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Kapitel 2

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Pünktlich zum Abendessen heißt bei Vera genau achtzehn Uhr. Oft saß ich bei einem Geschäftstermin schon auf glühenden Kohlen und musste darauf hoffen, dass nirgends auf der Fahrt zu ihr Radarfallen stehen würden. Auf die Dauer gesehen wäre mir das dann doch zu teuer, so regelmäßig wie wir uns inzwischen treffen.

Heute war mein Donnerstagstermin schnell zu Ende und ich konnte gemütlich hierher fahren. Ich parke meinen alten, aber rüstigen Kleinwagen vor Veras Doppelgarage und schäme mich ein bisschen dafür, weil er nicht in die Gegend passt. Was ich aber auch gleich feststelle: Es steht kein anderes Auto hier und das heißt übersetzt, dass Veras Überraschung vermutlich kein neuer Mann ist.

Darüber bin ich beinahe erleichtert, weil man bei dieser Frau nie genau weiß, was ihr als Nächstes einfällt. Wenn sie mich irgendwann mit jemandem verkuppeln möchte oder sogar Luc überredet hat, sich ein wenig um mich zu kümmern, würde ich dumm aus der Wäsche schauen. Wie besorgt sie um mein Liebesleben ist, hat sie mir ja erst gestern wieder in der Umkleide erzählt.

„Hallo, Süße“, begrüßt mich Vera mit Bussi-links-Bussi-rechts und lässt mir kaum Zeit, meine Jacke an die kunstvolle Metallpalme zu hängen, die ganz frisch bei ihr im Flur steht. Das ist mit Sicherheit ein sündhaft teures Designermodell, für das mein bescheidenes Dolmetschergehalt nie reichen würde, außer ich würde ab sofort auf Essen und Trinken und alles Schöne verzichten und nur noch wohnen. Komischerweise hatte ich bisher nie das Gefühl, dass ich alles, was Vera für nötig hält, auch zum Leben brächte. Es ist aber schon so, dass ich es ihr nicht ganz glaube, wenn sie behauptet, dass sie auf alles verzichten könnte, woran sie sich im Laufe der Zeit gewöhnt hat.

„Na, wie gefällt dir das gute Stück? Ich habe es für einen Kunden bestellt, der jetzt aber seinen Urlaub auf Barbados verlängert hat und erst in ein paar Wochen wiederkommt. Und da dachte ich, warum soll ich das Ding im Pappkarton lassen, wenn es sich bei mir viel besser machen würde, oder?“

„M-h“, sage ich und bin erleichtert, dass ich diese schreckliche Garderobenpalme nicht ausgiebiger bewundern muss. „Für mich wäre es nichts, aber ich kenne den Herrn ja nicht. Vielleicht passt es ja ganz gut zu ihm.“

„Das tut es ganz sicher, sonst hätte ich es nicht für ihn ausgesucht. Und ich war natürlich vorher in seiner Wohnung, das kannst du dir denken. Sowas mache ich nämlich nicht einfach so aus dem Bauch heraus.“

Ich muss grinsen. „Klar, das versteht sich von selbst.“

„Uns muss es doch nicht gefallen. Aber jetzt mal was anderes: Du hast doch vorhin erwähnt, dass du mit dem großen Übersetzungsauftrag endlich fertig bist, oder?“

„Ja, den habe ich heute abgegeben, sieht man mir das nicht an?“ Ich drehe mich hin und her.

„Chic siehst du aus in deinem Kostüm.“ Vera gibt mir das Gefühl, dass es ihr gefällt, obwohl ich mich darin fühle wie eine Knackwurst.

„Ich bin heilfroh, wenn ich aus dem Ding rauskomme. Und auch, wenn ich jetzt mal ein paar Tage nichts tun muss. Die hab ich mir sowas von verdient.“

„Das ist gut.“ Sie schiebt mich sanft in Richtung Wohnzimmer. „Dann habe ich nämlich einen Vorschlag für dich und du kannst eigentlich schon fast nicht mehr nein sagen, weil …“

„… du es schon so gut wie organisiert hast?“

„So ähnlich. Also ich habe eine Art Reservierung gemacht und das ging nur, weil Luc … naja, Beziehungen hat.“

„Na, dann lass mal hören“, sage ich, weil ich weiß, dass es für mich kein gemütlicher Abend wird, wenn da noch eine Katze im Sack ist, die mich jederzeit anspringen kann.

