Читать книгу Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons - Jurgis Kuncinas - Страница 5

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Ich saß in einem schäbigen Straßencafé in Žvėrynas. Die Pfützen reflektierten den fahlen Himmel, und in meiner Kaffeetasse spiegelte sich mein heiteres, jedoch von niemandem geliebtes Gesicht. Die Meise, die sich auf dem Plastiktisch niedergelassen hatte, wollte mir etwas vortragen, rutschte aber in einer Kaffeelache aus, stibitzte noch rasch ein Bröcklein Käse und schwirrte auf und davon.

Ich hatte vor, mich heute auf den Weg hinüber nach Užupis zu begeben, um dort für Nabė eine Höhle zum Überwintern aufzutreiben, das hatte ich ihr nämlich versprochen. Sie wollte eine billige, aber separate Wohnung, um dort ihre Gäste empfangen zu können, darunter manchmal auch mich. Ihr großer Traum war, einen legalen Literatursalon aufzuziehen – jetzt war ja alles legal! –, mit künstlerischen Darbietungen, echten Klageliedern, Blut und Tränen. Es würde verrückt, aber interessant werden, hatte sie gesagt. Ich hatte ihr kein Wort geglaubt, ihr jedoch versprochen, nach Užupis zu fahren. Dazu hatte ich alle Zeit der Welt, und natürlich würde ich nicht zu Fuß gehen. Ich hätte jetzt zwar mit der Obuslinie 3 bis zur Kathedrale fahren können, aber die Busse waren um diese Zeit noch brechend voll.

Tecka, der Bürgermeister von Žvėrynas, setzte sich zu mir an den Tisch, stürzte in zwei Zügen seinen Kaffee hinunter und eilte wieder davon, schaffte es aber in der kurzen Zeit noch, mir mitzuteilen, dass am Tag zuvor Ogoniokas hungers gestorben sei. Ich glaubte ihm: Vor nicht allzu langer Zeit war dieser noch an meinem Fenster erschienen und hatte mich gebeten, ein Buch von Gercen zu kaufen: »Das wird dir nützen!« Er war aufgedunsen und gelblich wie der Mond im Nebel gewesen, arbeiten konnte er nicht, stehlen kam auch nicht in Frage, und so war er gestorben, obwohl ich ihm ein halbes Brot und ein Stück gekochtes Rindfleisch gegeben hatte.

Aber nun war es höchste Zeit zu verschwinden: Čigonas war im Anmarsch, bestimmt würde er mich um einen halben Litas anpumpen. Und auf der anderen Straßenseite hing Golosačius herum, garantiert würde er mich fragen: »Wie wär’s mit ’nem Bier?« Ich musste noch nach Hause laufen und mir andere Schuhe anziehen, bei den vielen Pfützen! Und dann würde es wohl am einfachsten sein, gegenüber vom Zeitungskiosk auf den Bus der Linie 11 zu warten und an zahlreichen idiotischen Ampeln erst am Fluss entlang und dann an der St.-Anna-Kirche und an der Bernhardinerkirche vorbeizufahren, bis zu meinem Ziel, nach Užupis, dem Paradies des gepantschten »Royal« und des »Ameisenspiritus«, das Lieblingsgetränk der so genannten Kunstmenschen.

Vor meinem inneren Auge sehe ich mich schon auf diesem gewundenen Pfad: Auf der einen Seite steht die Akademiebibliothek, und durchs Busfenster fällt der Blick nicht nur auf ein Chinarestaurant, sondern auch auf das »Ei des Philosophen«, eine meisterhafte Plastik aus glatt poliertem Stein; der Künstler hat irgendwann zugegeben, dass nur die Rüstungsindustrie in der Lage sei, einen Labrador so abzuschleifen. Vielleicht sollte ich mich leicht davor verneigen, aber der Bus klappert und wackelt ständig, während er über die Kreuzungen im Herzen von Vilnius fährt, der Stadt des Gediminas. Auf dem Ungetüm von Fahrzeug steht, wo es herkommt: Es ist ein Geschenk der Stadt Oslo an unsere heruntergekommene Metropole. Man entsinne sich der vergleichenden Sprachwissenschaft, die Beschriftungen machen die Zugehörigkeit des Norwegischen zur germanischen Sprachgruppe deutlich: »Udgang« bedeutet das Gleiche wie deutsch »Ausgang«. Übrigens kann man in den Bussen, die uns die Deutschen geschenkt haben, gleich auch noch Griechisch und Türkisch lernen, die dortigen Gastarbeiter sollen schließlich wissen, wie hoch die Bußgelder in Deutschland sind! So viel zum Thema Sprachen und Sprachwissenschaft.

Indessen brennt es nirgends, und ich habe wirklich genug Zeit. Literatursalons können über Jahrzehnte hinweg schöpferisch tätig sein, aber man redet erst über sie, wenn definitiv der letzte ihrer Dichter das Zeitliche gesegnet hat. Ich werde das nicht mehr erleben, sie sind alle noch jung, und es besteht keine Veranlassung zur Eile. Also kümmere ich mich lieber um mein Hemd, das ich wieder in die Hose gestopft habe, und überlege, ob ich Triksė, genannt Grand Trix, anrufen soll und sie frage, was Mäusespeck auf Dänisch oder auf Norwegisch heißt, so etwas weiß sie bestimmt. Außerdem muss ich meine Hose zumachen, den Fensterladen fest schließen, die nicht vorhandenen Gänse füttern und frisches Wasser aus dem Brunnen holen. Da sind lebende Salamander drin, die die ergraute Pania »Jaszczericy« nennt, obwohl unter dem Grundwasserspiegel von Žvėrynas vermutlich eher irgendwelche Blutegel leben. Ich glaube, dass sie gesundem Denken nicht abträglich sind und vielleicht ganz nebenbei sogar helfen, den Blutdruck zu senken. Wie sie sich wohl vermehren?

Das kalte Wasser tut gut, besonders wenn man ein bisschen verkatert ist, und so wird es hoffentlich auch diesmal seine Wirkung tun. In dieser Hinsicht ist der Bus wirklich ein sicherer Ort, es gibt dort nicht einmal ein Büfett, allerdings bietet einem dort ab und zu jemand etwas an. Neulich war es die sympathische Dozentin Onega Mažgirdas; sie trinkt selbst nichts, schleppt aber immer eine Flasche Kräuterschnaps »Trejos devynerios« oder »Bittnerio balzamas« mit sich herum, und wer ganz lieb »bittebitte« sagt, bekommt einen Schluck, sogar Hoffnungsträger unter den Studenten wie Nabė oder Bul Bul.

Dann schiebe ich mich auch schon mit dem Bus Nr. 11 über die Brücke von Užupis, gleich beim »Tėvo kapas«, und da sehe ich mit eigenen Augen das Schild, das durch einige Schichten Putz fragmentarisch wieder zum Vorschein gekommen ist und mir noch zum Verhängnis werden soll. Man erkennt Bruchstücke älterer Inschriften: »Blanchisserie« * »Waschanstalt« * »Užin« * »Obed«[1], und da weiß man, dass man wirklich in Užupis ist.

Grau ist dieses Užupis und ärmlich, aber Kunstmenschen sind sensibel und haben eine lebhafte Phantasie, und so stellen sie sich vor, dass keine hundert Jahre mehr vergehen werden, bis … Lass gut sein, alter Knabe! Farbe gibt es in Užupis immer weniger, das Haus von Tula hat man in eine ungemütliche Werkstatt umgewandelt, die Leichenhalle ist in die Nordstadt verlegt worden, und die onkologischen Schlachthöfe heißen jetzt »Klinik zur Krebsvorsorge«. Trotzdem zieht es alle hierher, ich verstehe nicht ganz warum. Mir wird dieser Stadtteil immer fremder, und ich finde es ziemlich verlogen, wenn man um übel riechende Buden, um ödes, brachliegendes Gelände, das nur noch als Flohmarkt genutzt wird, oder um bankrotte Tante-Emma-Läden, Kaschemmen und nach Mäusen riechende Keller und Dachböden trauert. Alle Neuerungen wirken in diesem Užupis wie unheimliche Fremdkörper oder Prothesen, mehr als anderswo. Und umso heftiger jammern die Kunstmenschen, werden wütend und lutschen an dem süßlichen, feuchten Wort »Melancholie« wie an einer weichen Pflaume. Ach, immer dieser Dürer: Diesmal ähnelt er dem lockigen Künstler aus Bulgakovs Stück über Molière …

Dann kommen auch schon Haltestellen, Staub, Strumpfwirkereien und Friedhöfe, Dämmerungsimpressionen wie auf alten Fotografien von Jėzus M. Auf der Straße rollt sein »Wagen der Intelligenten« entlang, mit bis zum Straßenpflaster herunterhängenden Stangen und einem flink rennenden Schwein; alle wirken so, als bewegten sie sich und als seien sie in Eile … Blendend weiße Möwenscheiße auf den buckligen Steinen in der Vilnia, hat nicht irgendjemand gesagt, dass Tenöre sie äßen … Ständige Attribute von heimlichem Herzeleid und vermeintlicher Nostalgie, süße Hoffnungslosigkeit und heiße Blasen auf schwieliger Haut, von jungen Nesseln und von fettem Ungeziefer …

Wo blieb bloß dieser Bus?

