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Die Pröpstin Kunigunde versetzte das ganze Kapitel darüber in Aufregung, daß die Domina mit den Konventualinnen nicht zur Bischofsweihe wollte. Die älteren Damen waren empört, daß das Stift bei der Feier nicht mit aller Pracht und Würde vertreten sein sollte, die jüngeren jammerten und klagten, daß sie von den glänzenden Feierlichkeiten fern bleiben sollten, und die Domina bekam in diesen Tagen kein freundliches Gesicht zu sehen, mit einer einzigen Ausnahme.

Diese Ausnahme machte die Kanonissin, die schöne, lebensfrohe Gräfin Adelheid von Hallermund, die das Vertrauen der Äbtissin, wenn auch nicht einen unbedingten Einfluß auf sie besaß. Sie war dem ritterlichen Schirmvogte des Stiftes sehr gewogen und stimmte der Domina vollkommen zu, daß man dem edlen Grafen die Genugtuung schuldig wäre, die Einladung des Bischofs abzulehnen. Nun war Jutta vollends unwiderruflich fest entschlossen und ließ am zweiten Abend dem Stiftshauptmann den Befehl zugehen, mit der Überbringung ihrer Absage an den Bischof nicht länger zu zögern.

Da mußte er gehorchen, und als am andern Tage die Sonne über die halbe Mittagshöhe hinaus war, befand sich Herr Willekin von Herrkestorf auf dem Wege nach Halberstadt. Neben ihm ritt der Stiftsschreiber Florencius, der um die Gunst gebeten hatte, seinen Vorgesetzten statt eines reisigen Knechtes begleiten zu dürfen.

Dieser Florencius, ein frischer, klug dreinschauender Gesell aus einem alten, aber herabgekommenen Adelsgeschlechte stammend, hatte geistlich werden sollen, es aber vor lauter losen Streichen nicht einmal bis zu den untersten Weihen gebracht und war, der Studien und Exerzitien überdrüssig, aus der Klosterschule zu Sankt Gallen heimlich entwichen und fahrender Schüler geworden. Als solcher war er vor mehreren Jahren nach Quedlinburg gekommen und hatte unter anderen auch den Stiftshauptmann mit der Bitte um einen Zehrpfennig heimgesucht. Herr Willekin, dem er seine Herkunft und seine Schicksale anvertraute, hatte sich von den mannigfaltigen Kenntnissen und Fähigkeiten des Fahrenden überzeugt und ihm mit Bewilligung der Äbtissin Bertradis ein Amt und eine Wohnung auf dem Schlosse angewiesen.

Stiftsschreiber hieß Florencius, damit das Ding doch einen Namen hatte, denn obwohl er in der höheren Schreibkunst außerordentlich geübt war und diese auch mit Vorliebe pflegte, so gab es doch im Stifte nicht viel zu schreiben für ihn. Er füllte aber seine müßige Zeit gern damit aus, daß er Köpfe und Anfänge von Urkunden und Briefen auf Vorrat schrieb. Eingangsworte wie z. B. „Wir Jutta, von der Gnade Gottes Äbtissin von Quedlinburg usw.“ prangten auf einer ganzen Anzahl von Pergamentblättern mit großen buntfarbig gemalten und goldverzierten Anfangsbuchstaben, von Blumenranken und vielverschlungenen Schnörkeln umgeben. Er war auch der vertraute und verschwiegene Geheimschreiber der Konventualinnen, die ihm alle wohlwollten, weil er, obschon ihm zuweilen der Schalk im Nacken saß, von guten Sitten, gefällig und bescheiden war. Der Stiftshauptmann hatte ihnen seine Abkunft verraten, die er eigentlich verschwiegen wissen und durch einen angenommenen Namen vergessen machen wollte, und so betrachteten ihn die Damen als ihnen ebenbürtig und behandelten ihn mehr wie einen adligen Junker, als wie einen Dienenden. Im übrigen machte er sich nützlich, wo und wie er konnte, als Vorleser, Sänger und Lautenist, kurz, er war der allbeliebte, unentbehrlich gewordene Spiritus familiaris des ganzen Schlosses.