„Komm erst mal richtig an“, sagt Vera im gleichen schmeichelnden Ton, den ich von Lucs Übungen kenne.

Ich grinse, weil Vera gerade wie die Unschuld vom Lande aussieht, nur ohne Blümchenkleid und Strohhut.

„Ich habe uns ein bisschen was Leichtes vorbereitet“, säuselt sie weiter.

Dafür liegt Schweres in der Luft. Irgendein Kräutlein duftet mal wieder in der Öllampe vor sich hin, aber es ist mir leider ein bisschen zu viel davon. Am liebsten würde ich jetzt die große Schiebetür zur Terrasse aufreißen.

„Dir stinkt’s, Süße? Warte, ich lüfte ein bisschen.“

„Lenk nicht ab, ich weiß genau, dass was im Busch ist, das mir nicht ganz schmecken wird.“ So leicht wie einer von Veras vielen Männern lasse ich mich nicht herumkriegen und das weiß Vera auch ganz genau.

Wenn ich sie jetzt so in ihrem kuscheligen Hausanzug sehe, möchte ich allerdings möglichst schnell etwas gegen mein Kostüm tun, sonst wird das kein lustiger Mädelsabend.

„Wir gehen schon erst in die Sauna, oder?“, fragt sie.

„Sauna?“, frage ich erleichtert zurück. „Das ist ein Wort.“

„Ich schaue mal nach, wie warm sie schon ist.“ Vera verschwindet in den Keller. Ehemann Nummer drei, der ausgewanderte Chefarzt, hat ihr großzügigerweise nicht nur diesen herrlichen Bungalow, sondern auch die finnische Sauna überlassen, aber die braucht er in Namibia wahrscheinlich genauso wenig wie dieses Haus drum herum.

„Siehst du“, hat Vera seitdem einige Male festgestellt, „das Schicksal hat das genau richtig gemacht. Wir sollten uns zwar damals treffen, aber die Wohnung war eindeutig für dich bestimmt und nicht für mich.“

Tausend Dank, Hans-Werner, denke ich auch heute wieder, denn durch eine oder zwei Runden Sauna kann ich unauffällig das Problem mit meinem kneifenden Rock lösen und mich für den Rest des Abends in einen der flauschigen Bademäntel hüllen, bis ich wieder heimfahre.

Dieses Kostüm ist leider immer noch untenrum eine halbe Nummer zu klein, Größe 40 geht einfach bei mir nicht, da beißt die Maus keinen Faden ab. Obenrum passt 40 wie angegossen, aber die Verkäuferin an der Kaufhauskasse war einfach zu gut. Sie hat bemerkt, dass beim Oberteil 40 und beim Rock 42 auf dem Etikett stand und gesagt, dass Oberteil und Unterteil immer dieselbe Größe haben müssen, weil sie das Kostüm sonst nicht verkaufen darf. Weil andersherum, obenrum größer als untenrum, käme bei den Kundinnen nicht so oft vor, und dass sie in meinem Fall zwar gerne eine Ausnahme machen würde, weil es mir doch so gut stehe, aber dafür hätte sie dann mit der Chefin reden müssen, die aber gerade in der Pause war, und wenn das dann übrigbliebe, damit hätten sie schon ihre Erfahrungen …

Ich habe mir den Vortrag angehört, mich aber schon währenddessen um die zu kleinen Verkaufszahlen dieser armen Frau und um ihre vielen Kinder, die sie ja von ihrem Gehalt ernähren musste, so große Sorgen gemacht, dass ich mich nicht mehr getraut habe, ohne diesen Einkauf zu gehen. Ich habe also beide Teile in Größe 40 genommen und gehofft, dass weniger Schokoladenriegel und Gummibärchen mir auf dem Weg in dieses Kostüm helfen, bis es wie angegossen passt. Bis jetzt hat das aber nicht funktioniert und es fühlt sich zwar obenrum immer noch an wie für mich gemacht, ist aber untenrum den entscheidenden Tick zu eng. Bei mir ist eben alles ein bisschen barock geworden mit der Zeit und an den Pölsterchen wird sich wohl nichts mehr ändern. Ich habe versucht, mich daran zu gewöhnen. Ehrlich!