Ob Ogoniokas wohl jemals in Užupis gewesen ist? Golosačius hatte ich dort schon einmal mit eigenen Augen gesehen, Maler sind eben mobiler als verhungernde Obdachlose oder Vagabunden, und er war sogar schon einmal im nördlichen Vorort Jeruzalė.

Der Bus war tatsächlich ein Geschenk der Stadt Oslo, noch glänzend, würdig und mit ledernen Schlingen zum Festklammern für angetrunkene Fahrgäste; solche Schlingen waren fast die einzige Erinnerung, die mein Vater noch an die Straßenbahn aus seiner Zeit in Petrograd hatte, dann war er nach Litauen zurückgekehrt. Ich setzte mich auf einen Platz an der Tür und bemerkte sofort, dass ich einen meiner Baumwollsocken verkehrt herum trug. Ich ließ mich dadurch nicht aus der Ruhe bringen, aber weil ich die Zeit sinnvoll nutzen wollte, zog ich einen meiner noch ganz weißen italienischen Turnschuhe aus, legte ihn auf den freien Sitz neben mir und machte mich daran, den Socken richtig herum zu wenden.

Man sagt, dass verdrehte Kleider, also auch Socken, kein gutes Zeichen sind, es bedeutet nämlich, dass man sich betrinken wird! Ich verspürte zu diesem Zeitpunkt keinerlei Sehnsucht, mich voll laufen zu lassen, und neben mir waren weder Onega Mažgirdas mit ihrer Halbliterflasche Schnaps zu sehen noch šarūnas Dickas, der inoffizielle Bürgermeister von Užupis, der immer einen Flachmann mit reinem Bourbon bei sich hatte. Während ich also den Strumpf umstülpte, dachte ich voller Herzeleid an dich, Nabė: Wie viele meiner kaum abgetragenen Strümpfe hatte ich dir geschenkt, und du zogst sie kaum an! »Eine Bakkalaureatin der Künste mit blau gefrorenen Waden«, so nannte dich ein feister junger Poet mit einem knotigen Stock. Ein Poet ist ein Kritiker, »reine« Poeten gibt es doch nicht, oder? Du bist die einzige »reine« Poetin, Nabė, das sage ich ganz im Ernst: Die anderen widmen sich auch anderen Genres, nur du nicht, und darum musst du leiden.

Gerade als ich mir diesen Strumpf auf meinen schönen Spann gestreift hatte, hielt der Bus auch schon an, geräuscharm, wie es nur die norwegischen Fahrzeuge können, die breiten Türen gingen auf, und die graue, zerlumpte, dumme Person, die neben mir stand, behängt mit vielleicht sechs Tüten voller Plunder, erwischte überraschend meinen Schuh. Er schoss hinaus wie eine Kugel, und ich sprang hinterher, aber genau in diesem Augenblick fuhr der Bus auch schon wieder an, so dass ich mit der Stirn auf dem Gehsteig aus Piłsudskis Zeiten aufschlug.

»Du bist ja voller Blut«, hätte Golosačius bestimmt entzückt ausgerufen, und durch den rötlichen Dunst erblickte ich noch eine hysterisch kichernde Alte hinter dem Denkmal, das der Heldentat von Mieczysław Dordzik gewidmet war. Eine Polin, geschickt und flink wie eine junge Katze, vielleicht die letzte echte Polin in ganz Vilnius. Eine Polin, was sonst. »Psiakrew!«[2] rief sie mir von ferne zu und streckte mir ihre gespaltene Zunge entgegen, obwohl das Blut, das von meiner Stirn herabtropfte, von mir stammte, einem nur mäßig verrückten Menschen, und nicht von einem tollwütigen Hund.

Und so stand ich nun barfuß auf der kleinen Wiese neben der Kirche der jungfräulichen Mutter Gottes; den zweiten Turnschuh schleuderte ich in Richtung Dordzik und »Tėvo kapas«, die Strümpfe schmiss ich in den Müll, verschenken kam nicht mehr in Frage. Das sind Überreste der allgemeinen Konventionen: Im Sommer barfuß in der Stadt herumzulaufen, ist eigentlich etwas ganz Normales, aber seine Strümpfe auf dem Gehsteig durchzuwetzen, gilt als verrückt. Und so begab ich mich in den Sereikiškių parkas, um ein Bier zu trinken.

Am Flussufer liefen ehrwürdige Künstler mit Filzhüten umher, riefen nach ihren Hunden und wechselten ab und zu ein Wort miteinander, obwohl alles schon längst gesagt war; auf meine freundlichen Grußworte reagierten sie mit Gleichgültigkeit. Auf der zweiten kleinen Brücke stand Marija Lelešiūtė, genannt Bul Bul, in weiten geblümten Hosen und machte mit einem Strohhalm schöne Seifenblasen. Als sie mich bemerkte, lief sie knallrot an und versuchte, mich zu ignorieren, aber ich sprach sie als Erster an, streichelte ihren warmen Körper und schlug vor, zusammen ein Bier trinken zu gehen.

»Warum sind Sie barfuß? Warum bluten Sie?«, fragte Bul Bul und sagte dann: »Ich will überhaupt kein Bier, ich will es.« Bul Bul wollte es, aber sie hielt sich an die Konventionen: Es war ihr peinlich, mit einem barfuß einherlaufenden, blutbefleckten Mann im Sereikiškių parkas gesehen zu werden, wo es nur so von Dozenten, Magistern, Bakkalaureaten und Künstlern samt Hunden und Kindern wimmelte. Nicht nur meine Stirn war blutig, sondern auch mein Hemd und meine beigen Hosen. Vermutlich war es schlauer, mit Bul Bul in die erwähnte »Blanchisserie« abzuziehen und ein »Obed« oder ein »Užin« zu essen. Wir würden uns aussprechen, Sauerkraut schmatzen, jeder ein Glas Schnaps herunterkippen und die Nacht zusammen verbringen. Aber Bul Bul schüttelte den Kopf: Morgen hatte sie eine Prüfung bei Onega Mažgirdas. Wahrscheinlich sah ich nicht besonders aus, und vermutlich hielten mich alle für einen Säufer, wofür sonst? Das wäre übrigens auch mein Eindruck von mir gewesen, barfuß und blutig, wie ich war. Und vielleicht war ich noch nicht ganz besoffen, aber bis es so weit war, würde auch nicht mehr viel Zeit vergehen!

Fräulein Bul Bul machte ihre letzte Seifenblase, flüsterte ihr »ich will es, und zwar sofort«, ganz wie in einem Werbeclip, behandelte aber als Erstes meine Wunde mit reichlich Jodlösung und legte mir einen grünen Verband um die Stirn. Wie so viele Frauen schleppte sie wirklich alles Mögliche mit sich herum: Seife, Verbandszeug, Jod und Strohhalme … Die Jodflecken, die durch den Verband durchgesickert waren, bezeichnete sie als chinesische Hieroglyphen. Diese Schriftzeichen hätten dir auch gefallen, Nabė, das weiß ich, aber Onega hätte zum Beispiel nur geschnaubt: »Das geschieht dir recht, das geschieht dir recht«, und Dolores Lust hätte gesagt: »Säufer, Säufer«; sie sind eben Damen. Du weißt doch, Nabė, die eine ist Dozentin und Ex-Poetin, die andere ist sogar eine Schottin. Beide wurden zu spät gebärenden Müttern ehelicher Kinder, und jetzt schmierten sie weder Abhandlungen zusammen noch bliesen sie Dudelsack.

»Irgendwann wird jemand auch in Bul Bul seinen Strohhalm stecken und ihren Bauch rund wie eine Seifenblase werden lassen, stimmt’s, Fräulein Bul Bul?«

»Nein«, antwortete sie, »ich kann Kinder nicht ausstehen, und wir werden nie zusammen welche haben. Kinder machen Pipi, Kacka, stinken, und später nehmen sie Drogen. Und ich werde als Diplomphilologin nie genug verdienen, um mir Kinder leisten zu können. Du gefällst mir blutig. Sie«, verbesserte sie sich. »Sie wirken so kriegerisch, wie ein Schwerverletzter. Ich liebe Verletzte, und ich will es ganz dringend …«

Wir legten uns ins dichte Gras, ganz nah ans Wasser. Ich streichelte träge Bul Buls dunkle Schenkel unter den geblümten Hosen und ihr kaum helleres Gesäß, und als ich zufällig den Blick zum Ufer erhob, sah ich dort niemand anders als die bereits erwähnte Dozentin Onega Mažgirdas, eine der vier berühmtesten Feministinnen des unabhängigen Litauens.[3] Onega stand mit offenem Mund da, drehte den Kinderwagen mit dem kleinen Ipolitas zur Seite und verdeckte mit der Hand die Augen der fünfjährigen Diana, die gerade einer jungen Ratte nachstellte. Bul Bul bemerkte nichts von alledem, sondern stöhnte, räkelte sich und gab dann ganz unerwartet einen spitzen Schrei von sich. Das war zu viel gewesen! Onega kreischte, hob einen Stein vom Weg auf, groß wie Ipolitas’ Faust, nahm mit einer männlichen Geste Schwung und schleuderte den Kiesel auf mich, traf stattdessen aber ihre beste Studentin. Es war keineswegs so, dass Onega nun auf einmal den Verstand verloren hatte, sondern sie war ehrlich davon überzeugt, dass sie ihre Studenten wie ihre eigenen Kinder züchtigen durfte, notfalls sogar mit einem Stein!

