Читать книгу Das Herz unter der Robe - Julika Szabó - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеUm 7.35 Uhr schlägt das Faxgerät Alarm.
Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit befinde ich mich bereits seit einer Dreiviertelstunde im Büro, um mich durch die zahlreichen aufgelaufenen Aktenstapel, die mir schon seit Wochen den ungehinderten Zugang zu meinem Schreibtisch verwehren, durchzukämpfen.
Bevor ich dem Fax zu Hilfe eile, gönne ich mir erst einmal einen doppelten Espresso Camorra No. 3, um mich bei Arbeitslaune zu halten. In Gedanken proste ich Giuseppe, unserem italienischen Lieblingsmandanten No. 3, und seinem hervorragenden Bardolino zu, der einen auch bei übermäßigem Genuss am nächsten Tage klar denken, flüssig diktieren und gut aussehen lässt. Ein kurzer Blick in den rosenumrankten Schneewittchen-Spiegel neben der Kaffeemaschine bestätigt dies.
Sodann lege ich einen kurzen Sprint zum Fax ein. Wer besitzt denn wohl die Unverfrorenheit, um diese Uhrzeit schon seitenweise Faxe zu senden, obwohl Rechtsanwälte und auch deren Angestellte bekanntermaßen Langschläfer sind? So etwas tun nur Kollegen, die etwas zu verbergen haben oder einem wutentbrannten sofortigen Rückruf entgehen wollen.
Ja, was müssen meine kurzsichtigen Augen da lesen:
EILT, BITTE SOFORT VORLEGEN!
Der Tag fängt ja heiter an.
ANTRAG AUF ERLASS EINER EINSTWEILIGEN AN-
ORDNUNG
In Sachen Müller-Voigtländer ./. dito
Und noch ein ANTRAG AUF ERLASS EINER EINST-
WEILIGEN SORGERECHTSREGELUNG.
Zur Krönung dann noch ein ANTRAG AUF HAUS-
RATSAUSEINANDERSETZUNG.
Meine Stimmung sinkt auf den Nullpunkt.
Was muss ich da lesen?
Mrs. Müller-Voigtländer verlangt 2.000,– Euro Unterhalt. Und das alleinige Sorgerecht für die Hunde. Und alle Möbel. Und das Wohnmobil. Und das alles auf einmal. Das geht nun wirklich nicht. Wer erdreistet sich denn da, jetzt schon derart scharf loszuschießen? Meines Wissens wurden bislang nicht auch nur ansatzweise irgendwelche Forderungen gestellt. Und ich habe Müller-Voigtländer mit feuchtem Händedruck versichert, dass keine Eile geboten sei, etwas zu veranlassen.
Im Vorbeigehen überfliege ich den Schriftsatz um herauszufinden, wer dieses Pamphlet verfasst hat. Dem Briefkopf nach stammt das Machwerk aus einer der Bochumer Großkanzleien. Dr. Hasseberger, Winkler, Dr. Bentheim & Collegen. Die Kollegen ganz führnehm mit C geschrieben, um das gemeine Volk abzuschrecken. Eine Unterschrift ist nicht vorhanden, lediglich ein unleserliches Gekritzel. Der üblicherweise in Familiensachen tätige Dr. Winkler ist eigentlich ein ganz vernünftiger Anwalt. Eher abwartend und ruhig. Der nicht sofort ohne nachzudenken den ganzen Mist, den einem die Mandanten tagein, tagaus erzählen, in das Diktiergerät blubbert. Eher unwahrscheinlich, dass diese Flut von Anträgen von ihm verfasst worden ist.
Doch halt, ganz unten auf dem ellenlangen Briefkopf, da irritiert ein neuer Name meinen linken Augenwinkel.
BERND T. SCHULTE-OVERBECK
Tätigkeitsschwerpunkte:
Trennungen, Scheidungen, Eheverträge
Na prima, für jeden etwas dabei.
Und als ich die den Schriftsatz unterzeichnende Paraphe nochmals genauer unter der Lupe meines Schweizer-Allround-Frau-muss-eben-gegen-alles-gewappnet-sein-Messers betrachte, da kann ich den Namen fast erahnen.
