Читать книгу Ein Mann liest Zeitung - Justin Steinfeld - Страница 5

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I.

Es ist eine Schande.« Gewiss keine arge Schande, sondern nur eine unwesentlich kleine und noch dazu die ganz persönliche eines durchaus gleichgültigen Mannes. Hätte Leonhard Glanz jemals über der Zeiten große Schande nachgedacht, in der er seines Lebens Mannesjahre verbrachte, diese Jahrzehnte nach dem mörderischen Ersten Weltkrieg, so hätte er gewusst, dass eben dieses Wort Schande ein Superlativ im Geschehen der Welt ist. Da aber Leonhard Glanz gerade jetzt zu eben diesem Denken kommen sollte, so ist es unsere Aufgabe, ihm auf den krummen und ganz systemlosen Wegen zu folgen, die ihn dahin kommen lassen. Nehmen wir diese Begleitung auf verknäuelten Wegen als eine Pflicht auf uns, so enthebt uns das der anderen, peinlichen Pflicht, selbst über die infame Schande unserer Tage nachzudenken, die so penetrant zum Himmel stinkt, dass in ihrer Pestatmosphäre längst die mühselig aufgezogene, allgemeine, menschliche Kultur verdorben ist, gleich für Blütenkeimlingen unter schmierigem, giftigen Mehltau. Denn bedächten wir einmal des Tages, des eben gleichen Tages Schande – da ist keine Ausnahme, keine, – so müssten wir weinen ob dieses niederträchtigen Elends. Und weinten wir, so müssten wir erblinden, denn der Tränen wäre kein Ende.

Aber die Welt ist schön in der Pracht ihre Farben, der Unendlichfältigkeit ihrer Gestalten. Strahlende Welt, wohlgeschaffene, formvollendete Welt. Dass wir dich sehen. Dass wir dich schauen. Wir haben ja keine Lust, uns blind zu weinen. Wer tut uns das? Hinweg mit ihm. Nieder mit ihm. Schlagt ihn, schlagt, schlagt ihn tot. Aber gerade das hatten wir in dem mörderischen Weltkrieg getan. Zehn Millionen Menschen hatten wir ja totgeschlagen. Es müssen die Falschen gewesen sein. Denn sahen wir danach die Welt in ihrer Pracht und ihrer Schönheit? Nichts sahen wir in des Alltags Grau und das Wochenende der genau bemessenen Freizeit ist nur ein Abziehbild. Wir hatten die Falschen erschlagen. Und nun stecken wir in der Zeiten Schande. Bis an den Hals. Tiefer. Bis an die Nase. Tiefer. Bis über die Augen.

»Es ist eine Schande«, sagte der gleichgültige Mann Leonhard Glanz halblaut vor sich hin. Und er meinte damit den niemanden interessierenden Umstand, dass er sich schon am frühen Morgen in ein Kaffeehaus begab, um dort so oder so seine Zeit zu vertun. Allerdings, dieser sein früher Morgen war schon vorgerückter Vormittag. Leonhard Glanz war ein Spätaufsteher. Nicht von jeher und aus Gewohnheit. Nein, früher war er sogar immer sehr zeitig aufgestanden. Vielleicht werden wir von diesem Früher noch etwas erfahren, wo Leonhard Glanz noch seinem Beruf nachging, der zwar nichts mit Berufung zu tun hatte, aber eine lebhafte Beschäftigung war. Beschäftigung, Geschäft, Geschäft, Geschäftigkeit, Heftigkeit, Heft, Haft, Haft, Haft.

Die Spirale, in der sich da eben das Denken des Leonhard Glanz bewegte, löste eine frostige Ängstlichkeit in ihm aus. Er sah scheu zur Seite, vergewisserte sich aber sogleich, dass die ankriechende Angst ganz grundlos sei. Denn hier war die warme Sicherheit, die Geborgenheit in einem nicht eleganten, aber anheimelnden Kaffeehaus. Und ein kleiner, rundlicher, steifbeiniger Wirt zog ein begrüßendes, breites Schmunzeln auf, das ihm leichter fiel als eine Verbeugung und das den Gästen das Gefühl familiärer Zugehörigkeit gab. Kein Lächeln, das wie Sonnenschein über eine Wasserbahn zieht, nein, ein rechtes, breites Schmunzeln, das zerläuft, wie ein Fettauge auf dünner heißer Suppenbrühe.

Leonhard Glanz setzte sich in die Ecke eines mit der Zeit höchst nachgiebig gewordenen Plüschsofas. Man meint zu sitzen, aber nein, noch nicht. Jetzt erst. Ein klein wenig zu tief hinter dem Marmortisch. Leonhard Glanz fühlt sich wieder gerechtfertigt, vor sich selbst und vor der Welt. Er ist ein Mann moralischer Grundsätze. Freilich bedurfte es nur des rundlichen Wirtes schmalzgebackenen Schmunzelns, um das säuerliche Bedenken zu beheben. Und so, im Vollgefühl seiner persönlichen Lebensrechte, bestellt sich Leonhard Glanz beim Kellner einen Braunen, mit Schlagobers, dazu frische, blonde Semmeln und Zeitung. Natürlich Zeitung. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Man muss etwas auch für das Geistige tun, obwohl es Leonhard Glanz nicht zu sehr auf das Geistige ankommt, aber man muss doch wissen, was in der Welt eigentlich gespielt wird. Also Zeitung.

Für das Morgenfrühstück ist es wohl schon reichlich spät. Die Stadt hat schon um Stunden früher mit ihrer Arbeit begonnen. Freilich, Leonhard Glanz hat jahrzehntelang um diese Tageszeit auch schon ein tüchtiges Teil Betätigung hinter sich gehabt. Tätigkeit könnte man allenfalls noch sagen, wenn auch ihr Tür selbst es Arbeit nannte. Es war aber keine Arbeit und es wird sich ergeben, dass Leonhard Glanz überhaupt keine Arbeit verstand, aber auch ganz und gar keine.

So braucht also dieser späte Frühstücksgast vor sich selbst in dieser Beziehung keine moralischen Bedenken zu haben. Der Wirt? Wir entsinnen uns des leckeren Schmunzelns. Der Kellner? Ha, der Kellner. Leonhard Glanz hatte gelernt, dass ein Kellner für den Gast kein gleichberechtigtes Wesen sein könne. Ein Kellner, was ist schon ein Kellner. Bitte sehr. Bitte gleich. Einen weißen Kaffee, braunen Kaffee, schwarzen ohne. Frische Brötchen. Mit Butter. Bitte sehr. Ohne Butter. Wie Sie wünschen. Bitte nur Platz zu nehmen. Das Messer ist stumpf. Hier ein besseres Messer. Ein besserer Esser. Sofort. Sogleich. Ein Glas Wasser. Im Augenblick. Mit einer Fliege darin. Ganz ohne? Bitte sehr, ganz wie der Herr befehlen. Ein Zöllner. Ein Kölner. Ein Kellner. Lächerlich. Ein Kellner ist für Leonhard Glanz kein Wesen. Natürlich nur in seiner Eigenschaft als Kellner. Sonst? Ich bitte Sie. Im Zeitalter des Humanismus. (Oder wie nennt man es doch? Humanismus? Natürlich Humanismus. Humanismus ist ein gutes Wort.) Allerdings hat Leonhard Glanz vor gewissen Kellnern in sehr teuren Restaurationen immer eine gewisse Angst gehabt. Sie waren so vornehm, diese Kellner. Man weiß auf einmal gar nicht mehr, wie man eigentlich Messer und Gabel anfassen soll. Was? Frischen Spargel soll man mit der Hand …? Was Sie nicht sagen.

»Ober, wo bleibt denn mein Kaffee?«

Ist schon da. Bitte sehr. Der Kaffee rechts, die Brötchen links. Die Butter in der Mitte. Die Zeitung. Ist schon da, die Zeitung. Die Morgenzeitung von gestern Abend. Das Mittagsblatt von heute früh. Die Zeitung von morgen. Wie der Herr befehlen.

Bitte sehr.

Wieviel ist eigentlich die Uhr? Wie bitte? Das will ich gar nicht wissen. Wozu brauche ich das zu wissen? Für mich ist es früh am Morgen. Sieben Uhr, acht Uhr. Neun, zehn, elf. Wo ist der Unterschied. Der Tag ist noch lang genug. Der Tag wird sogar noch viel zu lang werden. Für einen, der mit der Arbeit fertig ist, wenn er aufgestanden und sich angekleidet hat. Leonhard Glanz hat nichts zu tun.

Elf Uhr vormittags und nichts zu tun? Elf Uhr vormittags? Herr Glanz, rufen Sie doch bitte mal die Bank an, es fehlen noch zweitausend Mark für die Wechsel, die wir heute einzulösen haben. Herr Glanz, wollen wir die Offerte von Liverpool nun acceptieren? Wir müssen bis zwölf Uhr gedrahtet haben. Herr Glanz, draußen ist der Vertreter von der oldenburgischen Jute-Sack-Fabrik. Herr Glanz hin, Herr Glanz her. Die Bank, die Post, die Expedition. Melden Sie mal dringendes Gespräch mit Oldörp in Lübeck an, ich muss den alten Oldörp sprechen. Fragen Sie mal bei der Paketfahrt an, ob die »Washington« noch für hundert tons Raum hat. Wo ist eigentlich mein Tintenstift? Mein Tintenstift, Tintenstift?

Elf Uhr vormittags. Und Leonhard Glanz sitzt beim Morgenkaffee. Und es ist ganz egal. Es ist sogar schon Viertel nach.

Ganz egal.

Warum? Ach so, Sie meinen wieso? Leonhard Glanz hat doch gar kein Geschäft mehr. Leonhard Glanz hat doch gar keine Beschäftigung mehr. Hat keine Tätigkeit und nichts zu tun. Leonhard Glanz hat überhaupt nichts mehr. Nicht einmal Geld. Keine Angst. Das Frühstück wird er bezahlen. So viel hat er noch. Für zwei Wochen. Sagen wir mal, für drei Wochen. Wenn keine Mädchen dazwischenkommen, für vier Wochen. Was kosten hier wohl die Mädchen? Sagen wir, fünf Wochen im Höchstfall. Aber ist das Geld? Und dann, nach fünf Wochen und einem Tag? Leonhard Glanz hat nichts mehr. Garnichts. Leonhard Glanz ist ein Emigrant.

Vielleicht, vielleicht wird Leonhard Glanz, der Emigrant, zum ersten Mal in seinem Leben einen Beruf haben. Vielleicht. Wenn es auch vorläufig noch nicht danach aussieht. Kaffeehaussitzen und sonst alles egal Finden ist gewiss kein Beruf. Das wird einen Kampf geben. Da werden die Dinge aufeinander schmettern. Da werden die Trompeten blasen. Da werden sich die Riesen und Drachen in Harnisch werfen, auf in das Giftgas. Mit flatternden Fahnen und einstweilen noch haltender Bügelfalte. C-Dur und fortissimo. Leonhard Glanz hatte einmal eine Freundin, die spielte Klavier. Allegro moderato und so. Sie war blond und die Musik von Mendelssohn. Keine Ahnung hatte sie, was das für eine Rassenschande war. Mendelssohn und dann Leonhard Glanz. Als er sie zuletzt traf, zufällig auf der Straße, kam sie ihm mit hochgerecktem rechten Arm entgegen. Es war peinlich. Nicht zu sehr, weil Leonhard Glanz den »deutschen Gruß« der alten Römer ja nicht erwidern konnte, sondern weil sie – es war im heißen Sommer – eine farbige Seidenbluse trug und unter der Achsel war die Bluse feucht und die Farbe hässlich ausgeschwitzt. »Guten Tag«, sagte Leonhard Glanz, da fiel ihr erst das Rassenschänderische ihres Betragens ein. Der Arm fiel herunter, das eben noch lachende Gesicht zerfiel zu Angst. Sie blickte sich scheu um und ging schnurstracks in das nächste Haus. Es war der Laden der Beerdigungs-Gesellschaft St. Anschar. Pompöse Särge mit Beschlägen aus unechtem Silber standen in der Auslage. Es war das richtige Ende einer Liebschaft mit unechten Silberbeschlägen.