Bul Buls Backe wurde dick, und ihr Auge schwoll an, aber sie hielt nicht auch noch ihre linke Wange hin. Flink wie ein Wiesel sprang sie die niedrige Uferböschung hinauf, um sich für die ihr zugefügte Kränkung zu rächen, und ich erwischte nur noch ihre Hose. Bul Bul trug keinen Gürtel, und der Hosenbund bestand bloß aus einem breiten Gummizug, und so blieben all die Blumen in meiner Hand zurück. Nur mit einem himmelblauen Höschen bekleidet sprang Bul Bul auf ihre Dozentin zu und versetzte ihr mit der einen Faust einen gezielten, festen Schlag gegen den Kopf, mit der anderen Faust verpasste sie ihr einen Schlag in die Magengrube.

Onega knickte zusammen, und die Situation war hochgradig unerfreulich. Ipolitas gab einen scharfen, unnatürlichen Schrei von sich, wie ein Pfau – oder vielleicht war es doch seine echte Stimme? –, und Diana, die inzwischen ihre Ratte erjagt hatte, kreischte ebenfalls. Ich verhüllte mein Haupt mit den Rosen von Bul Buls Hose und hätte am liebsten geheult, vor Schande und vor Wut. Um die Dozentin kümmerten sich schon einige ihrer Kolleginnen, und der Dekan, der von irgendwoher aufgetaucht war, hielt eine strenge Strafpredigt. Warum, zum Teufel, hatte ich bloß diesen Bus der Linie 11 genommen, ich war doch auf der Suche nach einem Salon! Alles für dich, Nabė, alles nur für dich!

»Caramba!«, fluchte Bul Bul bei ihrer Rückkehr. Sie keuchte schwer, mit weiten Nüstern und feuchten Lippen. »Wissen Sie, es ist mir überhaupt nicht peinlich! Ich habe meine Prüfung schon erfolgreich bestanden. Und ich will es, hast du das kapiert?« Plötzlich duzte sie mich.

Onega war selbst schuld. Da lag sie nun mit einer blutigen Nase unter einem kanadischen Ahorn im Sereikiškių parkas, umringt von Kollegen und Gaffern, aber ich hatte diese Kojotin nicht auf sie gehetzt. Mochte sie ruhig wütend oder zornig sein, ich watete schon mit Bul Bul durch die Vilnia und verschwand mit ihr in der Drakonas-Schlucht, dem Ort, wo in den tragischen Zeiten der Anti-Alkohol-Kampagne all die Künstler heimlich umhergetorkelt waren, die jetzt in hellen Scharen nach Užupis strömten: Barden, Jazzmusiker, Toulouse-Lautrecs und die künftigen Lehrer von Nabė.

Wie gut, dass Onega nicht mit ansehen musste, wie Marija Bul Bul durch die Wellen watete, während am Himmel die »Drei Kreuze« weiß schimmerten! Sie watete, nur bekleidet mit hochgekrempelten Trousers, es war meine Schuld, dass sie dieses Trikotageprodukt so nannte. Hoffentlich war die tugendhafte Onega nicht auch noch wütend auf mich! Bestimmt würde sie ein entsetztes Gesicht machen, würde sie sehen, wie auch ich in meiner beigen Hose durch das Wasser watete und wie sich unsere Hände und Füße ineinander verschränkten. Oder bei der Vorstellung, wie ihre Kojotin gleich noch heulen würde, immerhin hatte sie soeben noch eine Prüfung bestanden!

Bul Bul beruhigte sich endlich, räkelte sich auf dem Kies, wetzte ihre scharfen Krallen an einem Stein und sagte: »Wenn es nicht regnet, bin ich in ein paar Stunden wieder da. Ich ziehe jetzt los und kaufe eine Pistole. Besorgen Sie in der Zwischenzeit Bier.« Und sie lief mit wiegendem Körper und geblümtem Po zu den Tennisplätzen hinüber, wo die Bälle knallten: Dickas, der Bürgermeister von Užupis, spielte eine schicksalhafte Partie gegen Tecka, den Bürgermeister von Žvėrynas, zwei Bürgermeister, zwei Welten. Es war unwichtig, wer gewinnen würde, das Gelage, die Schlägerei und die anschließende Versöhnung würden alle wie nach einem ungeschriebenen Protokoll ablaufen. »Alles wie nach alter Väter Sitte«, sagte ich mir.

Die Sonne stand bereits im Westen, und ich hatte es nicht bis Užupis geschafft. Nabė saß irgendwo zwischen Phlox, Geranien und Feigenbäumen und schrieb ihre »Lyrik mit Ornamenten« über diverse Nichtigkeiten und meinen nepalesischen Pullover, und ich hatte keinen Salon aufgetrieben. Vielleicht sollte ich mit den Bürgermeistern sprechen? Insgesamt betrachtet war alles so, wie es sein sollte.

Wenn Gottfried Benn behauptet, dass drei Liter des menschlichen Blutes in den Verdauungsapparat flössen und der vierte ins Geschlecht, dann hat er höchstwahrscheinlich Recht. Bul Bul hatte wieder einmal ihre kojotisch-irokesische Abstammung bewiesen, und Onega hatte der Mut gefehlt, die Rattenjägerin Diana als Frucht unserer Liebesnächte in Kasachstan anzuerkennen. Die Natur ist eine kapriziöse Frau: Onega, eine radikale Feministin, wäre wahrscheinlich sogar schwanger geworden, wenn sie am Frauenstrand geschmort hätte oder sich auf dem Flachdach ihres Plattenbaus ein schönes Libellenmännchen oder eine Drohne niedergelassen hätten, das hätte diese Hornisse von einer Magisterin nie und nimmer zugelassen, oh nein!

Was für ein Tag: der verlorene Turnschuh, die geheimnisvoll kichernde Polin, die himmelblauen Höschen von Bul Bul, die jetzt an den Zweigen eines Holzapfelbaums in der Drakonas-Schlucht flatterten, der Weiberringkampf im Angesicht der akademischen Scharen, der weißliche Tropfen Sperma zwischen Irokesenschenkeln … Apropos Bul Bul, würde ihr wirklich jemand eine Pistole verkaufen? Was für eine schreckliche Dramaturgie, was für ein Mysterium unter dem Augustvollmond und wie viele unterdrückte Zitate!

Ich kroch aus der Drakonas-Schlucht hervor und legte mich auf den dunkelgelben Sand; zuerst krochen die Ameisen über mich, und als ich einschlief auch die Menschen. Hier verlief ihr Lebenspfad, für den einen nach Hause, für den anderen ins Grab. Schließlich stolperte ein dicker Mann über mich, plumpste mitten in den Ameisenhaufen und weckte mich natürlich auf. Ich rollte mich ein bisschen zur Seite, setzte mich auf und fragte nicht unfreundlich: »Was sollte das denn?«

»Tschuldigung«, entgegnete der Dicke mit echtem Bedauern und blieb auf dem Lebenspfad sitzen. »Tut mir wirklich Leid. Mein Name ist Lelešius.«

»Wie interessant!«, rief ich aus. »Der Name ist selten. Woher stammen Sie?«

»Aus Kazlų Rūda«, sagte Lelešius. Aus irgendeinem Grund klang er erfreut. »Vielleicht waren Sie schon einmal dort?« Er versuchte um jeden Preis, das Gespräch in angenehmere Bahnen zu lenken.

»Nein«, erwiderte ich, »noch nie. Ich bin noch nicht einmal vorbeigefahren. Ich hatte dort noch nie etwas verloren.«

»Kommen Sie mal zu Besuch«, bat mich Lelešius und sah mir wehmütig in die Augen. »Ich habe dort ein kleines Haus mit Garten und ein paar Bienen. Wir könnten Ausflüge nach Jūrė oder nach Vinčai machen.«

»Was?« Ich war ehrlich erstaunt. »Wieso nach Vinčai? Wieso nach Jurė?«

»Warum nicht?«, sagte Lelešius mit einem schelmischen Lächeln. »Sie würden es nicht bereuen. Besonders Jūrė lohnt sich … Wissen Sie was? Ich habe hier in Vilnius eine Tochter. Marija. Sie ist Studentin, ich suche eine Wohnung für sie. Vielleicht können Sie mir eine empfehlen? Sie darf aber nicht zu teuer sein.«

»Leider nein«, antwortete ich und spitzte die Ohren. »Eine Wohnung! Jetzt suchen doch alle, wir haben bald September.«

»Ihr Spitzname ist Bul Bul«, geriet Lelešius unaufgefordert ins Erzählen. »Sie soll sich hier irgendwo herumtreiben, habe ich gehört …«

Jetzt fiel mir plötzlich ein, dass sich die erschöpfte Bul Bul einmal damit gebrüstet hatte, dass sie aus Rūda stamme, oder vielleicht auch aus Kazlai. Und sie hatte auch gesummt: »Fahren wir irgendwann dahin, hm? Es gibt dort weder Kassler noch Ruder, also, los geht’s.«

»Ich kenne Ihr Töchterlein«, gestand ich. »Gerade eben war ich noch mit ihr in der Drakonas-Schlucht und …«

»Sie brauchen nichts mehr zu sagen, schweigen Sie!« Der Dicke fuchtelte mit seinen kurzen Ärmchen. »Ich weiß alles! Sie ist so, seit sie dreizehn ist. Sie hat schon ihre Mutti und ihre Stiefmutti ins Grab gebracht, was für eine Schande!«

»Und das wird sie auch mit Ihnen tun«, prophezeite ich ohne jede Bissigkeit oder Rachegelüste.