SCHULTE-HASSENICHGESEHN. So lautet der Name, den man sich merken muss. Zerstörer eines geruhsamen Mittwochnachmittags, der intakten Ehe der Müller-Voigtländers und nicht zuletzt des Sexuallebens der Golden Retriever Max und Emma, die nunmehr als Spielball der Anwälte zwischen Frauchen und Herrchen jongliert werden würden.
Bernd T. Schulte-Overbeck. Genüsslich lasse ich den Namen zwischen meinen Lippen zergehen. Meine Vorstellungen von dem werten Kollegen werden von Minute zu Minute präziser. Groß, breit, wichtig. Das allein sind Attribute eines BERND T. SCHULTE-OVERBECKS. Wofür das T. wohl steht? Bestimmt für Total wichtig, Total …
Ich ziehe wieder mein Organisationshandbuch zu Rate. Tipp 26 hilft sofort.
Lassen Sie sich durch nichts und niemanden den Tag versauen. Akten müssen reifen wie ein guter Camembert. Kein Blatt Papier ist so wichtig, als dass es nicht erst einmal zwei Tage liegenbleiben kann.
Ich entscheide, dass dies das ganze Papier betrifft, was heute durch das Faxgerät gelaufen kam und wähle den langen Dienstweg.
Just in dem Moment, als ich die Faxe in Sachen Müller-Voigtländer gegen Müller-Voigtländer in den normalen Posteingangskorb werfe, wo sie, wenn unsere Auszubildende am frühen Nachmittag aus der Schule kommt, erst einmal geruhsam gestempelt, den Akten zugeordnet und dann gegen 15.00 Uhr vorgelegt werden. Entspannt widme ich mich erst einmal dem Tagesgeschäft und surfe ein bisschen im Internet. Ich brauche dringend ein paar neue Sandalen, der Sommer naht. Gegen 10.00 Uhr, als ich mir gerade eine wohlverdiente Kaffeepause gönnen will, klingelt das rote Telefon. Nicht das grüne, nicht das blaue, sondern das rote Telefon läutet Sturm. Und schon bevor ich den Hörer in die Hand nehme, kann ich die Stimmung desjenigen spüren, der mich schon um diese Uhrzeit behelligen muss. Salzig, muffig, unerbittlich.
»Herr Müller-Voigtländer! Er sagt, es sei sehr dringend!«, flötet mir Anita Burgwächter entgegen.
Genau genommen heißt sie nur Anita Burg. Ihren Namenszusatz hat sie sich erst nach mehrjähriger harter Arbeit bei uns verdient. Anita ist nämlich unser aller Stolz, wenn es darum geht, unliebsame Vertreter und zeit- und geldfressende Kundschaft hart und unerbittlich abzuwimmeln.
An ihr kommt niemand vorbei, der sich a) nicht ausweisen kann, b) keinen Termin hat und c) keinen Vorschuss bei ihr hinterlässt. Dass unser sauer verdientes Geld in der Anfangszeit in manchen Monaten vor allem Anita und ihrer Vorliebe für Goldkettchen, Goldringchen und Goldspängchen zugute kam, sehen wir ihr großzügig nach. Und wenn Anita feststellt, dass eine Sache dringend ist, dann ist sie es. Punkt.
Da ich befürchte, dass eine Zeitverschiebung das Feuer nur schüren würde, nehme ich das Telefonat sofort entgegen.
»Frau W a l t e r. Ich habe Ihnen vertraut. Und nun das. Wie konnte das passieren?«
»Wie konnte was passieren?«
»Frau W a l t e r. Sie sind schuld. Sie haben mir gesagt, ich könne erst mal in Ruhe nach Hause gehen, abwarten und Tee trinken. Und dann komme ich nach Hause und was finde ich vor?«
»Ja, was?«
»Meine Frau hat mir einen Brief geschrieben, dass sie wieder einziehen will.«
»Ja, dann ist doch alles wieder gut«, versuche ich ihn zu beschwichtigen.