Aber nun endlich die Zeitung. Was liest ein Mann wie Leonhard Glanz zuerst in der Zeitung? Hinten, bei den Annoncen der Stellenmarkt. Allerdings wusste Leonhard Glanz aus nun bereits achttägiger Emigrantenerfahrung, dass ihn dieser Teil der Zeitung eigentlich am allerwenigsten anging. Er machte sich noch nicht strafbar, indem er die Rubrik der »offenen Stellen« las – die Überschrift schien ihm einen übelriechenden, medizinischen Beigeschmack zu haben. Hautkrankheit oder so –, aber er würde sich strafbar machen, wenn er sich um einen freien Arbeitsplatz bewarb. Emigranten dürfen keinen Arbeitsposten annehmen. Zwar gilt im Lande die Bibel. Sie findet mancherlei Auslegung. Je nachdem, ob das Kreuz dominierte, an dem einmal einer gestorben war, der gekommen war, um die Bibel zu erfüllen, oder der Kelch, in dem sein Blut aufgefangen worden war, oder gar die Doppeltafel, – Römisch I bis III und Römisch IV bis X – des Dekalogs jenes Volkes, das angab, besonderer Hüter der Bibel zu sein, dem Leonhard Glanz angehörte, das in dem Lande, aus dem er geflüchtet war, verrecken sollte und deswegen war Leonhard Glanz ja jetzt hier. Vertrieben aus dem Lande, aus der Stadt, aus dem Geschäft, das er doch vom Vater geerbt hatte. Was hat das eigentlich mit der Bibel zu tun? Achso. Ja.

Steht da nicht in der Bibel, dass der Mensch im Schweiß seines Angesichts sein tägliches Brot erwerben soll? Sechs Tage lang. Und nur am siebenten Tag soll er ruhen. Gilt das, oder gilt das nicht? Das gilt. Nur eben für Emigranten gilt es nicht. Gewiss, natürlich. Aber was wollen Sie denn? Hab ich was gesagt? Na, also. Die Bibel ist die Bibel. Und sie gilt auch auch für Emigranten. Darf ein Emigrant etwa morden? Darf er stehlen? Darf er lügen? Darf er falsch Zeugnis sprechen? Darf er begehren seines Nächsten Gut? Er darf es nicht. Die Bibel ist die Bibel.

Herr Glanz, Sie sind doch ein moralischer Mensch. Also was wollen Sie denn? Was haben Sie da auf einmal für merkwürdige Gedanken im Unterbewusstsein? Oder ist das schon gar kein Unterbewusstsein mehr? Das ist schon ein Zwischenbewusstsein. So rebellisches Zeug haben Sie doch früher nicht gedacht. Wie? Wenn man sich an zehn Fingern nachrechnen kann, an welchem Tage man seine Miete nicht wird bezahlen können, kein Frühstück, kein Mittagbrot, kein Abendessen. Was hat das mit der Bibel zu tun? Ich sage Ihnen, die Bibel ist die Bibel. Und was da steht, das steht. Nur der eine Satz da, von der Arbeit, der gilt nicht für Sie, Herr Glanz. Da ist eben eine Ausnahme. Weil Sie ein Emigrant sind, Herr Glanz. Bitte sehr. Tun Sie, was Sie wollen. Gehen Sie spazieren oder sitzen Sie im Kaffeehaus. Lassen Sie sich von der Sonne bescheinen oder werden Sie vom Regen nass. Werden Sie braun im Sommer, brechen Sie ein Bein beim Wintersport. Lesen Sie Bücher oder Zeitungen, spielen Sie Schach oder Billard oder Bridge, füttern Sie die Vögel im Park oder bohren Sie mit den Fingern in der Nase. Alles können Sie tun oder lassen. Nur das bisschen Arbeiten, Herr Glanz, nein, das dürfen Sie nicht.

Die Bibel, die Bibel, die Bibel. Von Emigranten steht nichts in der Bibel. Von der Wirtschaftskrise wird wohl eher etwas drin stehen. Aber von Emigranten? Ich weiß nicht. Übrigens da gibt es einen gelehrten Wunderrabbiner. Ich glaube in Munkacz oder so. Er trägt seidenen Kaftan und einen breiten Hut mit Pelzverbrämung. Vielleicht ist der, den ich meine, auch schon tot. Das macht nichts. Dann hat er sicher einen Sohn oder einen Schwiegersohn, der sein Geschäft geerbt hat. Wie? Geschäft mögen Sie nicht? Sie stoßen sich an dem Wort? Also sagen wir: einbringlichen Beruf. Der also den einbringlichen Beruf nebst der Würde und natürlich auch die Allwissenheit geerbt hat. Also den fragen Sie mal. Und der weise Wunderrabbi wird Ihnen bestimmt sagen und zeigen, was und wo es in der Bibel steht, dass die Emigranten nicht arbeiten dürfen. Nebst dem, was Ben Akiba dazu kommentiert hat und Meir ben Asarjo und der große Rambam. Denn der Wunderrabbi steht auf dem Boden der jeweils gegebenen Tatsachen. Jawohl, werter Herr Emigrant. Tatsache.

Mit dem großen Rabbi Löw, dessen Denkmal der Emigrant am neuen Rathaus gesehen hat, mit dem hat so ein Wunderrabbiner nichts zu tun. Komisch das Denkmal, wenn man in dieser Zeit aus Deutschland kommt. Der große jüdische Rabbiner mit langem Bart als Wahrzeichen vor dem Rathaus einer europäischen Hauptstadt. Wer war das noch? Der Mann, der den Golem besessen hat. Richtig, Paul Wegener hat das mal im Film gemacht. Einen künstlichen Menschen als Hausdiener. Eine billige Arbeitskraft, aber wahrscheinlich war der Anschaffungspreis sehr hoch. Sowas amortisiert sich nie. Die ganze Geschichte soll übrigens gar nicht wahr sein. Die Reste des Golems sollten im Dachspeicher der uralten Synagoge, der Altneuschul, aufbewahrt sein. Aber Egon Erwin Kisch soll da hineingestiegen sein, obwohl die jüdische Gemeinde es verboten hatte, und soll festgestellt haben, dass da nur Dreck und Staub war und gar kein Golem. Komisch, dieser Kisch und überhaupt. Ob der große Rabbi Löw wirklich vom Geheimnis um tot und lebendig wusste? Ob er eine Menschenform aus Lehm richtig lebendig machen konnte? Wahrscheinlich Blödsinn. Schade, dass es damals kein Patentamt gab. Dann wäre doch etwas darüber erhalten. Immerhin dieser Rabbi Löw, mit und ohne legendärem Geheimnis, hat einen irrsinnigen Kaiser in Bezirke des Menschlichen zu lenken gewusst. Das war schon was. Vielleicht war dieser wahnsinnige Kaiser sein Golem. Aber mit dem Wunderrabbi von Munkacz oder so, der eine direkte Telefonleitung zum lieben Gott hat und mit I-H-M jederzeit sprechen kann, über die wortwörtliche Lehre, damit kein Buchstabe um seinen Sinn komme und wenn auch der Geist darüber vom Satan geholt werde, mit diesem Wunderrabbi im seidenen Kaftan und dem gesunden Appetit und dem hohen Ansehen bei den Reichen der Gemeinde und im unnahbaren Respekt bei den Schnorrern, hat das nichts zu tun. Was heißt hier Rabbi Löw? Herr Glanz, Sie sind ein Emigrant. Und ein Emigrant ist ein Schnorrer. Sie sind noch keiner? Nun, Sie werden schon sehen.

O nein. Leonhard Glanz ist fest entschlossen, kein Schnorrer zu werden. Er nicht. Rasiert er sich nicht jeden Morgen und hat einen sauberen Kragen um, und eine Bügelfalte in der Hose – er legt sie jeden Abend zwischen Bettlaken und Matratze, das ist so gut wie bügeln – freilich, es kann einer glatt rasiert und alle Tage rasiert und doch ein Schnorrer sein, und es kann einer in ausgefranzten Hosen laufen und ohne Schlips und doch ein König sein. Einer, der Königreiche zu verschenken hat. Leonhard Glanz will kein Schnorrer sein. Ein König auch nicht. Dazu fehlt es ihm an Fantasie. Er will einfach arbeiten.

Ach so. Der Wunderrabbi von Munkacz oder so, der genau aus der Bibel nachweisen kann, warum ein Emigrant nach Gottes wohlweislichem und gerechtem Ratschluss nicht arbeiten darf. Sowas muss einem passieren.

Leonhard Glanz hat früher für die Leute die nicht arbeiten, nicht viel übrig gehabt. Was heißt keine Arbeit? Was heißt keine Stellung? Ein Mensch, der arbeiten will, findet immer etwas zu tun. Ein Mensch, der was kann, findet immer einen Posten. Sehen Sie mich an. In zehn Jahren habe ich noch keinen Tag gefaulenzt. Unberufen. Dreimal unter den Tisch geklopft. Aber Holz muss es sein. Dieses ist kein Holz. Dieses ist kein Schreibtisch im Kontor, mitten in der Kaufmanncity. Dieses ist ein etwas wackliger Marmortisch in einem Kaffeehaus. Immer wird man aus seinen Gedanken gerissen. In eine Wirklichkeit, die ja im Augenblick nicht gerade rauh ist, aber ein wenig dreckig, speckig und glänzend, wie eine abgetragene Hose.

Arbeiten verboten. Trotzdem. Die Rubrik der offenen Stellen kann man durchsehen. Das ist ja noch nicht verboten. Vielleicht findet sich die Möglichkeit irgendwo durch das Gitter des Gesetzes hindurchzuschlüpfen. Die einen, diesseits des Gitters, dürfen arbeiten, die anderen, jenseits des Gitters, dürfen nicht. Das ist wie im zoologischen Garten. Welches sind nun eigentlich die Bestien hinter dem Gitter und welches sind die Betrachter davor? Was denkt sich wohl so ein Löwe, wenn er die Menschen hinter dem Gitter sieht? Oder ein Elefant? Oder die Riesenschlange, die grässlich gebläht ein Kaninchen verdaut, wenn sie die an den dicken Glasscheiben zu weißlichen Flecken plattgedrückten Nasen sieht?

Wo ist diesseits und wo ist jenseits? Wer der Jäger ist und wer der Gejagte, das ist raus. Wer der Gefangene ist und wer der Gefangenenwärter, das ist auch heraus. Wer aber hat die Freiheit? Der da eingeschlossen ist, oder der da aufpassen muss, dass der Gefangene nicht ausbreche? Wer kommt nicht los von dem rasselnden Schlüsselbund? Affenkäfig am Sonntagnachmittag, mit tausend grinsenden Menschen davor. Worüber grinsen die eigentlich? Ist es das, was den Menschen menschlich macht, dass er lachen kann, dass er lächeln kann. Das kann kein Tier. Auch der menschenähnlichste Affe nicht mit dem Greisengesicht. Aber grinsen? Hamlet hat geirrt: »Dass einer lächeln kann und immer lächeln und doch ein Schurke sein.« Jener Claudius hat gegrinst. Lächeln tun die Beseligten.