»Ich weiß«, nickte Lelešius traurig. »Aber was soll ich machen, was schlagen Sie vor? Als sie noch kleiner war, haben wir ihr die Muschi rasiert und mit Desinfektionsmittel eingeschmiert, aber es hat alles nichts genützt. Das ist das Blut, was soll ich machen?«

»Ich rede mit Onega Mažgirdas, ihrer Betreuerin«, versprach ich aus irgendeinem Grund. »Na ja, das heißt, vorhin hatten die beiden noch eine Auseinandersetzung, aber sie werden sich schon wieder vertragen. Und ins Grab bringt sie Sie nicht so schnell, eher langsam. Im Afrikanerschritt.«

»Wie bitte? In was für einem Schritt?«, fragte der Mensch aus Rūda besorgt.

»Langsam. So wie die Afrikaner Säcke tragen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ach«, winkte ich ab, »ist doch nicht so wichtig. Ich suche übrigens auch eine Wohnung für jemand. Nein, keine Wohnung, einen Salon. Hören Sie mal her, Lelešius, wie alt sind Sie?«

»Schon siebenundfünfzig.«

»Da haben wir es. Und gehe ich recht in der Annahme, dass Sie noch etwas ganz Bestimmtes vorhaben? Oder warum wollen Sie dann in dieses Jūrė oder nach Vinčai, hm?«

Ich hatte ins Schwarze getroffen. Lelešius wurde knallrot, genau wie Marija Bul Bul Lelešiūtė.

»Und seien Sie bitte nicht beleidigt, Lelešius, aber gab es in Ihrer Sippe vielleicht auch mal Juden, Karäer oder gar Tataren?«, erkundigte ich mich diskret. »Erzählen Sie es mir.«

Lelešius lächelte mit mädchenhafter Liebenswürdigkeit, erhob sich und winkte mir, ihm zu folgen. Nicht weit, nur bis zu einem Tisch mit einer Bank davor, die beide schon ganz schwarz und rissig waren. Hier knöpfte er seine billige Reisetasche auf und zog ein Stück Schinken, Tomaten, Schwarzbrot und eine Flasche Schnaps hervor. Er schnitt das Brot und die Tomaten in Scheiben, holte dann ein Trinkglas heraus, seinen Worten nach war es aus Neusilber, goss sich ein und trank mit Wohlbehagen. Dann schenkte er auch mir bis zum Rand ein, kaute ab und zu an dem Schweinefleisch herum und beantwortete ausführlich meine Fragen. »Aber nein«, sagte der siebenundfünfzigjährige Kavalier, der Vater der verrückten Marija, »so weit ich weiß, gab es keine, nicht einmal Zigeuner. Aber wer weiß, vielleicht hat mir irgendein Vorfahr einen Bären aufgebunden? Und wahrscheinlich stammen die Litauer sowieso von den Indern ab.« Er trank noch ein Glas, hielt kurz inne und überraschte mich dann mit seinem Wissen. »Sie haben doch sicher schon von Baltistan[4] gehört? Natürlich haben Sie davon gehört«, bekräftigte er. »Sie wirken gebildet.«

Gebildet! Irgendwann hatte mich eine unglaublich vollbusige Schneiderin »gebildet« genannt, in Drebulynas, nicht weit von einer Nähfabrik. »Wie gebildet du bist, wie gebildet du bist«, hatte sie gekeucht und mich rhythmisch gegen die schlüpfrigen Blätter gedrückt, »oh, wie gebildet!« Jetzt wurde ich zum zweiten Mal in meinem ganzen Leben so genannt. Erst zwei Menschen hatten mir so geschmeichelt, jene vollbusige Schneiderin und jetzt Lelešius aus Suvalkija.

»Ich habe mich nie für meinen Namen geschämt«, sagte dieser im Brustton der Überzeugung. »Wissen Sie, was Lelešius bedeutet? Vielleicht wissen Sie es nicht, obwohl Sie gebildet sind. Es ist kein besonders erfreulicher Name, aber ich erzähle es Ihnen. Doch zuerst prost!«

»Prost, Herr Lelešius! Was bedeutet Ihr Name denn?«

»Ich erzähle es Ihnen ja schon. Lelieša bezeichnet im Dialekt von Suvalkija ein Übel in den Eingeweiden, vielleicht sogar ein Geschwür.«

»Krebs«, sagte jemand leise hinter uns. »Hallo.«

Bei Gott, Nabė, es ist nicht meine Schuld, dass ich an diesem Tag keinen Salon für deine Clique gefunden habe! Irgendwie hatten heute alle nichts Besseres zu tun, als mich aufzuhalten, auch Lelešius, der auf dem Ameisenpfad über mich gestolpert war. Dieser Mensch war schon auf dem Weg ins Grab, träumte aber noch davon, im Afrikanerschritt nach Vinčai oder nach Jūrė zu kommen. Und da kam auch schon Bul Bul zurück! »Krebs«, wiederholte sie und setzte sich auf die Bank. »Die Schurken haben mir keine verkauft!« Lelešius kapierte gar nichts, aber ich: Bul Bul war unbewaffnet.

Wir saßen gemütlich zu dritt am Fuß des Berges, Bul Bul, ihr Väterchen und ich, obwohl ich barfuß war und eine aufgeschlagene Stirn hatte. »Fahren wir gleich los«, forderte Lelešius uns auf. »Es ist gerade Apfelsaison, und es gibt Pflaumen, groß wie Puteneneier. Ich schlachte einen Hahn und zeige euch die Lämmer.«

»Fahren wir«, stimmte Marija Lelešiūtė zu. »Ich mixe uns Cocktails, dann spielen wir Messerwerfen, und wenn Sie so wild darauf sind, können Sie mir meinetwegen noch ein Kind machen, Lelešius kann es dann mit Schafsmilch stillen. Die Onega hat das in Kazachstan so gemacht, damit hat sie sich sogar in einer Vorlesung gebrüstet. Wo ist das doch gleich wieder gewesen?«

»In irgendeinem Kaff auf atau«, brummte ich mürrisch. »Aber ich dachte, das sei ein Skorpion gewesen, von denen wimmelt es dort nur so.«

»Brechen wir endlich auf?«, fragte Lelešius wieder.

»Ich bin doch barfuß«, erinnerte ich ihn. »Aber wenn Sie mich schon so herzlich einladen … Also los, fahren wir!«

Wir schlugen uns quer durch die Stadt bis zur Schnellstraße nach Kaunas durch und bekamen sofort eine Mitfahrgelegenheit nach Garliava. Es war Marija, die einen Wagen zum Halten brachte: Sie streckte ihre Brust raus, grinste von einem braunroten Ohr bis zum anderen, und als dann ein Fahrer stehen blieb, sprangen Lelešius und ich aus dem Gebüsch hervor.

»In Garliava«, verkündete ich, als wir an einer Kreuzung ausgestiegen waren, »wohnt eine alte Freundin von mir. Das heißt, nicht sie ist alt, sondern die Freundschaft. Sagen Sie ihr nicht, dass sie alt ist, wenn wir bei ihr einen Überfall machen.«

»Aber wieso?«, wunderte sich Lelešius. »Wir wollen doch nach Vinčai, vielleicht auch nach Jūrė. Und nach Mauručiai ist es auch nicht mehr allzu weit.«

»Was heißt hier ›wieso‹? Ich brauche doch irgendwelche Sandalen oder Gummischuhe, schließlich bin ich barfuß. Ich laufe mir sonst noch die Füße wund.«

»Ach was!«, rief Lelešius. »Nehmen Sie meine!«

Ich betrachtete seine ausgelatschten, durchlöcherten Halbschuhe und schüttelte den Kopf, nein, die wollte ich nicht nehmen. Marija rannte zu einem Betrunkenen hinüber, der auf einer kleinen Wiese lag und schlief, zog ihm die mistverklebten Gummistiefel aus und brachte sie mir.

»Nein danke!« Ich schüttelte wieder den Kopf. »Die mag ich auch nicht anziehen. Der Penner hat bestimmt Fußpilz. Mir reicht’s, ich reise barfuß. Und in euerem Rūda gibt es doch bestimmt einen Schuhladen? Ich habe noch sechsundzwanzig Dollar.« Und so zogen wir weiter in Richtung Veiveriai, ich barfuß, und Vater und Tochter mit Schuhen.

Kurze Zeit später blieb ein unverschämter Schnösel stehen, um zu gaffen. Er war so groß, dass er durch die Dachöffnung seines Wagens ragte, öffnete die Türen seines Opelchens, platzierte Vater und Tochter Lelešius und quetschte mit offener Verachtung heraus: »Leute ohne Schuhe nehme ich nicht mit!« Und er zischte ab wie ein geölter Blitz.