»Gar nichts ist gut: Ich soll ausziehen. Und den Brief hat sie offen an die Haustür geklebt. Sodass alle Nachbarn und der Briefträger ihn lesen konnten. Und dann steht auch noch der Gerichtsvollzieher vor der Tür und stellt mir diese Berge von Papier zu. Ich habe Ihnen alles schon mal aufs Fax gelegt. Und dann muss ich Sie sofort sprechen. Hören Sie? Sofort. Sofort!«
Das ist das Stichwort für meine dreiminütige Morgenmeditation. Unverzüglich falle ich in einen tranceartigen Zustand, ich schwebe auf einer bunten Blumenwiese, während oben am strahlend blauen Sommerhimmel ein paar Schwalben vorbeiziehen und mir zusäuseln. Ich bin ganz ruhig und entspannt, ich bin ganz ruhig und entspannt, ich bin ganz ruhig und entspannt …
»Frau Walter, hören Sie mir überhaupt noch zu?«
Der Telefonhörer springt mir fast ins Gesicht, während auf meiner Blumenwiese mächtige Raupenbagger heranrollen, sodass ich diese fluchtartig verlassen muss. Ich murmele mein persönliches Mantra und bin ganz ruhig und entspannt. Wahrhaftige innerliche Ruhe lässt sich auch per Telefon übertragen. Ich hoffe inständig, dass es klappt.
»Nun beruhigen Sie sich erst einmal, Herr Müller-Voigtländer«, setze ich betont langsam an. »Ich muss heute Vormittag noch in einer Eilsache zu Gericht …«
Eilsache hört sich immer gut an und gibt ihm die Gelegenheit, erst einmal seinen Adrenalinausstoß zu regulieren.
»Aber heute Nachmittag, Herr Müller-Voigtländer, mein heiliger Mittwochnachmittag, werde ich alle anderen Termine absagen, Friseur, Kosmetikerin, Preview der neuen Herbstschuhkollektion, und stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung. Dann schauen wir uns die ganze Sache erst einmal in Ruhe an. Alles was ich bisher von dem Rechtsanwalt Ihrer Frau gesehen habe, scheint doch nichts als heiße Luft zu sein.«
»Heiße Luft? Sie bekommt 2.000,– Euro dafür, dass sie mit einem Bauarbeiter vögelt? Und den großen Teakholztisch? Und Max und Emma? Wenn das unser Rechtsstaat ist, dann sehe ich schwarz für die Zukunft.«
Mühsam erläutere ich Müller-Voigtländer, dass es sich bei dem Geschreibsel des Kollegen lediglich um einen Antrag handelt, zu dem nun eine Stellungnahme abgegeben werden kann und über den das Gericht erst nach reiflicher Überlegung und Anhörung beider Parteien entscheiden wird.
Nachdem er mir noch etwa zwanzig Minuten die Ohren vollheult, erklärt er sich jedoch schlussendlich bereit, bis heute Nachmittag abzuwarten. Das gibt mir ein wenig Zeit, diesen ganzen Papierberg zu sichten. Doch zuerst muss ich noch auf meiner Blumenwiese nachsehen, welchen Schaden die Raupenbagger verursacht haben.
Nach Beendigung meiner Morgenmeditation bin ich wieder geerdet und lege frohen Mutes los, indem ich mich auf den Weg zu einem frischen Tässchen Espresso mache. Während die sizilianische Morgenröte, Spezialmischung No. 5 auf Knopfdruck nur für mich aufgebrüht wird, bitte ich Anita, derweil die Papierberge auf meinem Schreibtisch vorzusortieren. Dann noch mal eben die E-Mails checken. Oh prima, bei checkers gibt es schon einen Pre-Sale. Und einen Rabattgutschein schicken die mir auch als Premium-Kundin. Praktisch. Schnell noch mal nachsehen, ob da was für mich dabei ist. Nachdem ich knappe zwei Stunden damit verbringe, mir ein komplett neues Outfit übers Internet zusammenzustellen, wird es unausweichlich, sich den Eheproblemen der Müller-Voigtländers zu stellen. Schließlich kosten diese traumhaften Stiefel, die ich unbedingt brauche, sage und schreibe 225,– Euro. Dafür muss eine Junganwältin verdammt lange diktieren.
Also am besten ist es, sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen, dann läuft der Rest von ganz alleine.
Es ist ganz einfach.
Ich muss sie nur anfassen.
Vorsichtig greife ich nach dem ersten Papierstapel links auf dem Bügelbrett. Hinter mir befinden sich noch insgesamt dreiundzwanzig weitere Stapel auf dem notfallmäßig aufgebauten Campingtisch und die Festzeltgarnitur von unserer letzten feuchtfröhlichen Kanzleifete.