Solche Probleme kennt Vera nicht. Sie ist rank und schlank an der Grenze zur Unterernährung und macht nicht den Eindruck, als müsste sie dafür wochenlang hungern oder sämtliche Diäten ausprobieren. Wenn wir zusammen essen gehen, bestellt sie ganz normale Portionen und schaufelt die in sich hinein. Ansonsten, das betont sie immer, lebt sie gesund: mit vielen Vitaminen, Spurenelementen und ausgiebig Sex mit ihren lebenden Fitnessgeräten.

„Und für Botox und den netten Schönheitschirurgen, dem schon alle hier in der Straße Dankeskarten aus dem Strandurlaub schicken, ist es noch ein bisschen zu früh, oder?“, fragt sie immer, wenn ihr danach ist.

Das letzte Wort in diesem Satz schreit dann förmlich nach meinem prüfenden Blick und meiner sofortigen Bestätigung, dass es für solche Dinge nicht nur zu früh, sondern sogar entschieden zu früh ist. Wenn ich das so zu ihr sage, schaut Vera zufrieden und deshalb mache ich das gerne. Schließlich kenne ich wenige Menschen, die ich mit so einfachen Worten so glücklich machen kann.

Es gibt allerdings im Zusammenhang mit Vera ein ungelöstes Rätsel: Mir ist nicht klar, wie man auf natürlichem Weg und ohne Fettreserven an sonstigen Stellen des Körpers zu einem solch beachtlichen Busen kommen kann, wie Vera ihn vor sich herträgt. Das muss Körbchengröße E sein, weil ich selbst schon D habe, aber bei mir ist das mit der Zeit ganz natürlich gewachsen. Über ihren erstaunlichen Busen werde ich mit ihr trotzdem nie reden, außer sie möchte es mir erzählen. Wenn es ein wohlgehütetes Geheimnis bleiben soll, dann akzeptiere ich das. Ich muss ja nicht alles über sie wissen.

Was ich allerdings weiß, ist, dass sie im Feinkostladen einkaufen geht, in dem man ihr wahrscheinlich für relativ viel Geld relativ wenige Sachen auf den Tresen legt. Exklusiv ist es aber auf jeden Fall und meistens schmeckt es. Außerdem ist es so viel davon, dass ich satt werde. Bei Vera ist es immer spannend, was es zu essen gibt und so gesehen eine Überraschung. Aber das ist normal und wie immer, das würde sie mir nicht per SMS ankündigen. Ich merke, dass ich ungeduldig werde.

„Hast du dir schon einen Drink eingeschenkt?“, fragt Vera, als sie wieder aus dem Keller kommt.

„Noch nicht“, antworte ich.

„Hier.“ Vera reicht mir eines der sehr hohen, teuren Longdrinkgläser mit einem wundervollen Strohhalm und einer goldenen Palme als Verzierung. „Isotonisch. Können wir gut brauchen für nachher.“

„Danke.“ Ich trinke den ersten Schluck und schmecke nur Ananas, was sofort eine sehr schöne Erinnerung wachruft. Da gab es einmal eine ganz besondere Nacht mit Tommy …

„Willst du mir nicht langsam verraten, was deine Überraschung ist?“, frage ich, mehr um mich selbst abzulenken.

„Eilt doch nicht.“

„Ach, jetzt nicht mehr?“

„Wart’s ab. Erstmal gehen wir runter. Den Tag rausschwitzen.“

Das tun wir dann auch. Drei Runden lang mit Wellnessmusikpausen dazwischen und ohne großes Gequatsche. Eigentlich ist es mir jedes Mal ein Rätsel, wie wir das überhaupt schaffen, aber es geht ja anscheinend.

Wir sitzen wieder im Wohnzimmer, in Bademäntel gehüllt und im Schneidersitz auf dem sündhaft teuren Ledersofa. Mit den bunt verzierten Canapés in der Hand will Vera offensichtlich immer noch nicht mit der Sprache herausrücken, aber meine Geduld ist am Ende.