Siehst du, Nabė, wohin mich die Suche nach einem Salon in Užupis geführt hat? Da stand ich nun mutterseelenallein auf der leeren Landstraße nach Marijampolė. Bald würde es dunkel, die Leute kratzten sich schon im Schritt und machten sich fertig zum Schlafen, und ich stand barfuß da, mit einer verbundenen Stirn, und niemand verstand die mit Jod darauf geschriebenen Hieroglyphen. Ich versuchte, traurig zu werden, aber es wollte mir nicht gelingen. Manchmal, wenn auch selten genug, pfiffen Opels und Mercedesse vorbei, oder es kamen Traktoren der Marke »Ursus«, aber niemand dachte daran, stehen zu bleiben. Man sah wohl schon von weitem, dass ich barfuß war, und alle schienen im Vorbeisausen zu wiederholen: »Leute ohne Schuhe nehmen wir nicht mit!« Was war jetzt mit den Pflaumen in Suvalkija, Herr Lelešius? Wie sah es aus, Irokesenkojotin Bul Bul? Das Herz wollte mir im Leib zerspringen.

Ha, da blieb so eine Klapperkiste stehen, ein uraltes Motorrad der Marke »Ižas«, ein vorsintflutliches Gefährt mit einem Beiwagen; nur sehr arme Leute fuhren noch mit solchen Dingern. »Wohin musst du denn, du armer Kerl?«, fragte der alte Fahrer mit Lederhelm und riesiger Brille. Der Helm war abgewetzt, die Brillengläser hatten einen Sprung, alles roch nach Leder und Stall und machte nicht gerade den besten Eindruck, aber er war, wenn auch aus Suvalkija, hundertprozentig ein guter Mensch, nicht wie dieser Kolchosevorsteher Abrutis aus der Gegend von Vilkaviškis. Im kalten Herbst des Jahres 1966 wurden wir Germanistikstudenten aus dem ersten Semester mit dem Lastwagen herangekarrt, um in Abrutis’ Arbeitseinheit Frondienste zu verrichteten, und schon von der Glasveranda herab begrüßte er uns mit den Worten: »Wie ihr arbeitet, so werdet ihr essen, denkt dran! Hier ist Suvalkija, und da bindet man die Schweine gut fest und gibt selbst das Wasser nur gegen Geld her!«

Abrutis konnte auch gut und herzlich, ja sogar romantisch sein, aber meistens zeigte er sich von seiner jähzornigen und barschen Seite; damals wusste ich noch nicht, dass »Abruti« auf französisch »Dummkopf« bedeutet. Die Schweine band man ordentlich fest, das stimmte, aber Wasser durften wir umsonst schöpfen. Die Mädchen schloss dieser Abrutis nachts in den Club der Kolchose ein, und mich und den Lehrer Leonardas, der erst seit drei Jahren seinen akademischen Frondienst leistete, legte er in den Flur. »Und versucht nicht, durchs Fenster zu steigen, sonst schieße ich«, drohte er zornig. »Die Mädchen haben auszuschlafen, hier wird gearbeitet!« Und kaum hatte Abrutis einen Blick auf Leonardas geworfen, beleidigte er ihn auch schon in Gegenwart der Mädels: »Was für einen Priesteramtskandidaten habt ihr mir denn da angeschleppt?«

Der damals noch junge Professor Leonardas errötete stärker als Vater und Tochter Lelešius zusammen, und selbst seine Haare leuchteten wie Feuer. Er war praktisch einen Meter kleiner als Abrutis und wurde niemals laut, nicht einmal, als man aus Anlass des Abschlusses des ersten Studienjahrs zum Fotografen ging und ihm der jüdische Fotograf mit den Worten die Brille abnahm: »Ohne die siehst du besser aus, mein Junge!«

Und als ich mich unbequem auf dem kleinen Beiwagen eingerichtet hatte und wir mit etwa fünfundzwanzig Sachen über die Landstraße tuckerten, erzählte ich eher mir selbst als dem halbtauben Fahrer der »Ižas«: »Und dann verliebte sich dieses Rindvieh von Abrutis wie verrückt in unsere Jahrgangskünstlerin Vigilija Jurkutė. Er hofierte sie wie ein alexandrinischer Scheich seine Lieblingsfrau, teilte ihr die leichtesten Arbeiten zu, kaufte ihr Bernstein mit für die Ewigkeit eingeschlossenen Insekten, und an den Wochenenden nahm er sie sogar mit seinem Planwagen zu den Künstlern am Theater von Marijampolė mit und spendierte ihr süßen Likör, aber Vigilija gab nicht nach. Eine derart sklavisch-ritterliche Aufmerksamkeit schmeichelte gewiss ihrer Selbstverliebtheit, doch blieb sie Melpomene treu.

Als die Erde gefroren war, aber noch kein Schnee lag und in den Stoppelfeldern der Wind auf Suvalkisch pfiff, setzte sich Abrutis mit einem neuen Anzug in seinen Volga, düste in die Alma mater und riss Vigilija fast schon mit Gewalt aus einem Gotischseminar heraus. Er fuhr mit ihr in das Restaurant »Vilnius« und bestellte Soufflé, Hühnchen und Sekt, aber es klappte immer noch nicht. Vigilija war ehrlich aufgewühlt, rang die Hände, und der in Bernstein eingeschlossene Käfer tanzte wie lebendig in dem nicht sehr tiefen Ausschnitt ihres züchtigen Kleidchens, doch auf alle ritterlichen Angebote und Versprechungen, wie ein Dienstmädchen, das Frühstück ans Bett oder die Rolle der »Jeanne d’Arc« auf der Bühne von Marijampolė, antwortete sie ruhig, aber klar und bestimmt: »Versteh doch, Kazimieras … Es geht nicht. Ich kann mir ein Leben außerhalb der Hauptstadt nicht vorstellen. Hier ist das ›Akademinis dramos teatras‹ …«

Abrutis, dieser elende Schuft, ging direkt aus dem Restaurant zu Vancevičius und bot zehntausend Rubel für die Rolle der Maria Stuart für Vigilija, doch der Alte gab nicht nach, obwohl er den Vorsteher für sein forsches Vorgehen lobte. Als Abrutis wieder in das Restaurant zurückkehrte, fand er Vigilija nicht mehr vor. Zuerst hatte er ernsthaft vor, sich die Kugel zu geben, aber da er zu geizig war, eine Kugel zu opfern, suchte er den jungen Professor Leonardas auf, entschuldigte sich für den »Priesteramtskandidaten«, türmte auf dem Tisch Schinken, Würste und Schnaps auf und fragte, bereits angeheitert: »Hör mal, mein lieber Leonardas, was wollen die Weiber eigentlich noch alles?«

Leonardas war ein feinfühliger Mensch. Er versuchte mit sanften Worten, dem Unglücklichen Vigilija auszureden, und riet ihm, sie nicht mehr zu umwerben. »In Ihrem Dorf finden Sie bestimmt eine, die viel besser zu Ihnen passt, Kazimieras!«

Zuerst hätte Abrutis Leonardas für diese Worte fast erwürgt, aber schließlich verrauchte sein Zorn: »Du, irgendwie hast du wohl auch Recht, du alter Schlauberger. Ich weiß nicht, was mich geritten hat. So ein spindeldürres Ding, keine Titten, kein Arsch, und ich habe mich aufgeführt wie der letzte Vollidiot.«

Leonardas wurde wieder knallrot über eine so vulgäre Charakterisierung dieser eifrigen Studentin, und ungefähr fünfzehn Jahre später erzählte er mir: »Stell dir vor, Abrutis überschrieb seinen Volga Vigilija und wollte zu Fuß nach Antanavas gehen, um ein neues Leben zu beginnen. ›Von Null an‹, das war seine Rede. Ich überredete ihn, mit dem Zug zu fahren, und begleitete ihn zum Bahnhof. Im Obus herrschte fürchterliches Gedrängel, und dann stieg auch noch so eine Russin mit vollen Taschen ein, drängelte nach vorne und rief auf Russisch: ›Rückt gefälligst, ihr Idioten, hier ist noch genug Platz!‹ Da donnerte Abrutis, noch verkatert und wütend wie ein Bulle auf Russisch zurück: ›Verdammt noch mal, hier ist überhaupt kein Platz für solche XXX wie dich. Wir sind hier doch nicht in Rjazan’!‹ Mit einem Mal verstummte der ganze tschechische ›Škoda‹-Salon, aber nichts geschah …«

Diese Erinnerungen stiegen wieder in mir empor, als die brettebenen Felder von Suvalkija an mir vorbeizogen wie in einem langsam ablaufenden Film. Ich erzählte diese Geschichten eher mir selbst als dem nicht nur fast tauben, sondern auch noch halbblinden Motorradfahrer Petrošius. Dreimal stürzten wir, aber wir rappelten uns jedes Mal unbeschadet wieder auf. Petrošius kannte alle Leute in Kazlų Rūda, und Lelešius kannte er sogar sehr gut: »Das ist ein alter Bekannter von mir. So ein unglücklicher Mensch!«

Als wir herangeknattert kamen, war es schon ganz dunkel. Der Vollmond war verhangen, doch sämtliche Fenster des Lelešius’schen Hauses waren bereits strahlend hell erleuchtet, und neben den berühmten Pflaumenbäumen glänzte dunkel der schwarze Opel dieses Schnösels, der keine Leute ohne Schuhe hatte befördern wollen.