Mist, warum hat die noch keiner zurückgebracht? Die Party war im Oktober und jetzt ist Mai, das macht bei überschlägig 10,– Euro Miete pro Tag bis heute rund 2.400,– Euro. Dafür bekommt man eine Sitzgruppe aus Teakholz mit integriertem 1000-Liter-Fass Pils. Oder 10 Paar neue Stiefel.
Kein Wunder, dass wir niemals wirklich Geld übrighaben, wenn sich keiner um die Finanzen und die Organisation kümmert. Ich nehme mir fest vor, die Bierzeltgarnitur morgen früh zum Getränkehandel zurückzubringen. Doch jetzt muss ich mich dringend um diesen Wust von Anträgen kümmern.
Stundenlang versinke ich in Arbeit, bis Müller-Voigtländer sich ankündigt. Heute wieder Ton in Ton, diesmal changiert die Farbe seines Hemdes ein wenig zu sehr in Richtung cyclam.
Den Rest des Nachmittags, genauer gesagt 2½ (in Worten zweieinhalb) Stunden, sitzt Müller-Voigtländer dann auf meinem Schoß und möchte bemuttert werden, alldieweil ich versuche, die Schriftsätze mit ihm durchzuarbeiten.
Dreiundzwanzig verschiedene Anträge. Und das Schwierigste dabei ist, immer das souveräne Lächeln zu behalten, obwohl ich bereits beim Lesen von Antrag Nummer 5 zur teilweisen und vorläufigen Regelung der Nutzung des Wohnmobils mit dem amtl. Kennzeichen BO-MV 7777 in den Herbstferien vollständig den Überblick verloren habe. Eines ist jedoch gewiss, die Müller-Voigtländers erfüllen die drei Ks, die besten Voraussetzungen für eine lukrative und dauerhafte Mandantenbindung: Krach, Krempel und Kohle. Also genug Konfliktpotenzial, um uns für die nächsten Monate und vielleicht Jahre ein regelmäßiges Einkommen zu sichern. Nur leider hat dieser idiotische Kollege, der diese Antragsflut verzapft hat, die Spielregeln im Club noch nicht kapiert. Immer erst einmal nett und friedlich sein und in jedem Fall die Contenance bewahren. Und erst dann, wenn die Gegenseite zickt, dann dürfen langsam, eine nach der anderen, die Waffen herausgeholt werden. So wie der Kollege bereits auf der zweiten Seite Schimpfsalven auf Herrn Müller-Voigtländer abfeuert, wird eine schöne, friedfertige und vor allem lukrative Einigung kaum möglich sein. Der Fall strömt bereits jetzt den Muff von jahrelang durch die Gegend geschobenen Altakten und den Duft des miserablen Kaffees aus der Kantine des Oberlandesgerichts aus, wo man sich nach dreijährigem Rechtsstreit dann doch frustriert und hundsmiserabel vergleichen wird.
Wahrscheinlich ist dieser neue Kollege noch so ein Milchgesicht, frisch aus dem Referendariat und schon auf die Menschheit losgelassen. Am besten, ich schaue mir sein Konterfei mal auf der Homepage der Kollegen an. Wie lautete noch die Domain? www.Ha-Wi-Be-Co.de. Hört sich eigentlich eher nach einer Wurstfabrik an.
Under Construction.
Wahrscheinlich wird die Homepage gerade einer längst fälligen Inspektion unterzogen. Hätte ich den Kollegen ohnehin angeraten, so müde und abgearbeitet, wie sie in ihren Beerdigungsanzügen aussahen.
Egal, für heute muss Schluss sein. Müde und erschlagen fahre ich meinen Rechner herunter, fahre nach Hause und gehe direkt in meine Badewanne, ich gehe nicht über Los und ziehe auch keine 2.000,– Euro ein. Ich hoffe nur, dass dieser Idiot, der mich meines kostbaren Schönheitsschlafes beraubt hat, damit auf die Nase fällt.
Um exakt 23.30 Uhr tauche ich unter. Nicht für immer, aber doch so lange, bis der vorangegangene Nachmittag und Abend in einem lauten Blubbern ertrinken.
Mit einem wohlverdienten Glas Rotwein und meinem rosa Prinzessinnen-Kuschelkissen ziehe ich mich zurück und schlafe den Schlaf der wahrhaftig Gerechten. Dieser blöde Anwalt wird schon sehen, dass er damit nicht durchkommt.