„So, jetzt sind wir entschlackt und beinahe satt und jetzt kommt das Attentat auf mich, oder?“, frage ich ungeduldig

„Genau, Süße.“ Vera rümpft die Nase und nimmt das kleine Stück Petersilie von ihrem bunten Häppchen, das sie gleich essen wird. „Aber versprich mir bitte, dass du nicht gleich nein sagst.“

„Mache ich nie.“ Ich habe meine Grundsätze, das weiß sie eigentlich. „Jetzt spuck’s schon aus. Einen Bogen kann man auch überspannen.“

„Na gut.“ Vera legt ihr Häppchen zurück und holt eine bunt bedruckte Broschüre aus ihrem Designer-Zeitungsständer. „Schau es dir einfach mal an. Bitte!“

Ich hebe die linke Augenbraue. „Eine Finca? Wo ist denn die?“

„Dieses wunderbare Domizil ist auf einer noch wunderbareren Insel namens La Palma.“

„Okay. Also mitten im Meer. Und was macht man da den ganzen Tag?“

„Man besucht einen Yoga-Workshop, Süße. Also, Luc meinte, dass wir beide richtig schnell lernen und wenn wir so weitermachen, kann er uns schon bald in den Fortschrittskurs nehmen.“

„Ist der dann statt dem Anfängerkurs oder der zweite Abend in der Woche?“

„Keine Ahnung, was er noch mit uns vorhat. Aber darum geht’s doch jetzt gar nicht. Also, was sagst du?“

„Schöne Gegend. Ob ich da unbedingt noch Yoga dazu brauche, weiß ich nicht. Wie sieht denn das Programm aus? Halt, stopp! Das ist ja wohl nicht die erste Frage. Die ist eher: Wie kommen wir da überhaupt hin?“

Vera beißt sich auf die Unterlippe.

„Sag jetzt nicht … nein, Vera. Beim besten Willen nicht! Du weißt, dass ich nie mehr in meinem Leben fliegen werde. Nie mehr! Nein. Das ist mein letztes Wort. Ich kann das nicht.“

„Süße.“

„Nichts da Süße. Vergiss es! Entweder ich nehme die Fähre oder es geht nicht und das weißt du ganz genau.“ Muss ich meine beste Freundin jetzt wirklich daran erinnern, dass ich meinen über alles geliebten Mann bei einem Flugzeugabsturz verloren habe? Von den hundertfünfzig Menschen an Bord sind damals zehn ums Leben gekommen. Er war bei den zehn dabei und das hat einfach alles zerstört.

„Nein“, sage ich noch einmal und erkläre ihr mit Nachdruck: „Ich steige in kein Flugzeug. Im nächsten Leben vielleicht wieder.“ Dann schnappe ich mir Veras petersilienfreies Häppchen, um nichts mehr sagen zu müssen.

„Süße, ich hab unser Horoskop für nächste Woche angeschaut und es sieht verdammt gut aus.“

„Deines oder meines?“, frage ich mit vollem Mund.

Vera rollt mit den Augen. „Na, unsere beiden natürlich. Außerdem habe ich diese Finca ausgependelt und ich sage dir: Wir müssen das einfach machen! Besser kann es gar nicht passen. Naja, und dann habe ich mich auch schon mal nach einem frühen Flug erkundigt, damit wir unten nicht so viel sehen und der Pilot dafür die Landebefeuerung ein bisschen besser.“

Ich verziehe den Mund und trinke einen Schluck Wein. „Scherzkeks.“

„Also eigentlich habe ich die Plätze schon so gut wie reserviert, weil es der einzige Flug ist, bei dem noch zwei nebeneinander über den Tragflächen frei waren. Und du weißt ja, wie wichtig das ist.“

„Man kann keine Plätze reservieren, wenn man den Flug noch nicht gebucht hat.“ Halte niemanden für dümmer, als du selber bist, denke ich und spüre eine riesengroße Wut aufsteigen, die gleich wie eine Tsunamiwelle über die von der Sauna entspannte See hinwegfegen wird.