Das Gitter. Das Gitter. Das Gitter. Wer ist davor und wer ist dahinter? Was hat der Wolf getan, dass man ihn fing? Mit Schlauheit, mit raffinierter Schlauheit, machten sie aus seiner Freiheit zu fressen nach seines Hungers Drang, eine heimtückische Falle. »Das ist der Wolf, der das Rotkäppchen gefressen hat und die Großmutter.« Immer hin und her. Hin und her. Am Gitter entlang. Hin und her. Und an der Wand, mit den Vorderpfoten ein karges Stück hinauf. Hin und her. Die Wand hüben, die Wand drüben sind abgewetzt, da, wo die Vorderpfoten über sie hinaus zu greifen so zwecklos bemüht sind. Hin und her. Und es ist garnicht wahr, dass er das Rotkäppchen gefressen hat und die Großmutter schon garnicht. Hin und her. Um Schauobjekt zu sein, zu einem bösen Märchen mit verlogener Moral, muss er hin und her. Manchmal bleibt ein Hund vor des Gitters anderer Seite mit stehen. Der gehört zu dem Menschen, der eben auch da steht. »Da ist der Wolf, der …« Der Hund aber kläfft. Kläfft sich heiser und geifert vor Wut. Er hasst den Wolf mit fantastischem Hass. Weil er selbst einmal ein Wolf gewesen. Wie lange ist das her? Hunderttausend Jahre oder so, als der Hund sich dem Menschen als Sklave ergab. Sich ihm verkaufte, für eine Handvoll abgenagter Knochen. Aber er weiß, dass er ein Sklavenvieh ist, ein Hund. Wie spricht der Hund? Wau, wau, für ein Stück Zucker. Gibt Pfötchen und macht hübsch, um einem Peitschenhieb. Du treue, poetische Hundeseele, um einen Teller Hundereis. Der da aber, hinter dem Gitter, der wilde Wolf, der kapituliert nicht. Wie weit, du poetische Hundeseele, reicht deine Welt? So weit, wie die Hundeleine oder der Pfiff des Herrn dich laufen lässt. Und keinen Schritt weiter. So wahr dein Herr die Macht hat, die Kraft und die Herrlichkeit, mit Zuckerbrot und Peitsche. Wau, wau und Heil. Der da aber, hinter dem Gitter, der da in seinem Kerker, der ist frei. Hin und her. Hin und her und träumt von der Steppe endloser Weite, von des Waldes dunkler Wärme, vom Strom, der aus Fernen kommt und in Fernen geht und der felsenhart ist, wenn der Frost klirrt und die Welt in ihrer Weiße noch weiter als sonst. Darum, weil er der Freie ist, muss der Sklave ihn hassen. Und muss ihn geifernd verbellen und verkläffen, dass die Steuermarke an seinem Halsband bebt. Du Hundeköter mit dem Maulkorb als deiner Zivilisation höchste Errungenschaft. Du Hund, du Hund, du Hund. Du und du und du. So ein Wolf im Käfig, der kann einmal ausbrechen. Und kann er es nicht, er bleibt, wer er ist. Aber ihr Hunde, ihr brecht nicht aus. Ihr kommt von der Leine nicht los, vom Maulkorb nicht und der Hundehütte. Und bewahrt dem Herrn das Haus und den Hof, mit Hab und Gut und Kisten und Kasten und das gekachelte Klosett. Für die Abfallknochen von seinem Tisch.

Leonhard Glanz. So wie du denkst, wirst du nicht durch das Gitter brechen. Mit einem Dreh nicht. Du wirst schon merken.

Ein Konzipient wird gesucht. Angebote mit Referenzen und Studiumerfolg sind da zu senden … Was ein Konzipient ist, weißt du nicht genau. Bei dir zu Hause nannte man das irgendwie anders. Studiumerfolg? Universitäten hast du nicht besucht. Aber die Hochschule des Lebens, meinst du. Erlebt hast du vielleicht so mancherlei. Aber ob du etwas gelernt hast? »Herr Ober«, diesmal in der Eigenschaft als Mensch, nicht als Kellner, »was ist hierzulande eigentlich ein Konzipient?« Ach so. Danke. – Kommt ja garnicht in Frage.

Junger Mann aus der Eisenbranche. Wie lange ist man heutzutage »Junger Mann«? Auf Grund der verbesserten sanitären Umstände bleiben die Menschen ja länger jung. Und dann der Sport. Leonhard Glanz hatte einmal ein Reitpferd für die Woche und eine Segelyacht für den Sonntag. Was hat er nun? Jedenfalls noch alle Haare auf dem Kopf. Und noch ein jugendliches Aussehen und Gehabe. Beinahe fünfzig? Wer sähe ihm das an? Junger Mann? Wenn weiter nichts ist. Freilich, er selbst hätte einen »jungen Mann« dieses Alters nicht mehr eingestellt. Schließlich hatte er ja ein Geschäft und keine Versorgungsanstalt. Aber Eisenbranche?

Exakter Rechner für Fakturierung wird gesucht. Ob er ein exakter Rechner ist? Das kann er wohl sagen. Hat er nicht immer sogar etwas mehr können, als exakt rechnen? Eine Ware kaufen mit 47 shilling und 6 pence und sie verkaufen mit 52 shilling und 3 pence, das wären genau zehn Prozent Nutzen. Aber die Börse muss man riechen können. Richtig einsteigen und richtig wieder aussteigen. Darauf kommt es an. Dafür hat Leonhard Glanz das Gefühl in den Fingerspitzen gehabt. Das ist mehr als exakt rechnen. Aber Fakturen ausschreiben? So viel brutto und so viel Tara, so viel Fracht und so viel Assekuranz, plus zwei Prozent Zinsen über Bankdiskont für das Dreimonatsaccept. Nein, das hat er nie gemacht. Dafür hat man doch seine Leute. Mit solchem Krimskrams hat er sich nie abgegeben. Exakter Rechner für Fakturierung? Ist ja Mumpitz.

Heizungstechniker für Transmissionsberechnungen. Was es nicht alles gibt. Heizer, so hatte Leonhard Glanz geglaubt, sind große, starke Männer, die mit mächtigen Schaufeln auf Schiffen und in Fabriken vor den Kesselfeuern stehen und Kohlen aufschmeißen. Mit nichts an, als einer alten Leinenhose und ein paar Holzpantoffeln. Von Öl und Kohlenstaub sind sie zumeist so verschmiert, dass man garnicht unterscheiden kann, ob so ein Heizer ein Weißer sei oder ein Neger. Ist ja auch ganz egal, in diesem Fall. Der Heizraum einer Eisenhütte ist ja schließlich kein amerikanischer Pokerklub. Im Roten Meer soll es so heiß an Kesselfeuern der Dampfer sein, dass manchmal ein Heizer irrsinnig wird. Der rennt mitten im Dienst von der Arbeit fort, die Treppen hinauf an Deck und über Bord. Und weg. Scheußlich. Das ist doch kein Beruf. Was heißt da mit Transmissionsberechnung?

Speditionsbeamter gesucht, beider Landessprachen mächtig. Adressenschreiber. Hausmeister. Elektro-Installateur. Eingeführter Reisender für Herrenmoden. Herrenmoden. In der Eile und dem Halsüberkopf, mit denen man losfahren musste, sind nicht einmal die Krawatten mitgekommen. Eine aus grüner Seide und eine aus blauem Foulard mit gelblichen Punkten. Das ist alles. Heute hat Leonhard Glanz die grüne an. Bei einem braunen Anzug. Welche Zusammenstellung, wo doch draußen Regenwetter ist. Einzig eine bordeauxfarbene Krawatte hätte ihm heute gepasst, zu dieser Stimmung. Er hatte daheim eine sehr schöne bordeauxfarbene Krawatte. Wer weiß, wer die jetzt trägt, verknautscht, versaut. Irgendso ein Sturmtruppführer, wenn er in Zivil ist. Die Kerle haben ja alles geklaut. Beschlagnahmt, nennen sie das.

Ein Bäckergeselle wird gesucht. Brotbacken und so. Abends Teig kneten. Schmierig bis an die Ellenbogen. Aus sowas wird Brot. Morgens um drei aufstehen und backen. Welche Hitze. Ein Bäcker ist doch kein Heizer, zu einer Zeit, drei Stunden nach Mitternacht. Da kann man schlafen gehn. Noch in die Bar? Ne, Herr. Der Abend hat mich schon Geld genug gekostet. Ich lege überhaupt keinen Wert mehr auf Nutten. Wissen Sie, ich will demnächst heiraten. Ein Bäckergeselle? Kannst du balancieren, lieber Freund? Ein Brett auf dem Kopf. So groß. Und darauf große Kuchen und kleine Kuchen. Schaumgebackenes und Gugelhupf. Und damit durch die Straßen. Auf dem Fahrweg natürlich. Mittendrin, wo alles treibt und rattert und wackelt. Nur das Brett auf dem Kopf mit den Kuchen. Das ruht in sicherer Schwebe. Können Sie das? Herr, garnichts können Sie. Meine Kipferln, die ich gebacken habe, als Sie noch schliefen, als müsste das so sein, die können Sie essen. Immerzu, solange es Ihnen schmeckt. Herr, ich sage Ihnen, ich weiß manchmal nicht, wo ich das Geld hernehme für sechs von den Semmeln, von denen ich tausend gebacken habe. Haben Sie eine Ahnung. Nicht einmal balancieren können Sie.

Noch ein Reisender wird gesucht, für Toilettenartikel. Wird gesucht. Ein Reisender ging verloren. Hautcrème bei Tage und Hautcrème bei Nacht. Zahnpasta auf wissenschaftlicher Basis. Puder in siebenundachtzig Farben. Lippenstifte, echte, aus Maulbeerbaumläusen. Rasieressig, ha. Haarwasser und Lockennadeln. Kennen Sie den Witz von den Lockennadeln? Es war einmal ein Mädchen, das trug extralange Strümpfe. So lang … ach so, kennen Sie schon. Vielleicht wäre ich doch ein guter Reisender für Toilettenartikel. Nagellack, Nagelbronze à la Josephine Baker. Seife.

