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Nacht auf Dienstag, 03. April 2012

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Die Brücke spannte sich fast endlos weit über grässliches, unheilvolles Nichts. Es war ihm egal, wohin oder worüber die Brücke führte. Vollkommen egal. Das einzige, was ihn interessierte, war die Person, die sich langsam, aber stetig, darüber bewegte. Er wollte sie sehen. Ihr Gesicht sehen. Unbedingt.

Er folgte ihr.

Dreh dich!

Bitte.

Sie drehte sich nicht um. Er lief ihr hinterher, setzte einen Fuß vor den anderen. Eilte weiter. Sein Wunsch, sie zu berühren - nicht grob, sondern vorsichtig nur am Saum zupfend, damit sie anhielt und ihn eines Blickes würdigte - wuchs ins Unermessliche. Doch hier lief etwas schrecklich schief. Er konnte sie nicht berühren. Seine Arme waren zu kurz. Er kam nicht voran – und sie entfernte sich weiter. Wenn er jetzt nichts tat, würde sie einfach entschwinden. Tim sammelte seine Kräfte und überwand sich. Er rief, sie solle stehen bleiben.

Sie musste ihn doch gehört haben! Er rief, nein er schrie, bis ihm der Hals brannte.

Für einen Moment hielt sie inne.

Bitte, dreh dich um!

Dann setzte sie wieder einen Fuß vor den anderen. Als sei gar nichts echt. Nicht sie, nicht er. Nicht die Brücke, nichts.

Wut breitete sich in ihm aus. Er wollte sie an der Schulter packen. Sie dazu bringen, sich ihm zu zeigen. Doch der Abstand zwischen ihnen wurde immer größer. Das war doch nicht möglich! Tim sah sich verwirrt nach hinten um und stellte fest, dass er keinen Meter zurückgelegt hatte.

Bitte. Dreh dich um! Zeig nur einmal dein Gesicht. Bitte.

Als sie nur noch ein winziger Punkt am Horizont war, liefen ihm Tränen übers Gesicht. Sie hatte ihn erneut verlassen. Die kalte Klaue ergriff sein Herz und drückte zu.

„Tim!“

Das Licht erhellte schlagartig den Raum. Tim schrak auf.

„Was ist? Dein Gesicht ist ja ganz nass. Du hast geschrien!“

Tim kniff die kurzsichtigen Augen zusammen, um die Digitalziffern seines Radioweckers abzulesen. Es war kurz nach vier. Sein Onkel legte ihm besorgt die Hand auf die Schulter. Tim zuckte hilflos mit den Schultern. Mit jeder Sekunde wurden die Traumbilder von seiner schwindenden Erinnerung zerhackt wie Nebelschwaden in einem Ventilator. Er konnte seinem Onkel nicht mehr erklären, was ihn so aufgewühlt hatte. Er wusste nur eins: Die vermaledeiten Gespenster waren zurück.

Es gelang ihm, seinen Onkel zu beruhigen, das Licht auszuschalten und sich wieder hinzulegen. Doch die kindliche Angst, in einem Bett liegen zu müssen, unter dem lauter Monster wohnen, hielt ihn ab, wieder einzuschlafen. Eine Angst, bei der die Erwachsenen dem Kind auf den Kopf tätscheln und tröstend sagen: „Dir passiert schon nichts, da ist nichts.“

Trotzdem beruhigte das Leugnen überhaupt nicht. Denn auch wenn das Monster unter dem Bett von keinem anderem als dem Kind gesehen werden konnte, war die Angst echt. Tim versuchte, seine Angst mit seiner Ratio zu bezwingen. Wenn er sie klassifizierte, ihr einen Namen gab und ihre Ursache verstand, würde sie weichen. Er zog die Beine dicht an seinen Körper und erinnerte sich: Er war vier und etwas über einen Meter groß. Er konnte den Erwachsenen nur auf den Hintern schauen. Und davon gab es so unglaublich viele im überfüllten Kaufhaus. Er hielt sich dicht an die Hosenbeine, die er für die seiner Mutter hielt. Bei den Kleiderständern der Damenabteilung entdeckte er, dass er einer Fremden hinterhergelaufen war. Sabine Fuchs war nirgends zu sehen. Tim überfiel Angst: Die Angst, nie wieder nach Hause finden zu können.

Aber er war nicht mehr vier! Es würde ihn kein Fremder an der Kasse ausrufen lassen, damit er abgeholt werden konnte. Tim rollte sich aus dem Bett, riss das Fenster auf und atmete die kalte Nachtluft mit tiefen Zügen ein. Die Straßen waren noch nicht trocken. Überall spiegelte sich das Licht der Straßenbeleuchtung in den schwarzen Pfützen und Lachen am Bordsteinrand. Er erinnerte sich nicht mehr an seinen Traum. Aber an das Gefühl, verlassen zu sein, erinnerte er sich genau.


***


Er brauchte nichts zu sagen, Franziska wusste auch so, was er wollte – und sie hatte nicht die geringste Lust dazu. Ihr Gesicht brannte noch immer. Er war die halbe Nacht nicht heimgekommen und legte sich jetzt nackt neben sie. Hatte sie geweckt, in dem er ihr sein erigiertes Glied an ihr Gesäß drückte.

„Lass mich schlafen“, knurrte sie leise.

„Zauselchen, es tut mir Leid. Sei wieder gut.“

„Lass mich in Ruhe!“

„Ich will mich nur entschuldigen. Komm schon, sei nicht so!“

„Ich muss morgen zur Arbeit. Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“

„Für Liebe ist es nie zu spät!“

Er rückte noch näher und machte sich an ihrer Pyjamahose zu schaffen. Mit einem Schlag war Franziska hellwach. Sie blieb stocksteif liegen.

„Franziskachen…“ säuselte er und knabberte an ihrem Ohrläppchen. Voller Widerwillen spürte Franziska, dass es sie erregte. Was würde er tun, wenn sie jetzt standhaft blieb? Sie hatte noch einige Körperteile, die noch nicht schmerzten. Aber vielleicht wollte er sich wirklich nur entschuldigen, damit alles wieder so werden konnte wie früher? Und – hatte sie nicht auch ihren Teil dazu beigetragen, dass er so ausrastete? Wenn sie seine Entschuldigung nicht annahm, machte sie das alles vielleicht noch viel schlimmer? Noch bevor sie ihren Gedanken zu Ende dachte, spürte sie ihn fest in sich. Sie schnappte nach Luft und ließ ihn gewähren. Als er mit einem langen Grunzlaut kam, fühlte sie sich dreckig und missbraucht.


Mutterherz Teil 2

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