„Es ging nicht anders“, sagt Vera und klingt für ihre Verhältnisse beinahe schüchtern. „Du hast keine drei Tage Zeit mit dem Auto und der Fähre, weil …“

„Weil?“

„Weil der Workshop schon übermorgen anfängt. Wir müssen fliegen!“

„Dann hatte ich also in Wirklichkeit von Anfang an keine Chance?“

„Eigentlich nicht. Außer du hast ein Problem damit, dass wir in einem Zimmer wohnen. Weil es ein Pärchen war, das abgesprungen ist. Luc meinte, dass wahrscheinlich eine Frau ihren Ehemann überraschen wollte und dann hat der gesagt, dass er sowas nicht macht.“

„Hm.“ Das ist eigentlich mein Ist-mir-doch-egal-Tonfall, aber in Veras Augen sehe ich einen Hoffnungsschimmer. Dann überlege ich kurz, dass diese Aktion mit Sicherheit einen Hintergrund hat und da fällt mir Veras Geburtstag ein. Nächsten Mittwoch! Und heute ist Donnerstag. Wenn es also übermorgen losgehen soll, dann will meine Freundin ihren nächsten Jahresring in der Fremde feiern. Den fünfunddreißigsten? Der ist doch gar nicht rund? Es gibt also eigentlich keinen echten Grund davonzulaufen.

„Was heißt denn jetzt hm?“, fragt Vera und schaut mich flehend an.

Hm heißt, dass ich nicht weiß, ob das eine gute Idee ist. Ich kann mir jetzt vornehmen, dass ich das alles ganz locker sehe, aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich mitten auf der Gangway keine Panikattacke bekomme. Und es ist auch nicht gesagt, dass ich wieder zurückkomme. Vielleicht muss ich ja schwimmen oder du musst mich narkotisieren, weil mich keine zehn Pferde mehr in so ein Ding reinbekommen. Wenn man es genau nimmt, weiß ich ja nicht mal, ob ich überhaupt hinfliege.“

„Vertraust du mir denn nicht?“ Vera kann so unschuldig schauen, dass ich schon fast wieder lachen kann.

„Doch, an sich schon. Aber ich habe keine Ahnung, ob das in dem Fall reichen wird.“

Vera hebt ihr Champagnerglas. „Auf unsere erste gemeinsame Urlaubswoche mit Yoga und mehr.“

Ich zögere. „Ich wünsche dir viel Glück.“

„Die Sterne sind auf unserer Seite und ich trage alles zusammen, was man gegen Flugangst tun kann. Den Stein habe ich schon besorgt.“

Ich lache auf. „Für meine Beine, damit es nach der Notwasserung schneller geht?“

„Jetzt hör auf mit den Geschichten. Denk einfach nicht darüber nach! Dann bleibst du ganz cool. Ich gebe dir am besten auch schon mal die Globuli mit.“

„Globuli?“

„Ja, klar. Die muss man auf jeden Fall rechtzeitig vorher nehmen, sonst helfen sie bei solchen Sachen nicht. Wir müssen dich sozusagen mental stärken.“

„Dein Wort in Gottes Gehörgang. Weißt du, was jetzt der einzige Vorteil ist?“

„Was denn?“

„Ich habe nicht mehr viel Zeit mich reinzusteigern.“

Vera kichert. „Das wäre auch reine Zeitverschwendung. Freust du dich? Wenigstens ein bisschen?“

„Wenn ich schon dort wäre, wäre mir wohler.“

„Dauert ja nicht mehr lang.“ Sie nimmt den Prospekt wieder in die Hand und hält ihn mir hin. „Schau mal. Das ist der Ausblick. Palmen, das Meer … eine himmlische Ruhe. Da hörst du höchstens deinen eigenen Herzschlag, hat Luc gesagt.“

„Luc …“ Der ist das Stichwort. „Fährt er mit?“

Vera verzieht das Gesicht. „Nein. Er kann nicht. Er sagt, er muss zusehen, dass er sich etabliert mit seinem Studio. Da will er noch nicht weg, weil er gehört hat, dass es einen Konkurrenten geben soll, der drei Straßen weiter seinen Laden aufmachen möchte. Da hilft nur Kundenbindung, sagt er. Und außerdem: Wer nicht will, der hat schon. Und außerdem kommen wir beide sicher prima ohne ihn zurecht, wir sind beide erwachsen und brauchen keinen Aufpasser.“

Er kennt dich nicht, denke ich und sage trotzdem: „Okay.“

„Aber meinen Geburtstag feiert er mit mir nach, das hat er mir ganz fest versprochen“, sagt sie und hört sich dabei an wie ein kleines Mädchen.