Haben Sie eine Ahnung, was Seife sei? Sie ziehen Lavendelseife vor. Na ja. Exterikultur. Warum auch nicht. Es war einmal eine Arbeiterin in der Seifenfabrik. Sie war im achten Monat oder so. Und da ging sie unsicher. Diese Leute sind ja auch so unvernünftig. Anstatt rechtzeitig mit der Arbeit auszusetzen. Und da fiel sie in einen der riesigen Seifenkessel. In die siedende Seifenmasse. Als man sie herausholte … als man sie herausholte … als man … es war nicht viel mehr als ein Skelett. Die glühende Seifenmasse, die frisst, mit Haut und Haar. Vielleicht, wer weiß, ist Ihre Lavendelseife von da. Aber ein Reisender in Toilettenartikel hat es auch nicht leicht. Haben Sie mal Lavendelseife zu verkaufen. Auf einmal will kein Mensch mehr Lavendelseife. Juchten ist in der Mode. Nagelfeile und Nagelschere. Leonhard Glanz, deine Nägel könnten auch einmal wieder in Ordnung gebracht werden. Das kann man doch selbst machen. Du nicht? Zu dir ist früher immer die Maniceuse gekommen. Deine Briefe haben »deine« Stenotypistinnen geschrieben. Deine Schulden hat »dein« Buchhalter ausjongliert. Deine Waren hat »dein« Expedient verladen. Du hast einen Korrespondenten für Englisch gehabt, einen für Französisch und einen für Spanisch. »Dein« Prokurist hat alle unangenehmen Besuche für dich empfangen, der Lehrling hat die Muster eingepackt und die Briefmarken aufgeklebt, die Telefonistin hat die Verbindungen für dich hergestellt. Was hast du eigentlich selbst getan? Praktisch? Was kannst du eigentlich? Nicht einmal dir die Nägel schneiden. Einmal wirft dich das Leben aus der Bahn und nun sitzt du da und es zeigt sich, dass du nichts anzufangen weißt und mit dir nichts anzufangen ist. Vom Durchführen und Beenden gar keine Rede. Nun sitzt du da, nimmst das Leben übel, als ob es dir nun so etwas besonders Schlimmes angetan hätte. Was hat es dir denn getan?

Aus der Bahn dich geworfen. Aus deinem eigenen »Geschäft« dich hinausgeschmissen, dich ausgeplündert, deinen Besitz verschoben und gestohlen, dich eingesperrt, wie einen Verbrecher – na, na, ich gebe zu, das ist arg – dich infam maltraitiert und dich ziemlich nackt und bloß in die Fremde gejagt. Wer hat das getan? Die Nazis? Ja, wer hätte das gedacht. Du nicht, Leonhard Glanz, du nicht.

Lasst die Nazis nur kommen, hast du gesagt. Das sagt man so. Aber du hast es auch gedacht. Lasst sie nur kommen. Die kochen auch nur mit Wasser. Und dann haben sie mit Blut gekocht.

Ist alles nur halb so wild, hast du gedacht. Damals, als man den Hindenburg zum ersten Mal wählte, haben auch viele geschrien. Und was war geworden? Den Eid auf die Verfassung hat er geleistet und hat ihn sogar einigermaßen gehalten. Verfassungsbruch mit den Notverordnungen? Erstens war das ganz legal. Laut Artikel so und so der Verfassung hat man eben die Verfassung außer Kraft gesetzt. Auf Urlaub geschickt, ganz legal. Und zweitens hat das Brüning getan. Was sollte Brüning denn schließlich machen? Wenn eines Sonntagabends einfach die Darmstädter Bank pleite war. Eigentlich war also der Bankdirektor Jakob Goldschmidt an allem schuld. Komisch. Komisch. Brüning hat ja auch emigrieren müssen. Er soll in Amerika sein und Fäden ziehen für spätere Zeiten, sagen sie. Aber der Jakob Goldschmidt soll noch bei den Nazis sein. Bis auf Weiteres. Nur seine Villa im Grunewald haben sie ihm weggenommen. Aber sonst? Komisch. Hätte der Jakob Goldschmidt nicht den Größenwahn gehabt, sich für ein Finanzgenie zu halten, wäre die Darmstädter damals nicht verkracht. Wäre die Darmstädter nicht verkracht, hätte Brüning nicht mit dem Artikel so und so zu reagieren brauchen. Hätte der Papen keinen preußischen Staatsstreich machen können. Hätte der Schleicher nicht sozialen General gespielt und wäre nie Hitler gekommen. Alles mit dem Artikel so und so. Alles wegen dem Jakob Goldschmidt. Komisch. Komisch.

Aber was sollte man denn machen? Irgendetwas musste doch kommen? Etwa der Bolschewismus? Ich bitte Sie. Ich bin immer ein sozialer Mensch gewesen. Ich habe immer für die Armen etwas übrig gehabt. Ein Herz und auch ein Portemonnaie. Herz ist billig. Schön. Aber man muss es haben. Portemonnaie ist nicht billig. Ich habe jedem gegeben. Dem Blinden auf der Straße seinen Groschen und dem Schnorrer, der ins Büro kam, seine Mark. Tante Frieda jeden Monat fünfzig Mark. Und die vielen Vereine. Und jeden dritten Tag die Loge. Und was da sonst alles war. Jüdisches Begräbniswesen? Bitte sehr. Katholische Waisenfürsorge? Bitte sehr. Rotes Kreuz? Bitte sehr. Vaterländischer Frauenverein? Bitte sehr. Frontkämpferbund? Bitte sehr, ich bin ja auch damals dabei gewesen. Jawohl. Von fünfzehn bis achtzehn. In Flandern und in Wolhynien. Bitte sehr. Es hat mich gefreut, Herr Kamerad. Stahlhelm? Hm, ja. Aber selbstverständlich. Bitte sehr. Ich bin immer ein sozialer Mensch gewesen.

I.A.H. Was ist das schon wieder? Internationale Arbeiter Hilfe? Es muss doch alles seine Grenzen haben. Ich bitte Sie, jeder Etat ist einmal erschöpft. Ich kann mich wirklich nicht noch höher engagieren. Tut mir leid. Aber damit sie nicht umsonst gekommen sind. Hier haben Sie fünfzig Pfennig. Aber tragen Sie mich nicht in die Liste ein. Schreiben Sie: N.N. oder so. Bitte sehr.

Den Nazis? Bitte schön, konnte man das wissen? Die kamen doch »getarnt.« Und wusste man es, ich bitte Sie. Konnte man denn ahnen? Ich war immer ein demokratischer Mensch. Ich war schon 1918 Mitglied der Deutsch-Demokratischen Partei gewesen. Damals, als wir aus dem Felde kamen, waren wir alle drin. Die ganze Börse. Ich war immer Demokrat. Und Demokrat sein heißt gerecht sein. Nach links und also auch nach rechts. Entweder oder. Und schließlich war ich Geschäftsmann. Und ein tüchtiger Geschäftsmann muss auch Rückassekuranz abschließen. Für alle Fälle. Das ist sogar Pflicht eines verantwortungsbewussten Kaufmanns. Da kann man doch nicht sagen, dass ich die Nazis unterstützt hätte. Ich habe da einfach so eine Versicherungsprämie bezahlt. Wer konnte denn wissen, dass die Kerle die Prämie nehmen und nachher keine Versicherung anerkennen? Auf solche Schweinerei konnte man doch nicht gefasst sein. Ich nicht. Ich war immer für Anstand und für Demokratie. Nach links, schön, aber auch nach rechts.

Nicht etwas reichlich mehr nach rechts? Ich bitte Sie, was soll man machen? Ich bin kein Bolschewist. Meinen Sie, dass einem die Nazis einen Moment sympathisch waren? Niemals. Aber man dachte, schön, sollen sie ran kommen. In drei Monaten zeigt sich, dass sie auch nichts ändern können. Dann ist der Rummel aus. Schutz des Privateigentums hatten sie doch gesagt. Konnte ich wissen, dass sie mir alles wegnehmen würden? Schlimmer hätten es die Bolschewisten ja auch nicht treiben können. Juda – verrecke! Na, wer hat das ernst genommen. Wird alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. So haben wir alle gedacht. Kann man einfach die Juden in Deutschland aus dem Wirtschaftsprozess ausschalten? Das kann man nicht, haben wir alle gedacht. Wie konnte man denn ahnen? Brechung der Zinsknechtschaft. Sehen Sie, das hat einem doch eingeleuchtet. Die Banken waren flüssig. Bares Geld war genug da. Aber brauchte man mal etwas für ein paar Tage, musste man Gott weiß was an Zinsen zahlen. Die Banken machten doch mit einem, was sie wollten. Schön, habe ich mir gesagt, lass sie auf der Straße rufen: Juda verrecke! Ich hör garnicht hin, wenn wir einen normalen Bankdiskont kriegen, der nicht nur auf dem Papier steht. Lauter Lüge. Banditen, sage ich Ihnen. Gangster. Notorische Verbrecher. Und die Welt schaut zu.

Da hatte ich einen Prokuristen. Heckerle heißt er. Der ist schon ewig bei unserer Firma. Als er fünfundzwanzig Jahre da war, bekam er eine wunderbare, goldene Uhr und die Prokura. Damals lebte mein Vater noch. Heckerle war ein tüchtiger, und ich sage Ihnen, ein anständiger Mensch. Sonst hätte doch mein seliger Vater ihm niemals Prokura erteilt. Und was ist er jetzt? Der größte Lump von der Welt.

Dass ich jetzt hier sitze, ohne einen roten Groschen, dass ich hier nach der Zeitung Stellung suche, wo ich doch genau weiß, dass es gar keinen Sinn hat, aber man muss doch wie, man kann ja nie wissen. Dass ich hier im Kaffeehaus herumsitze, anstatt etwas Vernünftiges zu tun. Draußen regnet es. Soll ich etwas spazieren gehen? Irgendwo muss der Mensch doch sein. Sehen Sie, alles das verdanke ich dem Heckerle. Ich selbst habe mit ihm eigentlich nie so recht freundschaftlich gestanden. Aber mein seliger Vater hat auf ihn geschworen. Wissen Sie, der Mann trug einen Schnurrbart und ich habe Männer mit Schnurrbart nie recht leiden können. Vor dem Krieg trug er einen langen Schnurrbart, mit hochgebogenen Spitzen. Ich erinnere mich noch ganz genau. Das war damals so eine Mode. Wegen des Kaisers. Unter dem hätte übrigens sowas nie passieren können. Der Mann hat auch seine Fehler gehabt. Gewiss. Man hat das damals nicht so gesehen. Aber solche Zustände wie jetzt? Ausgeschlossen. Bei der Freundschaft mit Ballin. Jedesmal, wenn der Kaiser zum Rennen nach Hamburg kam, hat er bei Ballin gefrühstückt. Der Kaiser saß da, so mir nichts-dir nichts, auf der Fensterbank und Ballin stand vor ihm und der Kaiser lachte, dass er sich die Schenkel klopfte. Unten standen die Menschen und sagten: Jetzt erzählt er ihm von dem großartigen Aufschwung der Hapag und der Kaiser freut sich. Und sie riefen: Hurrah! In Wirklichkeit hatte er ihm den neuesten jüdischen Witz erzählt. Ich weiß das genau. Von meinem seligen Vater, der hat doch den Ballin persönlich gekannt.