Als die beiden über den Hungerplan, einen hügeligen Anger zwischen der Stadt und den sogenannten Weinbergen, hinwegritten, sagte der Stiftshauptmann, der ihn auf seine ausdrückliche Bitte du nannte: „Sieh mal, Florencius, wie auf dem Brocken der Schnee im Sonnenscheine glänzt!“

„Und hier unten im Lande sprießen fröhlich die Saaten, und Sträucher und Hecken fangen an sich zu belauben“, erwiderte der Stiftshauptmann. „Aber wir werden bald Regen bekommen.“

„Woher hast du diese Wissenschaft?“ frug Herr Willekin.

„Ei Herr, wißt Ihr denn nicht, daß sich unsere Dekanissin, Fräulein Gertrud von Meinersen, auf das Wetter versteht wie der älteste Schäfer? Sie hält sich einen Laubfrosch, für den sie im ganzen Schlossen herum Fliegen fängt und auf den sie sich mit ihren Weissagungen verläßt.“

„Trifft es denn auch ein, was sie weissagt?“

„Nicht immer“, lachte Florencius, „und dann kriegt der Laubfrosch zur Strafe, daß er gelogen hat, zwei Fliegen weniger.“

„Du lieber Gott!“ sagte Herr Willekin. „Wo hat sie denn den Laubfrosch her?“

„Wo soll sie ihn her haben! Ich habe ihn fangen müssen, als der vorige seine letzte Fliege gefressen hatte; es war eine giftige, – sagt die Scholastika.“

„Sagt die Scholastika, so! Die ist wohl die Lustigste im ganzen Kapitel?“ frug Herr Willekin.

„Das ist schwer zu sagen, Herr Stiftshauptmann“, antwortete Florencius und fuhr nach einer kurzen Überlegung fort: „Ich glaube, die Custodin und die Sangmeisterin übertreffen sie noch. Wenn die beiden ihre blonden Köpfe zusammenstecken, so läuft es in der Regel auf einen merklichen Possen hinaus, über den es ein paar Tage lang zu lachen gibt. Am liebsten hängen sie einer der beiden Ältesten, der Pröpstin und der Dekanissin, eine Schelle an.“

„Florencius!“ drohte der Stiftshauptmann, „wem hängt man Schellen an?!“

„Verzeiht, Herr!“ lachte der Jünger, „aber ich muß ja oft genug helfen; sie lassen mir keine Ruhe, und wenn Gräfin Luitgard von Stolberg nicht wäre, die immer zu schlichten und zu sühnen sucht, was die jüngeren Fräulein in ihrem Übermut gefehlt haben, so ging es manchmal arg zu.“

„Und die Domina?“

„Die Domina? nun, Herr, – Ihr wißt wohl, die freut sich, wenn die Pröpstin sich ärgert, und Gräfin Adelheid von Hallermund lacht auch lieber, als daß sie weint. Neulich haben es unsere lieben Jüngsten aber doch einmal zu toll getrieben, so daß sie es büßen mußten.“

Auf einen ermunternden Blick des Stiftshauptmann erzählte Florencius: „Wie Euch bekannt, ist die Dekanissin eine Meisterin im Sticken schwerer Wandteppiche mit Figuren aus der Geschichte der Heiligen, eine Liebhaberei von ihr, mit deren aufgezwungener Erlernung sie den jüngeren Damen manche qualvolle Stunde bereitet. Nun hatte sie kürzlich wieder einen solchen Teppich in Arbeit, auf dem die heilige Apollonia, die viel angerufene, von der Dekanissin besonders verehrte Helferin bei Zahnschmerzen, in Pflegung ihres gnadenreichen Amtes dargestellt war. Da schmiedete unser durchtriebenes Vierblatt einen mutwilligen Plan und brachte ihn, sorglich vorbereitet, zur Ausführung. Die Cameraria, Gräfin Agnes von Schrapelau, und die Scholastika, Fräulein Hedwig von Hakeborn, mußten die Dekanissin beim Fliegenfangen in einem entlegenen Teile des Schlosses möglichst lange festhalten; unterdessen schlichen sich die Kustodin und die Sangmeisterin in das Zimmer des Fräulein Gertrud von Meinersen und stickten der heiligen Apollonia mit flüchtigen, groben Stichen eine schneckenartig gewundene Haarflechte an die Schläfe, wie sie die Dekanissin selber trägt, versahen auch die Heilige mit einer so langen Nase und einem so eckigen Kinn, daß ihr Bild mit den Zügen der Dekanissin eine überraschende Ähnlichkeit erhielt. Die also Abkonterfeite erhob einen fürchterlichen Lärm über die Untat. Auch die stets nachsichtige Thesauraria stellte sich diesmal auf die Seite der Beleidigten und setzte mit dieser und der Pröpstin trotz Fürbitte der Gräfin Adelheid die Bestrafung der Schuldigen durch. Die beiden überführten Missetäterinnen Mechtild von Klettenberg und Sophia von Hohenbuch mußten am anderen Morgen auf vierundzwanzig Stunden in das dunkle Bußkämmerlein unterhalb der Krypta wandern, zu ihrem Glück beide zusammen, damit sie sich gegenseitig trösten konnten. An dem Nachmittage aber kam der Erbmarschall des Stiftes Herr Gerhard von Ditfurt zum Besuch, vermißte die beiden Blonden und erfuhr die Geschichte. Erst lachte er aus vollem Halse zum großen Verdruß der beiden alten Kat–“