»Aha!«, sagte Petrošius beinahe feierlich. »Petručijo ist also auch da! Wenn er betrunken ist, nimm dich in Acht! Reiz ihn nicht!«

»Ich will versuchen, ihn nicht zu reizen«, antwortete ich und klopfte laut an das weiße Doppeltor von Lelešius. Als Bul Bul mich erblickte, war sie nicht im Mindesten erstaunt, aber Lelešius freute sich: »Ich kriege heute gleich zwei Schwiegersöhne, ha ha.«

Petručijo musterte mich, den Mann ohne Schuhe, drohend, als wolle er sagen: »Mit der einen Hand lege ich dich um, mit der anderen schlage ich dich nieder«, versuchte aber zugleich, sich bei Marija Lelešiūtė lieb Kind zu machen; ich hatte ja schon seinerzeit bei Abrutis erlebt, wie Gefühle selbst Rindviecher seines Schlages in Kälber verwandeln können! Auf alle Befehle von Bul Bul antwortete der Knabe nur mit »jawoll!«

»Sofort entschuldigst du dich bei dem Herrn!«

»Jawoll!«

»Gib ihm die Latschen von Papa!«

»Jawoll!«

»Und jetzt auf die Knie! Bitte ihn um Verzeihung!«

Der Schnösel knirschte vor Zorn mit seinen gesunden Zähnen, aber ich sah, wie seine Knie zitterten, und überlegte, ob er wirklich niederknien würde. Sicherlich strömten gerade all seine vier Liter Blut in seinem Gehirn zusammen.

»Marija!«, rief ich aus, wobei ich sie zum ersten Mal mit ihrem echten Namen anredete, »Marija, demütige diesen Menschen nicht, ich verzeihe ihm!« Und ich legte ihm die Hand auf seine Igelfrisur: »Absolvo te …«

Aber Bul Bul hörte mir gar nicht zu, sondern sah sich schon nach einer Peitsche um: »Ich verprügle dich auf der Stelle! Nieder mit dir, du Stinkstiefel! Du bist nicht stehen geblieben, obwohl ich das Steuer herumgerissen habe, und du hast dich über ihn lustig gemacht, Gott ist mein Zeuge!«

Ich trat zwischen den Lump, der mit gesenktem Kopf auf dem Boden kniete, und Bul Bul, die mit einer Leine ausholte, und schlug vor: »Soll er mir doch lieber seine Stiefel geben, dann erfährt er wenigstens am eigenen Leib, was es bedeutet, barfuß unterwegs zu sein!« Ich wollte mir seine Schuhe anziehen und gehen, vielleicht zu Petrošius, ich hatte gesehen, wohin er mit seiner Klapperkiste gebrummt war. Aber zur großen Freude von Petručijo und zu meinem Leidwesen stellte sich heraus, dass mir die Schuhe um vier Nummern zu groß waren. Die Miene des Schnösels hellte sich auf, offenbar hing er an seinem Schuhwerk, und so zerrte er mich glücklich zum Tisch und häufte mir Salat, Hering und Pilze auf den Teller, als gehöre alles ihm und nicht dem armen Lelešius. Der aber achtete gar nicht darauf, sondern dachte über den Sinn des Daseins nach. Laut sagte er: »Ich bin nicht gebildet, und ich werde nie in der Stadt leben können, aber die hier«, er stieß seine Tochter an, »hört nicht auf, mich zu bedrängen: ›Komm, wir verkaufen das Haus und ziehen nach Kaunas.‹ Und jetzt auch noch nach Vilnius, was für eine Schnapsidee! Hier ist es doch wunderbar flach und schön, es stinkt nicht, und wenn es stinkt, dann ist es der Misthaufen und kein Benzin. Ach, der Petručijo, der will nirgendwohin ziehen, stimmt’s?«

»Nirgendwohin«, rief der Knabe aus tiefstem Herzen. »Niemals! Schließlich gibt es hier genug Mädchen …« Er verhaspelte sich und schaffte es gerade noch rechtzeitig, das Thema zu wechseln. »Außerdem ist eine Garage da, und man hat Gesellschaft. Was soll man in der Stadt? Bis Kaunas ist es doch nur ein Katzensprung.«

»Lassen Sie die Finger davon, Lelešius«, stimmte ich zu. »Warum sollten Sie wegziehen? Hier haben Sie einen Garten, und der Petručijo, der schließt Sie an die Kanalisation an, legt Ihnen Wasser ins Haus, und schon leben Sie wie in Philadelphia!«

»Waren Sie schon einmal in Philadelphia?«, fragte Petručijo beeindruckt.

»Nöö«, sagte ich gedehnt. »Aber ich kann mir ungefähr vorstellen, wie man dort lebt. Auf jeden Fall gibt es eine Kanalisation.«

»Ha!« Petručijo sprang auf. »In Rūda kommt das Wasser auch aus dem Hahn, aber hier ist das etwas Besonderes!«

Als ob das jetzt so wichtig wäre! Vielmehr zerbrach ich mir den Kopf darüber, was ich mir jetzt an die Füße ziehen sollte, denn ich hatte keine Lust, barfuß zurückzukehren. Bul Bul legte sich mit dem glücklichen Petručijo auf das Sofa im selben Zimmer, und die beiden kicherten und streichelten sich, während Lelešius und ich langweilige Gespräche über vergangene Zeiten und Baltistan führten. Dann sahen wir den neuesten Verbrechensbericht im Fernsehen an und kamen gemeinsam zu dem Schluss, dass unser Vaterland immer weiter verrohe, aber währenddessen schweiften meine Gedanken immer wieder in Richtung Schuhwerk ab, und so erinnerte ich schließlich Lelešius daran, dass er seinem Gelübde entronnen sei: »Sie haben doch versprochen, mir Schuhe zu leihen. Ich gebe sie im Dekanat zurück.«

»Na!« Lelešius ärgerte sich über sich selbst. »Wie konnte ich das bloß vergessen? Aber das erledigen wir morgen, jetzt ist Schlafenszeit. Hau dich hin, neben Marija.«

»Nein danke, Lelešius. Ich fahre.«

Lelešius fand für mich doch noch ein Paar ganz erträglicher Stiefel und zwei fast saubere Fußlappen, hängte mir seinen Bauernrock um und begleitete mich durch den Garten. Dann füllte er seine Mütze ganz mit Pflaumen, gab sie mir und legte noch eine Halbliterflasche von dem in Suvalkija hoch geschätzten einheimischen Schnaps »Tėviškės dumas« hinein. »Folgen Sie immer der Landstraße, dann kommen Sie zur Fernstraße. Gute Reise!«

Und dabei hätte ich jetzt in Fräulein Lelešiūtės Armen dahinschmelzen können, dachte ich, während ich durch den Staub schlurfte. Ich hätte in frühreife Äpfel beißen, das Leben genießen, malen, schreiben und hemmungslos faulenzen können, aber nein, stattdessen lief ich einsam und allein durch die Nacht, wenn auch nicht mehr barfuß. Aber ich schaffte es immer noch nicht, traurig zu werden, denn neben mir hielt ein italienischer oder schwedischer Superlastwagen. Die Fahrerkabine war hell und warm wie die Küche von Lelešius, und der Fahrer war jung und schön und hatte weiße Zähne. Neben ihm saß ein Mädchen, das nur Shorts anhatte, und sie erzählte mir, dass sie auf der Route Berlin – Kaliningrad – Minsk und noch weiter unterwegs seien. Es fiel mir schwer, die Augen von ihr abzuwenden: Ihre nackten Brüste waren fest wie Kohlköpfe, und auf dem Unterarm hatte sie eine Tätowierung, russisch, aber in gotischer Schrift: »Mama, hol mich zurück in deinen Bauch!«

»Pass auf, dass dir nicht die Augen aus dem Kopf fallen«, sagte Gvido, der Fahrer, ruhig, »sonst reiße ich sie dir raus.« Dann lachte er schallend: »Das ist überhaupt nicht lustig, denn dann siehst du nicht, wohin du gehst, fällst von der Brücke und zertrümmerst dir den Schädel, was meinst du?«

»Solche Dinger habe ich noch nie gesehen«, sagte ich und schlug die Augen nieder.

»Zwanzig Dollar, und du kannst sie haben «, lachte Gvido.

Ich stellte mich schlafend und fühlte mich blendend: Die Schuhe drückten nicht, der Rock war warm, und als wir eine Pinkelpause einlegten, gab ich eine Runde »Tėviškės dūmas« aus. Nataša nahm einen langen Zug direkt aus der Flasche, bis Gvido sie ihr wegnahm und ihr einen Schlag versetzte: »Du Nutte!«

Gvido und Nataša waren ein schönes Paar, sie fuhren zwischen Syrakus und den Rentieren hin und her und verdienten gut. Gvido nahm noch einen Schluck, holte unter dem Sitz eine ganz kurze, fast spielzeugartige Automatik hervor und fragte: »Soll ich dich abknallen?« Und damit ich um Himmels willen nicht merkte, dass er sich einen Scherz erlaubte, feuerte er eine kurze Serie in die Sonnenblumen ab, die vor einem Gehöft schwankten. Peng, peng, peng! Die schweren Köpfe neigten sich und fielen zu Boden. »Ganz wie Menschen!«, rief Gvido begeistert.