Was wollte ich doch sagen? Ja, der Heckerle. Nach dem Krieg ging er eine Zeitlang mit kurzem englischen Schnurrbart. Und dann ließ er ihn wieder lang wachsen. Kann sein, wegen Hindenburg, was weiß ich. Dabei war Heckerle nie politisch. Außer damals, zu Anfang der Inflationszeit. Weil doch damals jedesmal die Mark runter ging, wenn Clémenceau oder Poincaré am Sonntag eine Rede bei einer Denkmalsenthüllung und so gehalten haben. Jedesmal, wenn Clémenceau am Sonntag drohte, dass man Deutschland doch noch zerschmettern würde, war am Montag von der Mark ein Stück weg. Und Heckerle konnte ausrechnen, dass man die Devisen, die man bei der Reichsbank auf drei Monate Termin gekauft hatte, beinahe geschenkt bekam. Dabei war der Mann im Grunde patriotisch. Aber Stinnes war ja auch patriotisch und hat doch Millionen an der Marktpleite verdient. Aber wie gesagt, Heckerle war unpolitisch, ganz und gar. Manchmal habe ich mit ihm über dies und das politisch zu reden versucht. Wir saßen uns doch am Schreibtisch gegenüber. Jahre lang. Da redet man doch mal. Aber wie gesagt, es interessierte ihn nicht. »Was kann man damit anfangen«, sagte er, »wenn wir hundert tons Mixed-Mais gehandelt haben, dann weiß ich, was wir verdient haben. Aber Kommunisten und Nationalsozialisten und so … Meschugge.« Jawohl. Meschugge, sagte der Mann, obwohl er ein Arier ist, ein hundertprozentiger. Aber ich sage Ihnen, wenn die Juden so wären, wie die drüben sagen, dass sie sind, dann ist dieser Mann ein Jude. Einer? Zehn. »Heckerle«, sage ich, »die Dinge in der Sowjet-Union sollten doch zu denken geben.« »Sowjet-Union«, sagt er »existiert für mich garnicht. Man kann ja mit den Leuten gar nicht handeln. Die Industrie macht ja Geschäfte mit ihnen, und es heißt, sie sollen da tadellos abwickeln. Sogar ihre Wechsel lösen sie prompt ein. Na ja. Das ist ja kein Kunststück, wenn man im Inneren Millionen einfach verhungern lässt. Aber können Sie mit den Leuten eine Tonne Mais handeln, oder Gerste? Und was waren das früher für Geschäfte.«

Sehen Sie, so war dieser Mann. Er stammte aus ganz kleinen Verhältnissen. Die Eltern hatten eine kleine Wäscherei, ich glaube die Mutter hat selbst gewaschen. Als Heckerle als Lehrling zu uns kam, konnte er noch nicht einmal mit Messer und Gabel umgehen. Mein seliger Vater hat mir das erzählt. Und dann hat er es bis zum Prokuristen gebracht. Als mein Vater starb, meinte Heckerle, ich würde ihn zum Mitinhaber machen. Er hat mir nie ein Wort davon gesagt, so hinten herum hat man mir das zugetragen. Mit dem Expedienten hat er darüber geredet und mit dem Buchhalter. Aber vor mir kroch er. Genau wie er vor meinem Vater gekrochen hatte. Jawohl, Herr Glanz. Gewiss, Herr Glanz. Und jedesmal, wenn man aus dem Kontor ging, lief der Mann mit bis zum Ausgang und machte einem die Tür auf. Vielleicht hätte ich ihn wirklich damals zum Mitinhaber gemacht, wenn er einmal mit mir vernünftig darüber gesprochen hätte. Aber der Mann war doch ein Kriecher und unsere Firma eine erste Aufgabe an der Börse. Wissen Sie, da haben wir den alten Sloman an der Börse, von der Sloman Reederei. Der Mann hatte sich geweigert, im Rathaus zum offiziellen Kaiser-Diner zu erscheinen, weil man ihm gesagt hatte, er solle weiße Glacéhandschuhe anziehen. Der alte Sloman meinte, Handschuhe trüge er nur im Winter und auf der Straße, und wenn der Kaiser ihn nicht ohne Handschuhe begrüßen wolle, dann solle er es bleiben lassen. So waren diese Hamburger Kaufleute. Und dann dieser Heckerle.

Und heute ist er alleiniger Inhaber der Firma Glanz & Co, Kommandit Gesellschaft. Wie das? Über die Banken? Sie meinen, so wie in Amerika, wo man die Banken gegen einen Unternehmer loslassen kann, dass sie einem neue Kredite verweigern und die alten kündigen und mit allen möglichen Quertreibereinen das Leben unmöglich machen, bis man kapituliert. Nein, dazu war der Heckerle gar nicht gescheit genug. Und schließlich auch nicht groß genug. Sowas können doch nur die ganz Großen machen.

Viel einfacher. Ich sage Ihnen, viel einfacher. Der Mann war doch immer feige, aber 1933, gleich als die Nazis kamen, auf einmal warf er sich in die Brust. Wie ein Puter. Kam mit »Heil Hitler« ins Privatkontor. Ich bitte Sie, in meiner Firma. Und eines Tages kam er in einem braunen Hemd. In Breeches, und mit hohen Lederstiefeln. Ich bitte Sie, wie ein Trapper, in ein Hamburger Kaufmannskontor. Dass der Mann sich garnicht schämte. Über dreißig Jahre hatte man den Mann zur Bügelfalte erzogen und zum selbstgebundenen Schlips. Und nun stieg er herum, wie ein schlecht angezogener Unteroffizier. »Heckerle« sage ich, »Sie sind doch immer ein unpolitischer Mensch gewesen. Was machen Sie da für Mumpitz.« Da hätten Sie den Mann sehen sollen. Er lief ganz rot an an, ich dachte, es wäre ihm was, und wollte aufspringen und ihm den Rücken klopfen. »Herr Glanz«, brüllte er, »Sie scheinen nicht zu wissen in welcher Zeit wir leben. In einer Zeit des Aufbruchs, Herr, in einer Zeit des Umbruchs. Wenn ich will, dann drücke ich hier auf den Knopf« – er zeigte auf das Haustelefon –, »und ich lasse Sie abführen.« »Ach so«, sagte ich nur, »na, da gehe ich einstweilen ins Musterzimmer, bis Sie sich beruhigt haben.«

Von dem Zwischenfall wurde nicht mehr geredet, aber nach ein paar Tagen kam er an. »Herr Glanz, wie die Dinge liegen, ist es wohl besser, ich gehe jetzt mittags zur Börse. Wir müssen dort doch durch einen Arier vertreten sein.« Ich gab ihm keine Antwort und er ging einfach zur Börse.

Was soll ich Ihnen mit allen Einzelheiten erzählen? Wir hatten in Hamburg unsere Geschäfte immer als Gentlemen gemacht. Was man so fair nennt. Auch im Kriege. Auch in der Inflationszeit, wo alle möglichen Elemente sich ins Geschäft drängten. Aber Leute wie Michael in Berlin und Bosel in Wien, das war in Hamburg nicht möglich. Nicht mal Stinnes. Als der in Hamburg eine Filiale machte, Schiffe fahren ließ und in den Trade ging, na, wie lange hat es gedauert? Die Hamburger sagten, man müsse seriös sein. Aber sie meinten, man müsse Gentleman sein. Auf einmal hat das alles aufgehört. Ich spreche garnicht von dem Antisemitismus. Das ist ein Sonderkapitel. Das ist ein Kapitel von feiger Niedertracht und von Viecherei. Ich spreche hier jetzt nur vom Geschäft. Stellen Sie sich so einen Mann vor in SA-Uniform. Der ganze Kerl stinkt nach Schweiß und Leder. Mief, nannten wir das im Krieg. Aber damals waren wir eben Soldaten. Und sowas knallt nun mit den Hacken, anstatt ja zu sagen, und alles das. Wissen Sie, ich hatte auf einmal das Gefühl, der Heckerle denkt mit dem Hintern und redet mit den Hacken. Hat das was mit Gentleman zu tun? Und sowas macht jetzt in Hamburg Geschäfte. Das hätte der alte Schiffsreeder Krogmann erleben müssen, der in Winter und Sommer immer nur mit Cylinderhut zur Börse ging, dass sein Sohn in Wildwest-Uniform in Hamburg Bürgermeister spielt und zur Börse geht. Wenn ein Postdirektor in Wittstock an der Dosse oder ein Oberlehrer in Pforzheim auf einmal anfängt, Indianer zu spielen. Schön. Was geht es mich an. Aber ein Hamburger Kaufmann. Ich bitte Sie.

Also was soll ich Ihnen sagen. Eines schönen Tages, morgens um sechs Uhr, werde ich verhaftet. Von ein paar Lausejungs, die wie Krämerkommis aussahen. Und in vernünftigen Zeiten auch nichts anderes gewesen wären. Aber jetzt spielten sie Gestapo und der eine lief immer hinter dem anderen her und nannte ihn Chef. Der Chef stellte alle möglichen Fragen an mich und jedesmal, wenn ich etwas antworten wollte, brüllte er: »Schnauze.« Das war ein erstes Verhör. In meinem Leben hatte ich nichts mit der Polizei zu tun gehabt, und ich dachte mir, was kann das schon sein? Was können die wollen? Bei mir gibt es nichts zu verschweigen. Nichts gegen das Gesetz. Schließlich leben wir ja in einem Rechtsstaat. Im Ausland sollen so Ansichten verbreitet sein, dass in Deutschland unter Hitler kein Recht mehr bestehe. Na, also Übergriffe können mal vorgekommen sein. In der ersten Zeit. Aber die Regierung hat ja selbst gesagt, dass das Greuelnachrichten wären.

Sie machten bei mir Haussuchung. Kehrten das Unterste zuoberst. Drehten die Teppiche um. Dann kamen sie über meine Bibliothek.

Ich bin ein Kaufmann. Ich habe im Leben nie viel Zeit zum Lesen gehabt. Aber schließlich muss ein gebildeter Mensch ein paar ordentliche Bücher im Hause haben. Man braucht sie ja nicht alle gleich zu lesen, ich bitte Sie, wer liest heutzutage noch Goethe und Schiller und Shakespeare, aber haben muss man sie doch. Als die Kommis von der Gestapo zu Heinrich Heine kamen, riss der »Chef« die Bücher heraus und warf sie auf den Fußboden. Dabei war es eine ganz alte Ausgabe aus dem Jahr 1850 oder so, von Hoffmann & Campe. Ich hatte sie von meinem seligen Vater geerbt. »Das Schwein«, sagte der andere und stieß mit dem Fuß nach einem der Bücher, das auf der Erde lag. Denken Sie, mit dem Fuß nach einem Buch.

Ein paar Bücher von Heinrich Mann warfen sie dazu und Im Westen nichts Neues von Remarque und Petroleum von Upton Sinclair. Dann drei broschierte Bände Schwejk und zwei oder drei Romane von Traven. »Ein Marxistenschwein sind Sie also auch«, schrie der Chef und der Andere grinste. Schließlich sammelte sich ein ganzer Haufen Bücher auf der Erde und die beiden traten ungeniert darauf herum. Schließlich riefen sie einen SA-Mann herein, der vor der Tür gestanden hatte, er solle die Bücher runter schaffen, ins Auto. Der SA-Mann knallte mit den Hacken und grinste und sagte zu mir: »Das wird ja wieder ein lustiges Feuerchen geben.« »Und die Schreibmaschine holst du gleich hinterher«, rief der Chef im nach. Meine Reiseschreibmaschine stand offen auf meinem Schreibtisch. »Was wollen Sie mit meiner Schreibmaschine?«, fragte ich den »Chef.« »Schnauze«, brüllte der wieder, »damit hast du Schwein doch deine konspirativen Briefe geschrieben.« Nie in meinem Leben habe ich politische Briefe geschrieben und konspirative schon garnicht. Bei der ganzen Haussuchung war nichts und garnichts gefunden worden. Der »Chef« wollte einfach meine Schreibmaschine klauen. Vielleicht wollte er sie verkaufen, vielleicht gefiel sie ihm und er wollte sie für sich. Damals kamen mir zum ersten Mal Bedenken über das neue deutsche Recht. Ich dachte, ob an den »Greuelmärchen« nicht doch was Wahres dran sein sollte.