„Florencius!!“

„– der beiden ehrwürdigen Fräulein Kunigunde und Gertrud, dann bat er um Gnade für die zwei Eingesperrten. Er brauchte nicht lange zu bitten; die Domina war froh, einen Anlaß zu waltender Milde zu haben. Die Kanonissin Gräfin Adelheid holte die mäßig Zerknirschten aus ihrem tiefen Verlies herauf, und nach einer Strafpredigt der gnädigen Frau, bei der das ganze Kapitel, die einen vor verbissenem Ärger, die anderen vor unterdrücktem Lachen, rot wurde, war die Sache für diesmal tot und abgetan. Soll mich nur wundern, was der nächste Schelmenstreich sein wird.“

Jetzt mußte auch Herr Willekin lachen, und der Stiftsschreiber stimmte fröhlich ein.

Unter so kurzweiligen Gesprächen ritten die beiden selbander durch die grünende Flur. Ihnen teils zur Linken, teils im Rücken dehnte sich der gewaltige, dunkelblaue Kamm des Gebirges in langer, sich immer höher hebender Linie von der weit sichtbaren Burg zu Ballenstedt bis zu dem schneebedeckten Gipfel des Brockens. Auf der Höhe des Liebfrauenberges haltend und die Rossen wendend, betrachteten sie mit Freuden das ihnen wohlbekannte, entzückende Bild.

Im Lande vor ihn wechselten fruchtbare Ackerbreiten und Wiesen, durch welche die Bode und eilende Bäche an freundlichen Dörfern und umbuschten Mühlen blinkend vorüberzogen, mit klippengekrönten Hügeln und gewölbten Bergrücken ab, auf denen einsame Warten standen zum Auslug in die Runde. Die noch unvollendeten Domtürme von Halberstadt winkten aus der Ferne herüber, während die Stadt Quedlinburg hinter Bergen versteckt lag; nur das Schloß, aus dessen innerem Leben Florencius eine so ergötzliche Schilderung zum besten gegeben hatte, ragte darüber hinaus. Dahinter aber, halbwegs vor der breiten Schlucht des Bodetales, starrte das größte von den zackigen Riffen der Teufelsmauer, die mit den Gegensteinen bei Ballenstedt beginnend sich als ein oft unterbrochener, aber immer wieder auftauchender Klippenzaun meilenweit durch das Vorland des Harzes zieht und erst beim Regenstein endet, schwarz und ungeheuerlich empor. Fern im Osten schaute Burg Gersdorf aus der Ebene herauf, südlich, den Reitern gerade gegenüber, schimmerte die Lauenburg vom Bergwalde her, und im Westen drohte des Regensteins riesenhafter Felsblock, dem zur Rechten die auf spitzem Kegel trotzende Heimburg, wo Graf Bernhard von Regenstein hauste, und zur Linken der hochgelegene Sitz des Grafen von Blankenburg sich nachbarlich anschlossen.

So umfaßte der Blick von hier aus ein beträchtliches Stück des herrlichen Harzgaues, ein mit aller Pracht wechselnder Farben und fesselnder Formen geschmücktes Gemälde, das zu den Füßen der Beschauer aufgerollt war und sich unter dem klaren Frühlingshimmel in seinem vollen Glanze zeigte. Ein leiser Wind mit kühlkräftigem Hauch strich über die freie Höhe und machte die Gräser und die Reiser der Bäume schaukeln und nicken. Über der Ferne schwebte ein matter Dunstschleier, und hoch im Blauen jubelten die Lerchen.