»Wie Menschen!«, stimmte die halbnackte Nataša fröhlich zu. Sie waren fast noch Kinder. Und sie lebten so grimmig. Jeden Tag Gefahren, der Weg und die Ungewissheit, was sie erwarten würde …

Als wir uns Vilnius näherten, zog sich Nataša an, das hieß, sie warf sich irgendein Oberteil über, das nicht einmal bis zum Bauchnabel reichte, und Gvido wurde ernst. Er verzog seine dunklen Augenbrauen und befahl mir: »Nimm das Spielzeug da an dich, bis wir wieder zurückkommen. Bei unserer Rückkehr hole ich sie mir, dann bekommst du zwanzig Mäuse. Alles klar?«

Zuerst weigerte ich mich. »Was soll ich damit? Ich habe keine Feinde. Das ist nicht nötig.«

»Das ist sehr wohl nötig«, erklärte Gvido, »und zwar für mich.« Und er warf mir einen solchen Blick zu, dass ich sofort zustimmte.

An der Pylimo gatvė stieß er mich aus der Fahrerkabine, gegenüber von der Pizzeria »Roma«. Eine ungemütliche Stelle, weiß Gott, aber unter dem Rock spürte ich die kühle Automatik. Sie war ruhig, doch fühlte ich mein Herz höchst unruhig unter dem Rock pochen.

Damit mir der Weg durch die nächtliche Stadt nach Žvėrynas nicht zu lang wurde, beschäftigte ich mich mit sinnlosen Übungen aus der angewandten Linguistik. Ja, das war ein Bauernrock und kein Bratenrock. Und erst recht kein Faltenrock, Über- oder Unterrock. Und er hatte nichts mit einem Rock von Elvis oder einem Whiskey on the Rocks zu tun. Wer hatte noch etwas über den Rock gesagt? Ach ja, Aistis:

Ausdauernd im Herzen, unter dem grauen Rock!

So hast du einst Europa gegen die Mongolen

verteidigt, mit nackter Brust!

Vielleicht würde Nataša mit ihrem Busen Europa verteidigen? Eher unwahrscheinlich.

Unweit von der Reformierten Kirche sah ich zwei ziemlich merkwürdige Männer, na, vielleicht waren sie selbst gar nicht so merkwürdig, aber ihre Tätigkeit war es. Der erste ging etwa zehn Schritte voraus und leimte über eine Strecke von rund zwanzig Metern Plakate und Porträts von Politikern der konservativen Partei an die Hauswände, und der andere riss die Früchte seiner Arbeit wieder herunter und klebte stattdessen Propagandawerke der Sozialisten hin. Beide arbeiteten schweigend, sahen sich nicht um und ließen sich durch nichts ablenken. Bei der Einmündung der Jogailos gatvė wandten sie sich zum Cvirkos skveras, setzten sich hin und begannen zu vespern. Es war vier Uhr morgens und noch dunkel.

Ich gesellte mich zu ihnen, zündete mir eine Zigarette an, bewirtete die beiden vorgeblichen Gegner mit hausgebranntem Schnaps und meinte: »Ich finde ganz schön merkwürdig, was Sie da tun! Der eine klebt Plakate an, der andere reißt sie gleich wieder herunter. Geht das in einen gesunden Menschenverstand?«

»Doch, doch«, antwortete der Jüngere von den beiden, der die Plakate von den Linken geklebt hatte. »Sehen Sie, mein Herr, morgen Nacht machen wir es genau andersherum: Dann gehe ich voran, und Juozas reißt die Plakate hinunter und klebt die von den Konservativen an. Wir werden anständig bezahlt, und danke für den Schnaps, er ist gut.«

»Eine merkwürdige Arbeit«, stimmte der magere Ältere rauchend zu. »Aber der Wahlkampf muss am Laufen gehalten werden, und es ist keine gefährliche Tätigkeit. Ich habe wirklich noch nie so einen guten Tropfen getrunken«, lobte auch er das Geschenk von Lelešius. »Er brennt auf der Zunge!«

»In die Politik mischen wir uns nicht ein«, versicherten mir die seltsamen Arbeiter zum Abschied einstimmig und verschwanden hinter dem Denkmal von Petras Cvirka.

Aber die Nacht hielt noch mehr unerfreuliche Überraschungen für mich bereit: Direkt an der Vykinto skersgatvis versperrten mir fünf junge Rowdys den Weg. Sie hatten eine Kette quer über den ganzen Gehsteig gebildet, und auch sie hatten mit Politik herzlich wenig im Sinn, aber ihre Absichten lagen ganz offensichtlich auf einem völlig anderen Gebiet. Ich feuerte eine Salve über ihren Köpfen ab, die Kugeln durchlöcherten die leicht gelblichen Lindenblätter, und die Killer stoben auseinander wie junge Spatzen. Das stimmt wirklich, Nabė, frag irgendwann Kapitän Milošas. Nein, er ist weder mit Oskaras Milašus noch mit Česlovas Milošas verwandt, sondern er ist ein echter Litauer aus Vabalninkas oder vielleicht auch aus Kvėdarna, ich erinnere mich nicht mehr so genau. Jedenfalls ist er ein Polizeikapitän, mittelgroß und blond. Nein, nicht »schweineblond gefärbt«, wie du es dir aus einem meiner Romane »über Liebe, Wein und Tod« eingeprägt hast, sondern echt. Er ist ziemlich breitschultrig, hat eine Narbe über der rechten Wange und einen Tic, das heißt er zuckt mit dem linken Augenlid. Warum du ihn fragen sollst? Ganz einfach: Gerade als die Feiglinge im Gebüsch verschwunden waren, tauchte vor mir ein alter Planwagen auf, genau von derselben Bauart wie der, mit dem einst Abrutis Vigilija ins Theater von Marijampolė kutschiert hatte, und aus ihm kamen vier Polizisten gesprungen, warfen mich zu Boden und fesselten mich. Milošas trat mich nicht allzu schmerzhaft in den Hintern, und natürlich nahm er mir die Automatik ab. Was würde ich Gvido sagen, würde er mich umbringen? Sie brachten mich zu der Wache neben der Bar »Ambasada«.

»Wer hat dich an der Stirn verletzt?« Ohrfeige links.

»Woher hast du die Knarre?« Ohrfeige rechts.

»Wohin warst du unterwegs?« Die Ohrfeigen wechselten sich ab.

»Wenn Sie sich so aufführen«, ich wurde ernsthaft böse, »dann erzähle ich Sie Scheiße!«

»Sie!« Milošas verzog sein Gesicht. »Kannst du kein Litauisch mehr?« Klatsch, klatsch. Sofort kam mein Kreislauf wieder in Schwung. »Ein nettes Ding«, gab Milošas zu. »Wie viel hast du dafür geblecht?«

»Zweitausend Greenbacks«, log ich. »Sehen Sie her, man muss bloß hier ein bisschen drücken, und sofort geht sie lautlos ab.«

»Du lügst, du Halunke!« Einer der Polizisten holte aus. »Ohne Schalldämpfer?«

»Nehmen Sie mir die Handschellen ab, dann zeige ich es Ihnen.«

Milošas nickte mit dem Kopf: »Abnehmen!«

Ich packte die Automatik, feuerte eine Schussserie an die Decke und zwang alle, an der Wand in die Knie zu gehen. Einer fiel in Ohnmacht, die anderen machten tatsächlich in ihre Uniformhosen, und ein heftiger Gestank erfüllte die ganze Wache. Wo nicht geschissen wurde, fiel der Putz brockenweise von der Decke. »Haben Sie schon genug?«, fragte ich auf dem Weg zur Tür. »Reicht’s?«

»Ist ja schon gut«, sagte Milošas mit grünem Gesicht, als er wieder zu sich gekommen war. »Jetzt gib mich dein Spielzeug, und wir sind quitt. Ich tue dir nichts.«

»Milošas«, sagte ich versöhnlich, »wenn ich erst auspacke, was du mit den kurdischen Flüchtlingen und den Nutten aus Weißrussland angestellt hast, wenn ich an geeigneter Stelle den Schwarzen erwähne, der in dem Teich bei der russischen Botschaft ertränkt worden ist, und wenn wir noch die geschändete Kuh von Jeremičius ausgraben …«

»Pssst!«, rief Milošas und wurde blass. »Psst! Ich gebe dir zweihundert Mäuse, wenn du die Klappe hältst.«

Ich ging davon aus, dass er log, aber er holte tatsächlich zwei Hunderter hervor und gab sie mir. Ich riss das Magazin heraus, schleuderte die Automatik auf den Boden und ging zur Tür.

»Du bist offenbar nicht auf den Kopf gefallen«, räumte Milošas ehrlich erstaunt ein.