Unterwegs im Auto, durch wohlbekannte Straßen, dachte ich, was kann dir im Auto, mitten in der Stadt passieren? Und sagte zu dem »Chef«: »Das scheint mir eine Verhaftung zu sein. Darf ich fragen warum?« »Das weißt du Schwein besser als wir«, sagte der. Ich sah den Anderen an. Der sagte garnichts. Spuckte nur aus, mir direkt auf den Stiefel. So kam ich in das Hamburger »Stadthaus«, einem früheren Verwaltungsgebäude am Ende des Neuen Wall, Hamburgs vornehmster Geschäftsstraße. Jetzt ist das Haus Gestapo Zentrale. Und im Keller Folterkammer. Bitte sehr, Sie mögen es glauben oder nicht. Hier sind Folterkammern.

Genug und gut. Es lag eine Anzeige gegen mich vor, wegen Devisenschiebungen. Ich solle ein Teil meines Vermögens in fremden Valuten im Ausland angelegt haben. Unsere Firma hat große Geschäfte mit dem Ausland gemacht. Seit über fünfzig Jahren. Seit sie existiert. Natürlich hat es da Devisenüberweisungen hin und her gegeben. Das ist ja selbstverständlich. Aber nie habe ich einen Pfennig privaten Vermögens im Ausland angelegt. Mein Vater hatte immer gesagt: »Ein anständiger Hamburger Kaufmann tut das nicht.« Und so ist es verblieben. Leider, möchte ich heute sagen, denn hätte ich es anders gehalten, brauchte ich jetzt nicht im letzten Hemd hier zu sitzen. Im Übrigen hätte ich das ja ohne unseren Buchhalter und ohne Heckerle garnicht machen können. Ehrlich gesagt, ich hätte garnicht gewusst, wie man das praktisch anfängt. Ich habe mich doch um die Technik der Details niemals gekümmert. Als mein Prozess schließlich zur Verhandlung kam, nach vierzehn Monaten Untersuchungshaft, und was für Untersuchungshaft, hat unser Buchhalter als Zeuge auch so ausgesagt. Das hat ihn dann seine Stellung gekostet und der Mann ist verheiratet und hat zwei Kinder. Und ich habe ihn eigentlich nie besonders behandelt. Für Buchhaltungssachen habe ich mich nie interessiert. Heckerle war nicht zum Prozess als Zeuge erschienen. Warum nicht? Er war gar nicht geladen worden, obwohl mein Anwalt das beantragt hatte. Warum nicht? Weil doch die Anzeige gegen mich von ihm gemacht worden war. Jawohl, von Heckerle. Der seit über dreißig Jahren bei der Firma war. Der alles, was er war, durch die Firma geworden war. Der langjährige Prokurist und Freund der Familie. Mein Gott, ja. Zu großen Gesellschaften hatte mein seliger Vater ihn nicht geladen. Schließlich war er ja nur Prokurist und stand mit dem Fischbesteck auf Kriegsfuß. Aber drei, vier Mal jedes Jahr an Sonntagen, hat er an unserem Tisch gesessen. Und über alles hat man mit ihm gesprochen. Über die intimsten Dinge. Ich weiß noch, das ist jetzt dreißig Jahre her, ich stand damals vor der Matura. Das sagte mir mein Vater: »Komm mal heute Abend ins Büro, Heckerle möchte dich sprechen.«

Was hatte Heckerle für einen Auftrag? Er setzte sich mit mir auf das Ledersofa im Privatkontor und sagte, ein junger Mann wie ich, und unmittelbar vor dem Examen. Da müsse man freien Kopf haben und so. Ruhiges Blut und so. Na, und dann gingen wir nachher zusammen in ein Bordell. Und Heckerle suchte ein Mädchen für mich aus und schickte mich mit ihr »nach oben«. Es war ein sehr vornehmes Bordell, eine große Majestät von Dänemark soll da gestorben sein. Das war meine erste private Beziehung mit Heckerle. So standen wir mit dem Mann. Und der ging hin und zeigte mich bei der Staatsanwaltschaft wegen Devisenschiebung an, wo er wusste, dass kein Wort davon wahr sei.

Als ich endlich freigesprochen war und aus dem Gefängnis kam, erwartete mich am Tor der alte Anwalt unserer Firma, der mich auch verteidigt hatte. Wir stiegen in sein Auto. Als wir um die erste Straßenecke herum waren, klopfte er mir auf die Schulter. »Großartig«, sagte er. »Na, immerhin, nach vierzehn Monaten«, sagte ich. »Das meine ich nicht«, sagte er, »nur, dass wir hier heil um die Ecke gekommen sind. Es kommt nämlich oft vor, dass freigesprochene, von der Staatsanwaltschaft entlassene Leute hier von der Gestapo in Schutzhaft genommen werden und im K.Z. landen. Offen gestanden, ich hatte ein bisschen Angst.« »Na, und was nun?«, fragte ich. »Jetzt fahren wir zu mir nach Hause und frühstücken«, sagte er und zwinkerte mir dabei zu. »Aha«, dachte ich, »der Chauffeur. Auch schon spitzelverdächtigt.« Ich merkte, ich hatte in den vierzehn Monaten da drinnen doch etwas gelernt.

Wir fuhren über die Lombardsbrücke. Rechts die Wasser der Binnenalster und die Türme von Hamburg und die ganze City rundum. Und links die Außenalster, ganz weit und voll Sonne, Segelboote und Kastanienbäume und die Eichen vom Harvestehuder Weg. Zehntausendmal in meinem Leben bin ich wohl über die Lombardsbrücke gegangen oder gefahren. Und jedesmal, jedesmal habe ich einen Blick nach links und einem Blick nach rechts getan, über die Alster und über die Stadt. Jedesmal war ich dann ganz stolz und gerührt zugleich. Das ist so ein Gefühl, so ungefähr muss den Dichtern zu Mut sein. Wenn ich ein Dichter wäre, ich möchte Gedichte von der Alster machen. Wissen Sie, was die Alster ist? Ein sehr breiter Fluss, der mitten durch Hamburg geht, wie ein See? Das kann schon sein. Die Alster, das ist etwas Schönes, was sich nicht so sagen lässt. Das ist etwas Frohes mit tausend kleinen, fröhlichen Booten. Das ist ein Frieden, mitten im Lärm und Getriebe. Das ist ein frischer Wind am Morgen und eine selige Müdigkeit am Abend. Weiße, kleine Dampfer. Und Hängeweiden und Segelboote und Schwäne und ein Kanu, in dem man in der Sommernacht schlafen kann, wenn man zu faul ist, nach Hause zu paddeln, und morgens heraus aus dem Boot, ins Alsterwasser, ausgeschwommen und einen Kornschnaps hinterher am Uhlenhorster Fährhaus. Meinen Sie, das sei die Alster? Das ist doch alles nur ein Teil. Das ist doch nur Äußeres. Ich bin ja kein Dichter und ich glaube an nichts. Sonst möchte ich sagen, die Alster, das ist das Auge Gottes. Die Alster, das ist doch zu Hause. Das ist doch Heimat. Immer gewesen und ewig seiend.

Und nun will ich Ihnen mal was sagen. Dahier, ein etwas staubiges Kaffeehaus. Und ich eine überflüssige Vergessenheit. Und keine Heimat. Und eine Fremde, nasskalt wie das Wetter. Und wenn Sie mir nun sagen: hier ist der Zaubermantel aus Tausendundeiner Nacht. Steig auf und im Augenblick sind wir in Hamburg, an der Alster. Ich täte es nicht. Und wenn Sie mir sagten: Hier ist eine Tarnkappe dazu. Kein Mensch kann dich sehen und nichts könnte geschehen. Ich täte es nicht. Und täte es nicht, um alles Geld in der Welt noch dazu.

Die Alster? Die Heimat? Das ist doch das Gute. Aber da sind doch die Menschen. Da geht doch so viel um und ist das Böse. All die Gemeinheit, die Niederträchtigkeit, die Erbärmlichkeit, die Feigheit, der Verrat. Das verlegene Grinsen und nicht wissen, ob man grüßen soll. Das schnell in das nächste Haus laufen, in das nächste Schaufenster schauen. Loch in die Luft starren, mit rot angelaufenem Gesicht. Eine Dame in der Trambahn: Schaffner, der Kerl, der da neben mir sitzt, ist ja ein Judenlümmel, der kann doch draußen am Perron stehen. Sagen Sie ihm das bitte! – Da drüben, in dem kleinen Ecklokal, wo die Sonne auf die Fensterscheiben prallt, dass die blauen Alsterwellen darin spiegeln, da habe ich tausendmal nach der Börse gefrühstückt. Herr Glanz, geben Sie heute La Plata-Mais? Herr Glanz, nehmen Sie heute Donau-Gerste? Herr Glanz, was halten Sie von den Ernteaussichten in Canada? Herr Glanz, hier dürfen Sie nicht hinein. Hunden und Juden ist der Eintritt verboten. Schmeißt sie raus, die Judensau. Sowas sitzt hier in unserem Staatstheater! Ein besoffener SA-Mann torkelt dich an: »Herr, Sie wollen einen deutschen SA-Mann anrühren? Sie dreckiger Jude? Schnauze! Sonst lass ich Sie abführen.«

Nein. Keinen Zaubermantel. Da ist keine Heimat. Da ist keine Alster. Da ist kein Traum. Und keine Sehnsucht. Das Auge Gottes ward blind.

Übrigens auch mein alter Anwalt trug da ein Nazi-Parteiabzeichen mit Hakenkreuz im linken Rockaufschlag. Ich musste immerfort hinsehen. Nachher, bei ihm zu Hause, sagte er: »Na ja. Wenn ich das nicht hätte, wären Sie doch nicht hier. Entweder hätte ich Sie garnicht verteidigen können, oder es hätte gar keinen Sinn gehabt. Fünf Jahre Zuchthaus hätten Sie gekriegt, Glanz, wie garnichts.«

»Wo ich aber doch völlig unschuldig bin?«

»Und wenn Heckerle geschworen hätte?«

»Aber das wäre doch ein blöder Meineid gewesen. Jeder Bücherrevisor würde das doch nachgewiesen haben.«

»Ein arischer Eid, Glanz, ist niemals ein Meineid. Verstehen Sie doch, Mann.«

»Ich werde Herrn Heckerle sofort entlassen. Und wenn mich das jährlich ein Vermögen kostet.«

»Garnichts werden Sie. Sitzen Sie gut, Glanz? Ich meine, garnichts können Sie. Am wenigsten Heckerle entlassen. Der Mann ist doch – passen Sie gut auf, Glanz – der Mann ist doch Inhaber Ihrer Firma. Alleiniger Inhaber sogar. Dazu war doch alles inszeniert worden. Sie haben damit garnichts mehr zu tun. Die Firma ist ein national wichtiger Betrieb. Sie waren im Gefängnis. Und Heckerle wollte sich doch nicht zumuten lassen, einen »Zuchthäusler« und Juden dazu etwa zum Sozius zu haben. Na und das hat dann auch die Handelskammer eingesehen und ein entsprechendes Gutachten gegeben. Ja, Glanz, das tat die gleiche Handelskammer, in der ihr Vater jahrelang im Vorstand gesessen ist. Na, und dann kleine Eintragung im Handelsregister: Leonhard Glanz ist als Kommanditist ausgeschieden. Die Firma wird mit Aktiven und Passiven von Ernst Heckerle übernommen. So, Glanz. Jetzt wissen Sie Bescheid. Jetzt ist der Zahn gezogen. Wissen Sie, Glanz, ich werde in diesem Jahre siebzig Jahre alt, aber ich sage Ihnen, niemals in meinem Leben habe ich mich so geschämt, wie ich mich jetzt schäme vor Ihnen. Ja. Na, und nun wollen wir doch ’nen Happen frühstücken

Wie? Haben Sie was gesagt? Glanz, Sie werden mir doch jetzt nicht schlapp machen. Im U.G. haben Sie sich ordentlich gehalten. Ich weiß doch, was da vor sich geht, aber Sie haben sich gut gehalten. Das ist in unseren Kreisen eine Seltenheit. Na, nun machen Sie keine Geschichten. Wissen Sie, die Kommunisten? Alle Achtung. Wie die sich halten. Allen Respekt. Das muss man sagen. Eisern. Eisern. Aber die Leute aus unseren Kreisen? Kein Protokoll, das die nicht unterschrieben. Sie haben sich da tadellos gehalten, Glanz. Das muss man sagen. Na, und nun wollen Sie hier schlapp machen? Kommen Sie. Schiet is Dreck sin Broder. Gießen Sie einen Cognac drauf.