Nachdem die beiden wieder eine Weile nebeneinander hergeritten waren, sagte Florencius: „Herr Stiftshauptmann, wenn ich mich nicht täusche, so kriegen wir es jetzt mit der bösen Sieben zu tun. Kommt da nicht der Ritter Bock auf seinem großen Schecken angetrottet?“

„Du scheinst recht zu haben, Florencius“, erwiderte der Stiftshauptmann; „aber laß ihn doch kommen, Ritter Bock ist guten Freunden gegenüber ein höflicher Mann.“

Aus dem Waldsaume des Steinholzes, das jetzt den ruhig Dahinziehenden zur Linken lag, waren drei Reiter hervorgebrochen, von denen zwei sofort abschwenkten mit der unverkennbaren Absicht, jenen nach vorwärts wie nach rückwärts den Weg abzuschneiden, während der dritte gerade auf sie losgetrabt kam.

Dieser dritte bot eine abenteuerliche Erscheinung. Auf einem knochigen Schecken saß eine lange, hagere Gestalt in ritterlicher Wehr und Kleidung. Der Mann stak vom Scheitel bis zur Sohle im Kettenpanzer und trug darüber einen kurzen, gezattelten Waffenrock von stark verblichener gelber Farbe. Über seine eiserne Beckenhaube bogen sich von hinten her zwei flatternde Hahnenfedern, und die eisengeflochtene Helmkapuze legte sich ihm wie ein Pilgerkragen um Nacken, Wangen, Hals und Schulter, so daß kaum das Gesicht frei blieb. Die Kniekacheln liefen in spitze Eisendornen aus. Geschiente Handschuhe und unmäßig lange Sporen vervollständigten Die Rüstung. Außer Schwert und Dolch am Wehrgehänge führte er eine Lanze mit scharfer Spitze und den kleinen dreieckigen Reiterschild. Ein schmales, wettergebräuntes Gesicht mit ein paar bald unruhig umherspähender, bald zudringlich bohrender Augen, einer großen Habichtsnase und einem lang herabhängenden Schnurrbart schaute keck aus der umschließenden Helmbrünne und ließ das Alter des Mannes auf vierzig und einige Jahre schätzen.

Es war der Ritter Bock von Schlanstedt, ein Vasall des Grafen Albrecht von Regenstein und ein in der ganzen Umgegend bekannter Stoßvogel, der mit einem steten Gefolge von sechs reisigen Knechten, ausgesucht wilden Gesellen, das Land durchstreifte und überall auftauchte, wo man ihn am wenigsten vermutete. Weil dieses erlesene Fähnlein aber selten Gutes, sondern meist Schaden stiftete, wo es erschien, so hatte es den Namen ›die böse Sieben‹ erhalten.

Als er den beiden Quedlinburgern nahe genug gekommen war, um sie zu erkennen, setzte der Ritter seinen hochtrabenden Schecken in langsamere Gangart, schwenkte die Lanze und rief: „Gruß und Ehr' Euch zu Roß und zu Fuß, Herr Willekin von Herrkestorf! und Euch, wackerer Florencius!“

„Allen Dank zum Gegengruß!“ erwiderte der Stiftshauptmann. „Tut mir leid, Herr Ritter Bock von Schlanstedt, daß unseretwegen Euer braver Schecke die Sporen fühlen mußte; es war der Mühe nicht wert, ihn in Trab zu setzen.“

„Gott gibt mir ein andermal mehr Glück“, lachte der Ritter, lenkte sein Roß an Herr Willekins Seite und winkte seinen zwei Knechten, worauf auch die vier anderen aus dem Steinholz herauskamen und sich dem Zuge anschlossen.

„Habe Euch hoch im Verdacht, daß Ihr nach Halberstadt wollt und dort etwas Namhaftes zu schaffen habt“, sprach er dann im gemeinschaftlichen Weiterreiten.

„Euren Scharfsinn habe ich stets bewundert, Herr Ritter“, gab der Stiftshauptmann schelmisch zur Antwort.

„Wüßte freilich nicht, wohin dieser Weg sonst noch führte“, warf Florencius ein.