»Ich bin ein Idiot«, gab ich zu. »Aber ich gehe. Ich weiß, dass du versuchen wirst, mich um die Ecke zu bringen, aber was soll’s, versuch’s nur.«

Ich vergrub meine Hände tief in den Taschen meines Bauernrocks und wandte mich der bereits geöffneten Bar »Ambasada« zu. Die Botschafter von Karakalpakistan und von Grönland schlummerten bereits tief und fest, aber an die Theke gelehnt standen ein paar Säufer, die ich vom Sehen kannte, und außerdem »Lokomotive GT«, die einzige Prostituierte von ganz Žvėrynas, die einen gelben Gewerbeschein hatte. Kaum hatte ich mich auf einen der hohen Barhocker gesetzt, kam auch schon der stets lebhafte Wirt Markas Aurelijus Schwarz angetrabt. Eigentlich hieß er mit Nachname Schwanz, aber alle nannten ihn diskret Schwarz.

»Was wünschen Sie? Das Übliche?« »Das Übliche« waren zweihundert Gramm reiner Wodka mit frisch gepresstem Gurkensaft. Überwältigende Wirkung und Durchfall inklusive.

»Nein, mein lieber Aurelijus«, flüsterte ich, »diesmal will ich einen doppelten Bannister. ›Bannister in canister‹. Noch nie davon gehört? Das Zeug hat mein Nachbar Rikardo in der Zeit um 1976 immer bestellt. Haben Sie was davon?«

»Leider nein«, seufzte Markas Aurelijus Schwanz. »Der Herr Rikardo ist hier zwar als raffinierter und hartnäckiger Trinker allgemein bekannt, aber von dem Whiskey, den Sie da erwähnen, ist nichts mehr da. Doch weil Sie Herrn Rikardo kennen, und, wie man so hört, auch den Bullen Milošas, gebe ich Ihnen auf Rechnung des ›Ambasada‹ einen Armagnac aus dem Jahre 1933 aus. Als Hitler an die Macht kam, hat mein Großvater, der aus Dummheit überall mit ›Schwantz‹ unterschrieben hat, diesen Schatz an einer geheimen Stelle eingebuddelt, und dort ist er geblieben. In Ordnung?«

»Klasse!«, freute ich mich und hörte durchs Fenster, wie Milošas seine Befehle erteilte: »Wir kesseln ihn ein! Serjoša, Kęstas! Vorwärts!«

»Jede Nacht gibt es eine Schießerei«, seufzte der Wirt, »manchmal sogar mit schallgedämpften Waffen. Aber ich höre alles«, sagte er und blinzelte verschmitzt.

»Ja«, stimmte ich zu. »Auch ohne Geräusch findet eine Kugel ihren Weg in das Herz des Menschen …«

»Reichlich banal«, maulte der Maître, »aber immerhin doppeldeutig. Ich schreibe es auf. Übrigens habe ich hier eine Nachricht für Sie.«

Und er gab mir deinen Zettel, Nabė. Er war so lieblos, dass ich regelrecht aufseufzte: zwei Sätze und fünf Interpunktionsfehler …

»Wir kriegen ihn, und zwar lebendig!« Milošas’ Stimme klang immer noch triumphierend. »Lebendig!«

»Und der Herr Rikardo kommt nur noch selten«, sagte der Besitzer des eingegrabenen Armagnacs. »Zumindest tagsüber. Ein netter Mensch, nicht wahr?«

»Sehr«, stimmte ich widerspruchslos zu. »Und die Autorin von dem da«, ich wedelte mit dem Zettel durch den Tabaksqualm, »kommt sie noch vorbei?«

»Es ist jetzt fünf Uhr morgens«, überlegte Markas Aurelijus. »Mademoiselle Nabelle erscheint immer um fünf Uhr nachmittags, und sie kommt nicht allein, das sage ich Ihnen lieber gleich ganz offen: Meistens begleitet sie ein einäugiger Soldat der Luftwaffe.«

»Sie kommt täglich?«

»Jeden Tag. Um fünf Uhr nachmittags. Soll ich es aufschreiben?«

»Nein. Was bestellt sie?«

»Der Flieger bestellt für sie einen trockenen Martini, aber sie nimmt ihren üblichen Gurkendrink und sprintet dann aufs Klo. Ich glaube, dass sie Sie immer noch liebt. Übrigens geht der Gurkensaft auf Ihre Rechnung, mein Herr.«

»Was Sie nicht sagen! Wie viel ist denn mittlerweile zusammengekommen?«

»Zweihundert Dollar, mein Herr. Lustig, nicht wahr?«

»Und wie, ich habe es sogar passend. Eine Bitte noch.«

»Ich höre, mein Herr.«

»Träufeln Sie ihr morgen ein bisschen Schlafmittel in den Gurkendrink. Wenn sie eingeschlafen ist, entführe ich sie.«

»Aber verzeihen Sie, mein Herr, von dem Zeug bekommt sie doch Durchfall!«

»Ich bezahle die Putzfrau. Abgemacht?«

»In Ordnung. Aber Sie haben mir nichts … Wie gesagt, ich habe nichts gehört, es steht Aussage gegen Aussage. Abgemacht.«

Als kurz darauf die Sturmtruppen von Milošas in das »Ambasada« eindrangen, marschierte ich schon die Kęstučio gatvė entlang, wo ich beinahe unter die Räder gekommen wäre, und das um fünf Uhr morgens! Es war schon fast hell, und eine Eskorte von schwarzen und weißen Limousinen kam die Schnellstraße entlanggedüst. Wie hatte ich das vergessen können, heute kam doch der Präsident von Mauretanien zu einem inoffiziellen Besuch nach Litauen, um Auerochsen und Auerhähne zu jagen oder vielleicht auch um sich eine Frau zu kaufen, eine Miss Baltikum. Natürlich war die Sache nirgends publik gemacht worden, aber wen es etwas anging, der wusste es, wie Gvido und Nataša, Kapitän Milošas oder Markas Aurelijus, und wer mit Rauschgiftschmuggel befasst war, der wusste über solche Kleinigkeiten wie die Visite des mauretanischen Herrschers erst recht Bescheid.

Wie gut, dass ich diese Automatik losgeworden war, denn ehe ich mich versah, hatte man mir die Hände auf den Rücken gedreht und durchsuchte mich schnell und gründlich, aber vergleichsweise schmerzlos. Dabei förderte man auch deinen Zettel zu Tage, Nabė, auf dem von der Glitschigkeit von Mollusken und von mangelnder Liebe die Rede war: »Schnecken empfinden nur wenig Liebe, aber sie flutschen so schön …«

Die mauretanischen Agenten waren der festen Überzeugung, dass es sich um einen kodierten Befehl handle, auf besonders hinterhältige Weise ihr Staatsoberhaupt zu liquidieren, also stellten sie auf merkwürdige Weise meinen Blutdruck fest, untersuchten meinen Urin und meinen Schweiß und hielten kurz Zwiesprache mit Allah, kamen dann aber zu der Überzeugung, dass ich ein harmloser Passant sein müsse. Sie bewirteten mich mit getrockneten Feigen, und als ich die beiden darum bat, mich mit ihrem Jeep nach Užupis zu bringen, nickten sie. Ich hatte nämlich beschlossen, einen Überfall bei der alten Morta Levul zu machen, die im Obergeschoss der »Blanchisserie« wohnte; um diese Zeit stand sie gewöhnlich auf, um ihre Ratten zu füttern.

Die alte Levul war stocktaub, aber wir verständigten uns auf das Prächtigste mit Zeichen, und sie erklärte mir auf subtile Weise, dass der Geigenspieler und der Perkussionist schon wieder ausgezogen seien und keinerlei Einwände gegen einen Literatursalon bestünden. Hierzu zog sie sich die Strumpfhosen aus, imitierte eine Geige und schlug mit den Fäusten scheppernd auf den verzinkten Boden eines Eimers, dass es nur so schepperte. Dann wickelte sie sich die Strümpfe um den Hals, streckte die Zunge heraus und stieß den Eimer die Treppe hinab. Ich verstand vollkommen: Der Virtuose hatte sich aufgehängt, und den Trommelkönig hatte sie höchstpersönlich die Treppe hinunterbefördert, aber die Araber wurden bei dem Schauspiel erneut unruhig, zogen die Alte nackt aus und untersuchten ihren Speichel. Zum Glück flüsterte ihnen Allah auch diesmal zu, dass keine Verschwörung im Busche sei, aber wäre dies tatsächlich der Fall gewesen, dann hätten es die beiden mit Sicherheit gemerkt …

»Wo um alles in der Welt bist du gewesen?«, fragte meine Frau Terezija schläfrig und überhaupt nicht böse. »Gerty Gaston hat aus New York angerufen, sie will einen Vertrag mit dir unterschreiben.« Terezija hatte sich schon die Haare gewaschen, Kaffee gekocht und rauchte jetzt zerstreut eine Zigarette, lang und dünn wie ein Strohhalm. Ich dachte an die Seifenblasen von Bul Bul und lächelte kaum merklich. Eigentlich hatte ich alles ja ganz genau erzählen wollen, aber Terezija hatte ihre naive Frage schon wieder vergessen und gähnte: »Ich habe von Krishna geträumt! Er war so schön, und ich hätte gerne noch ein bisschen länger geschlafen! Moment mal, bist du wirklich nach Hause gekommen, oder träume ich noch?«

Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons

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