Wissen Sie, Glanz, wenn hier einer flennen wollte, dann müsste ich es sein. Wie stehe ich hier vor Ihnen? Ich stehe doch auf der Seite, die sich schämen müsste. Was kann Ihnen passieren? Sie werden für ein paar Wochen in ein Sanatorium gehen oder so. Na, und später wird man sehen. Besser ein paar Jahre ein bisschen das Leben genießen, als im Zuchthaus verbringen. Wer kann Ihnen was, Glanz? Sie stehen sauber da. Vor der Welt. Aber das wäre scheißegal. Glanz. Aber auch vor sich selbst. Das ist doch die Hauptsache. Mein ich. Aber der innere Schweinehund, Glanz, wer den nicht überwinden kann, der ist schlimm dran.

Na, nun kommen Sie mit nach nebenan. Sehen Sie, da hat man uns nen netten Frühstückstisch gedeckt. Kommen Sie. So. Nun erst mal nen Cognac. Und dann so’n schönes Stück geräucherten Aal. Lange nicht gehabt? Wie? Na, sehen Sie. Sie erlauben schon, dass ich Ihnen auflege. Es hätte ja auch unsere alte Marie servieren können, Sie kennen sie doch, Glanz, von früher her. So’n bisschen dick, mit roten Backen. Na ja. Was soll ich Ihnen vorflunkern. Also sie hat mir gesagt, ich könne nicht von ihr verlangen, dass sie einem Juden serviert, der noch dazu und so … Na, was soll ich machen? Nicht einmal rausschmeißen kann ich sie, zeigt sie mich an, bin ich der reingefallene.

Ne, ne. Nun meinen Sie, sie müssen mich beruhigen? Ne, ne. Ich sage Ihnen ja, wenn einer von uns zweien zu flennen hätte, dann müsste ich es sein. Nehmen Sie Pumpernickel, Glanz, frischen westfälischen Pumpernickel. Nur Butter kann ich Ihnen nicht anbieten. Butter ist in dieser Woche mal wieder knapp. Und hier, Kotelett, Glanz, kaltes Kotelett mit Kartoffelsalat. Hat Ihr Vater schon immer gern gegessen. Was ich sagen wollte … Wie? … Meine Frau? Es geht ihr gut. Danke. Sie lässt sich entschuldigen. Ja. Eigentlich sollte ich sagen, sie hätte rüber müssen, nach Rotherbaum, zur Schwägerin, die krank sei. Aber die Schwägerin ist garnicht krank. Und meine Frau ist auch nicht drüben in Rotherbaum. Ich werde Ihnen doch nichts vorflunkern. Glanz. Nicht wahr? Sie ist einfach weggegangen, was weiß ich. Sie meinte, sie sei das der Rücksicht auf die Schwester schuldig. Die Schwester ist doch mit einem Blunck verheiratet. Und der Blunck ist doch ein Vetter von dem Staatsrat Blunck, der jetzt, ich glaube, in der Reichskulturkammer sitzt und der oberste von den Dichtern ist. Hat sich in der Dichterakademie glatt auf den Stuhl von Thomas Mann gesetzt. Na, ich habe ihn noch gekannt, den Hans Friedrich Blunck, als er noch beim sozialdemokratischen Senat der Stadt Hamburg schnorren gegangen ist. Damals habe ich ihm gesagt: Hans Friedrich, den Sozikurs mache ich nicht mit. Da hat er gelächelt, so ein bisschen von oben herab. Na, und jetzt? Der kann’s. Der ist in allen Sätteln gerecht. Der ist mit allen Hunden gehetzt. Der ist mit allen Wassern gewaschen. Und da stehe ich nun dazwischen. Mit Ihnen kann ich ja reden, Glanz. Aber sonst? Mit meiner eigenen Frau kann ich doch nicht mehr reden. Das ist doch alles, ich weiß nicht wie. Dazu bin ich siebzig alt geworden. Und muss das Dings da tragen. Und der innere Schweinehund, Glanz. Um den komm ich nicht rum. Mit siebzig ist man kein Draufgänger mehr, Glanz. Sie? Sie sagen: Mi könt ji all mal Götz von Berlichingen. Aber ich. Ich muss da mitmachen, wo es mich angekotzt, bis da hinauf. Kommen Sie, Glanz, noch nen Cognac. Ich muss den schlechten Geschmack runterspülen.«

In seine Wohnung ist der vielleicht gar nicht so gleichgültige Mann Leonhard Glanz nicht mehr gegangen. Dort war, trotz des Protests des Anwaltes vor Monaten schon alles beschlagnahmt worden. Es stellte sich heraus zu Unrecht, aber da war schon alles fort. Alles ausgeplündert, was einem Plünderkommando brauchbar erschienen war. Was übrig blieb, ging in einen größeren Koffer.

Vielleicht wäre dieser Mann nun in ein Sanatorium gegangen. »Weißer Hirsch« bei Dresden, oder so. Der Anwalt hatte gesagt, dass Glanz eine auskömmliche Rente aus seiner alten Firma würde beziehen können. Er hatte Heckerle einfach gesagt, dass er mehr wüsste, als dem neuen Chef aus Schiebung angenehm sei. Da hatte der sofort ein Angebot gemacht. Leonhard Glanz wäre lieber in ein belgisches Bad gegangen, raus aus dem Lande. Aber er hatte keinen Pass. Der war von den Plünderern mit beschlagnahmt worden. Würde auch wohl keinen neuen Pass bekommen. Hatte auch einen Widerwillen dagegen, mit irgendwelchen Amtspersonen in Berührung zu kommen. Und endlich, hätte er einen Pass bekommen, so hätte es Wochen gedauert, bis er eine Bewilligung erhalten hätte, das notwendigste Geld mitzunehmen. Das schien unmöglich. Und gerade das »Unmögliche« sollte geschehen. Bei Gott – fragen Sie den Rebbe von Muncacz – und bei den Nazis ist nichts unmöglich.

Ein Zwischenfall bewahrte den Mann Leonhard Glanz davor, in einem Meer von Gleichgültigkeit für uns unterzugehen oder für sich selbst in solchen Zustand zu verfallen. Der Zwischenfall ereignete sich in einem Park, in dem Leonhard Glanz schon ein dutzendmal um eine Rasenfläche herumgelaufen war. Ein noch dazu einsamer Park. Auf einmal kam Heckerle des Wegs. Warum von mehr als einer Million Einwohner gerade Heckerle vorbeikam, als Leonhard Glanz, zum ersten Mal in seinem Leben, da allerdings ausgiebig, in diesem Park spazieren ging, bleibt ungeklärt. Zufall oder Fügung. Je nachdem, woran einer glaubt. Gewiss, Heckerle wohnte in dieser Gegend. Die Adresse kannte Glanz. Er hatte also so hingehen oder vor dem Hause sich postieren können. Aber dass Heckerle durch den Park gehen würde, war keineswegs sicher, kaum wahrscheinlich. Er hätte viel eher zur Hauptstraße durchgehen können, zur Haltestelle der elektrischen Bahn. Oder zum Standplatz der Taxis, an der Ecke vor dem Park. Arrivierte Nazis fahren ja gern Auto.

Heckerle kam also des Wegs in einer neuen SA-Kluft. Mit silbernem Firlefanz auf dem Hemdkragen. Der Mann hatte sich also schon eine höhere Charge kaufen können. Als er auf einmal vor Glanz stand, schien er keineswegs überrascht zu sein. Wie sollten denn auch zwei Männer, die viele Jahre lang in dieser Stadt das Leben gemeinsam verbracht hatten, an gleicher Strippe ziehend, wie sollten sie sonderlich überrascht sein, wenn sie einmal einander begegneten. Heckerle war sich im ersten Augenblick der Infamie der letzten Monate gar nicht bewusst. Wann denkt denn schon ein Schurke daran, dass er ein Schurke sei. Er blieb einfach stehen und sagte: »Guten Tag, Herr Glanz«, und lächelte. Wahrhaftig lächelte, gerade wie in alter Zeit, wo er, der Prokurist, immer ergeben zu lächeln bemüht war, wenn er den Chef traf.

Hatte Leonhard Glanz irgendetwas geplant? Es ist kaum anzunehmen. Nun war Leonhard Glanz auch keineswegs ein gewiegter Kriminalist und nicht einmal ein Mann, der sich irgendwie auf Psychologisches verstand. Allein, als er dieses faulen Lächelns ansichtig wurde, wusste er, dass er gleichsam Oberwasser hätte.

Der Hass. Der Hass. Der Hass. Welch eine Unsumme von Hass hatte sich doch in Leonhard Glanz angesammelt. Anfangs war es nur Zorn und Wut gewesen. Aber seit er bei einem Verhör von einem Lümmel in Hemdenuniform, der höchstens achtzehn Jahre alt war, zum ersten Mal geohrfeigt worden war, fing der Hass an, sich in ihm zu entwickeln. Er hatte das vorher garnicht gekannt, wie das ist, wenn man hasst. Zu Hause, seine Mutter, seine gute Mutter, hatte ihn zur Liebe erzogen. Man muss die Menschen lieben und wohltätig sein. Hass? Das ist doch etwas Zerstörerisches. Auf einmal war der Hass da. Nicht Zorn und Wut oben auf der Haut. Hass, ganz tief innen. Vielleicht wäre dieser Hass nicht gekommen, hätte Leonhard Glanz nachgegeben. Jawohl. Devisen verschoben. Ja, ein paar hundert Pfund in London. Und ein paar tausend Dollar in New York. Und in der Schweiz? Auch ein paar tausend Francs. Sehen Sie, auf einmal erinnern Sie sich. Warum nicht gleich so. Dann hätten Sie sich und uns allen das sparen können. Aber da kam der Hass. Wer hätte gedacht, dass der Hass ein Baustein sein könne, zur Wahrheit.

Diese ganze Hochspannung an aufgespeichertem Hass schlug auf den braunhemdigen Heckerle nieder als ein atmosphärischer Niederschlag. Der Betroffene spürte es zunächst garnicht. Aber kam es jetzt zum Kampf, so musst er von Anfang an der Unterlegene sein. Der Blitzschlag des Hasses musste ihn zerschmettern.

Heckerles Lächeln zog sich in die Länge. Da aber Glanz seinen Gruß nicht erwidert hatte und überhaupt nichts sagte, meinte er: »Na, Glanz, wie kommen Sie denn daher?«

Achtung. Die Frage kann hingeworfene Phrase sein. Weil dem Frager nichts Besseres einfällt. Aber es kann auch der Beginn der Überlegung darin sein. Ein paar Gedanken weiter, dann verschiebt sich die ungleiche Kräfteverteilung des Augenblicks. Dann stünde Uniform gegen Hass. Die Sportlichkeit des Kampfes würde es erhöhen, der Ausgang wäre ungewiss.