Bock zeigte geradeaus nach einem vor ihm liegenden großen Gehört und sagte: „Dort liegt ein schönes Tafelgut unserer gnädigen Frau. Sollte Euch verborgen sein, Herr Stiftsschreiber, daß sie auf dem Münchenhofe ein fürtrefflich starkes Bier brauen? ein fast lieblich Getränk an staubigen Frühlingstagen!“

„Was Ihr sagt!“ lächelte Herr Willekin.

„Wir wollten eben dorthin“, bemerkte Bock, „müssen dort futtern.“

„So! Ihr habt dort Euren Hafer liegen?“

„Stiftshafer ist der beste weit und breit“, erwiderte Bock mit ganz unschuldig ernstem Gesicht.

„Und billig!“ meinte Florencius.

Jetzt bekam der Stiftsschreiber einen jener bohrenden Blicke vom Ritter, auf die stillzuschweigen für einen nicht ganz Sattelfesten das geratenste war.

Bald entspann sich zwischen den dreien ein lebhafter Meinungsaustausch über den Streit des Grafen von Regenstein mit der Stadt Quedlinburg um die Gerichtsbarkeit und über die Anmaßung des Bischofs, auf den der Ritter übel zu sprechen war.

Bock von Schlanstedt verteidigte den in seinem Rechte Gekränkten auf das entschiedenste, denn für seinen Grafen ging er durchs Feuer. Überhaupt hing der seltsame, aus mancherlei Gegensätzen zusammengefügte Mensch an dem Regensteinschen Grafenhause mit einer grenzenlosen Hingebung. Er hatte die sechs Brüder wie auch den verstorbenen siebenten nicht nur unter seinen Augen aufwachsen sehen, sondern selber erziehen helfen, hatte sie alle auf Armen getragen und vor sich auf dem Pferde gehabt, war ihr Wärter und geduldiger Spielkamerad und dann ihr Lehrmeister im Reiten, Fechten und Stechen gewesen, auf welche Künste er sich wie einer verstand.

Er war als junger Bursche seinem Vater, einem freien Bauern im Dorfe Schlanstedt, davongelaufen, weil er sich lieber als Reiterknecht durch die Welt schlagen, als hinter dem Pfluge hertreten wollte. Dicht bei Schlanstedt hatte nämlich die jungen Regensteiner eine Burg, bei deren Besatzung sich der junge, hoch aufgeschossene Bauernsohn durch manches ihr zugesteckte heimliche Beutestück aus seines Vaters Rauchfang sehr beliebt zu machen wußte. Von den Reisigen dort lernte er das Kriegshandwerk und fand so großen Gefallen daran, daß er nicht mehr davon lassen konnte und sich eines schönen Tages aus dem Staube machte. Er meldete sich auf dem Regenstein beim Grafen Ulrich, wo man ihn auf seine flehentliche Bitte in Dienst und Pflicht nahm und wo im Gang der Zeit aus dem Troßbuben auch wirklich ein tüchtiger Reiterknecht wurde, der sich durch Zuverlässigkeit und einen tollkühnen Mut allmählich die Gunst und das volle Vertrauen seines Herrn erwarb. In einer Fehde des Grafen Ulrich mit den edlen Herrn von Barby, die das Schnappen und Heckenreiten doch etwas zu arg und bin in den Harzgau hinein trieben, hatte sich Bock unter den Augen seines Herrn so glänzend hervorgetan, daß dieser ihm nach glücklich beendetem Strauß den Rittergurt verlieh.

Diese große Auszeichnung erhöhte Bocks Selbstbewußtsein gewaltig, und er gewöhnte sich nach dem Vorbilde des Grafen ein ritterliches Benehmen an, ohne hoffärtig gegen das Gesinde und reisige Volk zu werden, mit dem er nach wir vor Mühen und Gefahren brüderlich teilte.

Er hatte nichts. Sein Roß, sein Eisenkleid und Schwert und Schild waren und blieben, wie er es auffaßte, des Grafen, von dem er sie bekommen hatte, und als dessen unbeschränktes, jeden Augenblick nach Belieben zu nutzendes oder wegzuwerfendes Eigentum betrachtete er auch sein Blut und Leben. Ein Mann des Grafen von Regenstein zu sein, war seine Ehre und sein Stolz, und mit gleicher Treue wie früher dem Vater diente er jetzt den Söhnen, von denen Albrecht sein Stern und Spiegel, Siegfried aber sein Herzensliebling war.