„Na dann … meine Liebe, wärst du mir böse, wenn ich jetzt sage, dass ich heim möchte? Morgen ist zwar nichts Großes mehr, aber die Rechnung für den letzten Auftrag will ich auf jeden Fall ausstellen, solange ich noch weiß, wie viel ich gearbeitet habe. Nach der Entspannungswoche ist das wahrscheinlich alles weg.“

„Davon gehe ich auch aus, Süße. Weißt du was? Ich freu mich so richtig. Warte, wir rufen dir ein Taxi … es ist zwar noch vor zwölf und die Kontrollen sind bestimmt noch nicht ausgeschwärmt, aber wir haben zu viel getankt.“

„Das sehe ich schon länger so“, stimme ich ihr zu.

„Dein Auto ist also in meiner Garage bestimmt besser aufgehoben.“

„In deiner Garage, nicht davor? Du meinst, da hinein schaffe ich es noch? Dein Vertrauen ehrt mich. Aber du solltest trotzdem mit rausgehen zum Schauen. Noch hat er zwei ganze Kotflügel, mein kleiner Flocki.“

„Geht klar. Ich mache auch das große Licht an.“

Ich parke und steige schon fünf Minuten später in das Taxi ein, das Vera gerufen hat und auch gleich bezahlt.

„Wie immer“, sagt sie und drückt dem Fahrer einen Schein in die Hand. „Mehr kostet es nicht, ihre Kollegen schaffen die Strecke auch immer in derselben Zeit.“

Der junge Mann ist verblüfft und noch verblüffter, dass ich hinten einsteige in meinem engen Kostüm.

„Fahren Sie vorsichtig um die Kurven“, sagt Vera noch, „die junge Frau hatte ordentlich einen im Tee. Also dann bis morgen Abend, Süße. Ich erwarte dich mit deinem Köfferchen, gestartet wird übermorgen von hier aus, lange bevor die Sonne aufgeht. Sie könnten wir dann auch wieder brauchen, wenn Sie wollen, junger Mann. Zum Flughafen.“

Dann schlägt sie die Autotür für diese Uhrzeit viel zu heftig zu und winkt wie eine Wilde. Nein, das sieht nicht huldvoll aus, wie es sich in dieser noblen Wohngegend gehören würde. Es sieht so aus, als wäre sie glücklich, und das ist die Hauptsache.

Nur ich weiß nicht genau, was ich von der ganzen Sache halten soll. Ich betrachte das kleine Fläschchen mit den weißen Kügelchen in meiner Hand. Eines ist mir sonnenklar: Heute Abend wird es keine Fantasiereise mehr geben, höchstens ein paar Notizen, was ich noch unbedingt erledigen muss, bevor ich wegfahre. Das Wichtigste ist das Sixpack T-Shirts und Hosen für eine Woche Yoga, weil ich in diesen Ferien garantiert keine Klamotten waschen und womöglich noch zum Trocknen auf den Balkon hängen möchte.

Da schießt mir noch etwas anderes in den Kopf: ich und eine ganze Woche nur Yoga?!

Dass Vera ein bisschen verrückt sein muss, liegt auf der Hand, aber ich fürchte langsam, dass es ansteckend ist. Anders kann ich mir nicht erklären, dass ausgerechnet ich mit meiner Freundin zu einem solchen Workshop verreise. Sogar fliege! Wo es doch auf der Welt so viel schönere Beschäftigungen gäbe, als sich in geschmeidigen Bewegungen vorschriftsmäßig auf und nieder zu quälen, damit der aufdringliche Herr Trainer nicht zu viel an einem herumfummeln muss.

Vielleicht sollte ich mir doch lieber keine neuen T-Shirts besorgen und aussehen wie eine schweißfeuchte Knackwurst, die man erst gar nicht anfassen möchte?

Interessant finde ich jetzt aber, dass ich überhaupt nicht an eine Trainerin denke. Auf Vera ist Verlass, es kann nur ein Mann sein, auf eine Frau als Vorturnerin würde sie sich doch niemals einlassen.

Daheim, im Bett, schaue ich auf mein Hochzeitsbild, das auf dem Nachttisch steht.

„Heartbreaker, ich fürchte, dein Mäusezähnchen begeht jetzt dann bald eine schreckliche Dummheit und steigt in ein Flugzeug.“

Tommy lächelt mich an, wie immer. Was soll er auch sonst machen, von seinem Bild aus und hinter Glas?


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