donnerstag, Entfernung 800 Meter. Musikgarten, auf geht’s!

Anne winkt immer noch, als sie merkt, dass alle anderen Mamas schon „klopfen“. „… Die Hände sind zum Klopfen da, dazu sind sie da.“ Zu Anfang des Kurses hatte die Wandergitarre gesagt, dass sie extra eine Ausbildung als Sängerin für Kinder gemacht habe – sie sollten sich deshalb nicht wundern, dass sie „etwas höher“ singen würde. Babys würden bestimmte Frequenzen einfach besser hören. „Etwas höher“ findet Anne einigermaßen untertrieben, es klingt wie ein durchdringendes Piepen im Ohr und die Vermarktung mit der Spezialausbildung so absurd, dass sie auch irgendwie Respekt verdient. Während der nächsten Runden, in denen die Mütter ihre Babys, die nicht kitzelig sind, kitzeln und patschen sollen – auf den Boden natürlich – fällt Annes Blick auf die Wand, wo ein Flyer für Hamburgs erstes Baby-Spa hängt, das offensichtlich gerade hier um die Ecke in Hamburg-Eppendorf eröffnet hat. Da konnte man seine Babys floaten lassen, stand da. Das würde 30 Minuten dauern und 20 Euro kosten. Anne fragt sich, ob das vielleicht eine bessere Alternative gewesen wäre, hat aber keine Ahnung, was floaten eigentlich sein soll. Sie ist sich zwar sehr sicher, dass es hier in der Runde jemanden geben würde, der ihr das sagen könnte, aber jetzt gerade patschen ja alle und man musste schließlich auch nicht alles wissen.

In den nächsten 30 Minuten folgen Lieder, bei denen die Mamas herzlich dazu eingeladen sind, mit ihren Babys durch den Raum zu tanzen und einfach mal zu spüren, wie ihre Babys auf die Klänge reagieren. Also wandelt Anne durch den Raum und ist dabei vor allen Dingen darauf bedacht, dass es so leicht aussieht wie bei den anderen, die im Schnitt mit drei bis vier Kilogramm weniger durch die Gegend tanzen müssen. Anne spürt, wie sich ein Schweißtropfen löst und ihr die Stirn herunterrollt. Sie hatte sich den Musikgarten irgendwie passiver vorgestellt.

Und so ist sie froh, als alle Mamas endlich wieder im Sitzkreis Platz nehmen dürfen. Es folgt – so kündigt es die Wandergitarre vollmundig an – das Finale. „Jetzt bekommt jedes Baby seinen ganz persönlichen Ton“, sagt sie und beginnt sogleich, mit einer Auswahl Orff’scher Klangstäbe von Baby zu Baby zu wandern, einen Ton anzuschlagen, den sie in einer Frequenz mitsummt, die normalerweise dazu genutzt wird, Mücken zu verjagen.

Nachdem Max, Leo, Anton und auch Paul ihren Ton regungslos in Empfang genommen haben, bekommt noch die Tochter von Clementine, die kleine Elisabeth, ihren Ton. Anne schielt jetzt doch mal rüber und fragt sich dann, ob es wirklich sein kann, dass ein Baby 45 Minuten lang keinen Mucks von sich gibt? Und ob Clementine ihnen vielleicht eine Babyborn-Puppe untergejubelt hat, die nur Wasser in den Windeln hat, als Elisabeth aufs Orff’sche G tatsächlich mit einem amtlichen Furz reagiert. Clementine kichert viel zu schrill und hält sich die Hand vor den Mund. „Was bist du denn heute für ein kleiner Pupsi?“ Anne verdreht die Augen. Alles irre. Sie packt ihre Sachen, verstaut ihr Michelin-Männchen in den Kinderwagen und geht.

Nach ein paar Metern fährt der Schneidersitz-Engel aus dem Sitzkreis dann plötzlich mit ihrem Kinderwagen neben ihr und stellt sich als Vera vor. „Die Stimme hält ja kein Mensch aus“, sagt sie dann. „Den Rest eigentlich auch nicht“, erwidert Anne, und Vera krümmt sich vor Lachen. Und dann fängt Anne einfach an zu reden. Über die Tage mit Paul, über all die Kleinigkeiten, die eigentlich nicht der Rede wert sind, aber im Moment eben schon. Anne erfährt, dass auch der Engel nicht immer auf Wolke sieben ist und neulich tatsächlich mal in diesem Baby-Spa war und was mit Floaten gemeint ist: sein Baby mit einem Schwimmring um den Hals in eine Badewanne zu legen.

Anne und Vera verlängern ihre gemeinsame Strecke immer weiter, drehen noch einen Schlenker und noch einen, und als sie schon in Nachbarstadtteil angekommen sind, steht plötzlich Clementine neben ihnen an der Ampel. Vera räuspert sich: „Haben Sie vorhin eigentlich ernsthaft Pupsi zu Ihrem Kind gesagt?“, fragt sie und zwinkert kaum wahrnehmbar zu Anne rüber. Es folgt eine sehr lange Rotphase. Und dann wird es Grün. Anne lächelt. Hatte sie ja gleich gesagt, ein Engel.

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