Der Ritter hielt Stadt und Stift Quedlinburg streng voneinander getrennt. Der ersteren war er feindlich gesinnt, weil sie die Rechte seines Herrn schmälern wollte; in der Äbtissin dagegen erblickte er als Dienstmann ihres Schirmvogtes eine Fürstin, die auf die Kraft seiner Lanze einen ebenso begründeten Anspruch hatte wie seiner Meinung nach er selber und sein Roß auf ihr Bier und ihren Futterhafer.

Als die Reiter auf dem Münchenhofe ankamen, stieg Bock vom Pferde und rief einem seiner Knechte zu: „Hängt ab, Nothnagel! wir bleiben hier.“

Willekin und Florencius taten einen Stegreiftrunk von dem kräftigen Bier, das sie dem darreichenden Meier loben mußten, und setzten sich wieder in Bewegung.

„Ich wünsche Euch einen gnädigen Empfang bei dem hochwürdigsten Herrn Bischof, Herr Stiftshauptmann!“ höhnte ihnen der Ritter nach. „Aber ich sorge, Ihr werdet mit Eurer Botschaft so viel Mühe haben, als wenn Ihr einem Tauben ein Märlein erzähltet.“

„Ich denke, er wird es in beide Ohren nehmen, was ich ihm zu sagen habe“, entgegnete Herr Willekin sich im Sattel umwendend.

„Und Euch zum Dank dafür zu Gaste laden, nicht wahr?“

„Wartet es ab, Herr Bock von Schlanstedt, wer die Zeche zu bezahlen haben wird.“

„O, wir leben bei ihm auf Kreide“, rief Bock lachend.

„Und sitzt tief genug drin, das weiß ich!“ gab der Stiftshauptmann ebenso zurück.

„Dann machen wir einen Strich durch – hiermit!“ sagte Bock und schlug mit der Hand ans Schwert.

Aber die Reiter waren schon zu entfernt, um die Worte des Zurückbleibenden noch verstehen zu können.

„Daß dich der Bock stößt! mich will bedünken, Ihr laßt Euch in seltsam krumme Händel ein, Herr Willekin!“ murrte der hagere Recke mit einem mißtrauischen Blicke nach dem dahinreitenden Stiftshauptmann. „Wir zwei stehen nicht in einem Stall. – Weiter, Hasenbart!“ sagte er dann zu einem anderen seiner Gesellen und hielt ihm den leeren Krug hin, um ihn wieder füllen zu lassen, „aber heute nicht mehr als drei für jeden! Bis wir die heruntergespült haben, sind die beiden Quedlinburgischen außer Sicht. Sie müssen denken, daß wir hier bleiben, darum sagte ich euch, ihr solltet abhängen. Nachher reiten wir ein bißchen scharf zu über Wegeleben und ziehen uns rechts an der Bode um Emersleben herum. Unsere Grafen kommen über Derenburg, und in der Gegend von Schwanebeck an der Holtemme sollten wir sie treffen; die von Crottorf und Schlanstedt kommen auch.“

„Na, da werden wir's ja wohl schaffen!“ brummte Nothnagel.

„Eselskopf! schaffen!“ sprach Bock, ehe er den frischen Krug an die Lippen setzte, „Graf Albrecht ist ja dabei und –“ nach einem langen Zuge – „und wir sieben!“

Sie tranken gemächlich und legten während des dritten Kruges die Sättel wieder auf.

Eine Stunde vor Mittag trafen Willekin und Florencius vor dem Petershofe, der großen bischöflichen Burg in Halberstadt ein, die sich dem Dome gegenüber, hochgelegen und stark bewehrt, mit ihren Umfassungsmauern an die viertürmige Liebfrauenkirche lehnte.

Der Stiftshauptmann sprach absitzend: „Bringe die Rößlein zu meinem werten Freunde, dem Domherrn Herbord Moor, Florencius, und melde mich und dich bei ihm zu Mittag an; sage ihm mit meinem Gruße, ich würde nicht lange auf mich warten lassen, er könnte mittlerweile mal in den tiefsten Winkel seines Kellers leuchten.“

Der Schreiber griff nickend den Zügel des anderen Pferdes und ritt zur Kurie des Domherrn.

Der Stiftshauptmann aber schritt durch das düstere Tor und wandte sich über den Schloßhof nach dem Portale der bischöflichen Residenz.

Julius Wolff: Der Raubgraf

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