In dem Augenblick aber kommt es zur Entladung, mit einer Million Volt. Wie der Kerl da steht. Mit dem schmierigen Lächeln. In einem Roman habe ich mal was von schmierigem Lächeln gelesen. So also ist das. Dieser schleichende Schurke in brauner Uniform. Nagelneu und stinkt doch nach Mief. Kaserne. Kaserne. Der Maurerpolier als Unteroffizier. Ich werd euch in’n Arsch treten, dass die Scheiße zum Maul rausfliegt. Jud Glanz, kleiner Dollarschieber. Mit der Sarah nach New York ausrücken? Und der da, ein Prokurist einer ehrenwerten Kaufmannsfirma? Der Schleimscheißer da, von einem Unteroffizier?

»Wie stehen Sie überhaupt da, wenn Sie mit mir reden?«, herrscht ihn Glanz an. »Wollen Sie nicht gefälligst gerade Haltung annehmen, Sie? Reißen Sie gefälligst ihre Knochen zusammen. So. Hände an die Hosennaht. Finger lang. Noch länger die Finger. Kopf gerade. Linkes Ohr tiefer.«

Gelernt ist gelernt, von Anno Krieg her. Heckerle steht da, der verdonnerte Rekrut, ein Fleischkloß, zur Masse in strammer Haltung erstarrt. Das Hirn sitzt vor dem Bauch im Koppelschloss von dem er weiß, dass es nicht blankgeputzt sei.

Aber das sieht der Leutnant, Hauptmann, Oberst, General Leonhard Glanz garnicht. Er sieht überhaupt nichts. Er ist Hass und Rache und Rache und Hass. Und da hebt er die rechte Hand und schlägt sie dem Rekruten, trotz silberner Litzen und Firlefanz, mitten ins Gesicht. Und noch einmal und noch einmal. Du Schuft, du Schuft, du Schuft.

Dann macht er kehrt. Geht ohne sonderliche Eile bis zum Parkausgang, besteigt ein Taxi: »Hauptbahnhof.«

Der Andere war reglos stehen geblieben. Dann merkte er, wie ihm das Blut aus der Nase auf das neue, braune Hemd tropfte und da erst kam er zur Besinnung.

Das war an einem Nachmittag um vier Uhr gewesen. Um halb fünf ging ein Schnellzug nach Berlin, wusste Glanz. Den würde er gerade erreichen. Einen Handkoffer mit seinen Siebensachen, Siebensachen, es waren wirklich nicht viel mehr als sieben Sachen, hatte er in der Gepäckaufbewahrung stehen. Er hatte während der letzten Nächte in kleinen Hotels logiert, jede Nacht in einem anderen und den Koffer tagsüber in die Gepäckaufbewahrung gegeben. Ein glücklicher Umstand. Denn jetzt musste er weg. Schleunigst. In Hamburg würde er spätestens abends verhaftet sein. K.Z. Und da würden sie ihn kaputt machen. Eigentlich – ein Zeuge war nicht dabei gewesen. Und der Schuft da müsste sich hüten, den feigen Sachverhalt zu erzählen. Aber das hatte der ja garnicht nötig. Ein feister SA-Funktionär gegen ein jüdisches Freiwild.

Feist, wieso feist? Wie weich das Gesicht gewesen war. Glanz hatte das Gefühl gehabt, er schlüge in lauwarmen Brei. Hängebacken. Quabbeliges Fleisch. Wenn man sich nur die Hände waschen könnte. Mit dem Quabbelgefühl in der Hand kann man doch nicht bis Berlin fahren. Vielleicht im Zuge. Scheußlich das Gefühl. Wie feuchtwarme Kinderwindeln. Es riecht sogar so. Hauptbahnhof.

Am anderen Morgen kaufte sich Glanz in Berlin einen billigen Touristenanzug. Das erste Mal im Leben einen Anzug von der Stange. Und einen Rucksack. Die ganzen Siebensachen hinein in den Rucksack. Und nur weg von Berlin. Vielleicht suchte man ihn hier schon. Vielleicht war sein Signaloment schon durchgegeben. Schlesischer Bahnhof. Nur raus aus Berlin.

In der Untersuchungshaft hatte ihm mal einer erzählt, im Riesengebirge über den Kamm zu kommen, das sei kein Kunststück. Trotz Gendarmerie und SA-Kontrolle. Er habe das x-mal gemacht, ehe er geschnappt worden sei. Mit Papieren und so. Vielleicht war der Mann ein Spitzel gewesen. Aber man musste mal sehen. Mehr als schießen können sie nicht. Die Chance war im Krieg alle Tage gewesen. Geht es schief, na da hat man eben Pech gehabt. Aber warum sollte man für die eigene Freiheit, für Leib und Leben nicht riskieren, was man für Kaiser und Reich – wo sind sie jetzt – tausendmal riskiert hatte.

So war Leonhard Glanz über den Kamm gekommen. Im Touristenanzug und mit Rucksack. Mit sieben Sachen, aber ohne Pass und also ohne Namen. Wenn man ihm nicht glaubte, dass er Leonhard Glanz sei, aus Hamburg? Wozu braucht man überhaupt einen Namen, wenn man nur noch ein Garnichts ist? Ein Mensch, was ist schon ein Mensch, wenn er nichts hat? Eine Sache, die hat doch immer noch irgendeinen Wert. Aber ein Mensch in solcher Lage? Achtung, der ist nicht nur kein Wert, der kann sehr rasch ein Unwert sein. Schlimmer. Ein unnützer Esser. Ein Fresser. Ein Niemand. Herr Niemand aus Nirgendwo. Ein Niemand aus Nirgendwo und ohne was, das ist ein Emigrant. So ist das Leben: Station Kaffeehaus.

Wie bitte? Ob ich die Zeitung …? Ich habe sie ja noch garnicht gelesen. Nur erst hinten in den Annoncen geblättert. Das Eigentliche soll ja erst kommen. Früher, ja früher habe ich die Zeitung in fünf Minuten gelesen. So mehr die Überschriften. Dann wusste man Bescheid. Das heißt, man meinte, Bescheid zu wissen. Leider hat sich ja herausgestellt, dass ich nicht im Bilde gewesen war. Heckerle, der war im Bilde gewesen? Es ist eine große Zeit für Lumpen.

Hauptblatt. Erste Seite. Wahrscheinlich Spanien. Natürlich, Spanien. Wer hat sich früher um Spanien gekümmert? Und jetzt alle Tage. Die spanische Regierung in Valencia beabsichtigt dem Völkerbund bei der kommenden Ratstagung ein Weißbuch über die italienischen Eingriffe … Dem Völkerbund. Wenn in Deutschland einer sagt: Völkerbund, dann grinsen die Leute. Na, lassen Sie mal, das hat mit den Nazis nichts zu tun. Das war schon lange so.

Da war ich früher jahrelang Mitglied des Vereins der Getreidehändler der Hamburger Börse. Das war doch was. Ich meine, der Verein. Wenn der was erklärt hatte, da musste man sich doch danach richten. Sonst wäre man doch einfach von der Börse ausgeschlossen worden. Ein Spruch des Hamburger Getreidevereins, der galt in London so gut wie in Chicago oder Buenos Aires. Aber ich bitte Sie, der Völkerbund.

Vielleicht verstehe ich nichts davon. Ich verstehe aber doch etwas davon. Ich habe immer gesagt, dass mit der hohen Politik, das ist garnicht wahr. Das ist alles genau so, wie es sich der kleine Moritz vorstellt. Aber vielleicht verstehe ich nichts davon. Gut. Reden wir von etwas, wovon ich was verstehe.

Als ich hier ankam, sagte man mir, ich müsse auf alle Fälle zuerst zum Hilfskomitee gehen. Wieso, bin ich ein Schnorrer? Ich bin nicht. Bitte sehr, ich weiß nicht, was ich im Augenblick bin. Früher habe ich mal gemeint, ich sei wer. Irrtum. Man sitzt auf einem Stuhl. Und auf einmal ziehen sie einem den Stuhl unterm Hintern weg. Was ist man dann? Guten Tag. Da bin ich. Peter Schlemihl. Der Mann ohne Schatten. Leonhard Glanz, der Mann ohne Pass. Niemand, der Mann ohne Namen. Der Mann ohne Pass, der nichts besitzt als nur einen Hass. Und was für einen Hass. O nein, den habe ich nicht abreagiert, als ich den braunhemdigen Lumpen in die Fresse schlug. Im Gegenteil, ich bin ein Kreuzworträtsel. Von oben nach unten. Von links nach rechts. Ein Kreuzworträtsel ohne Lösung. Nur ich selbst weiß, was rauskommt. Sie müssen es mir glauben, dann ist es gut. Dann bin ich was, zum Mindesten ein Polizeiakt. Glauben Sie es mir nicht, dann bin ich nur ein Purzelbaum, allenfalls eine Nummer, die man in ein Gefängnis steckt.

So ging ich also zum Hilfskomitee. Es sind schon viele Leute da. Immer sind da schon viele Leute und warten. Alle haben sie ihre ganz persönlichen Sorgen, alle meinen sie, was das Schicksal ihnen getan habe, das sei schon ein besonderer Gipfel. Aber alle wollen sie im Grunde dasselbe. So fängt es also mit langem Warten an. Warten? Warten haben ja die meisten von uns gelernt. Herr Glanz nehmen Sie bitte Platz, Herr Direktor wird in wenigen Augenblicken zu Ihrer Verfügung sein. Herr, was heißt in wenigen Augenblicken? Ich hatte elf Uhr mit Ihrem Direktor ausgemacht. Und meine Uhr ist jetzt genau elf. Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit. Ein bisschen flott, der Hochbahnzug fährt schon gerade ein. Wenn wir den versäumen, verlieren wir zwei und eine halbe Minute. Such die Zeit, die du verloren. Du wirst sie nicht wieder finden. Aber vielleicht findest du ganz etwas anderes. Ein Blümlein, wie Goethe. Oder ein Gravitationsgesetz, wie Newton. Vielleicht findest du nur einen alten Nagel, um dich daran aufzuhängen. Vielleicht auch findest du eine Weltanschauung. Gotama Buddha fand die Erlösung. Den großen Verzicht. Das weise Lächeln für Sein und Nichtsein, für Haben und Nichthaben. Für ein Kind, das geboren wird, und für einen Greis, der zum Sterben sich anschickt. Vielleicht hat der Buddha recht. Was wissen wir.

Vor Jahren lernte ich mal auf einem Kostümfest ein Mädchen kennen. Das war eine brennende Leidenschaft von zwei Stunden. In Chicago ist der Weizen um volle 25 cents gefallen. Bitte. Bitte sehr. Meinetwegen um einen ganzen Dollar. Was geht das mich an. Alle Weizenmärkte der Welt gebe ich um eine Strähne blonden Haares. Allen Mais von Rio de la Plata um einen seidenen Frauenstrumpf. Seide, Seide, weiche Seide. Und jetzt hört der Strumpf auf. Himmel und Erde. Ich glaube in all den Jahren habe ich nur diese beiden Stunden gelebt.

Aber das Mädchen war klug. Das Mädchen führte mich zum Vater. Der war ein Gelehrter und krank an einer schweren Lähmung. Er saß im Rollstuhl und studierte Buddhismus. Man sagte, er sei Buddhist geworden. Er erzählte mir, wie ein König Chulalongkorn von Siam ihn besucht habe. Der hatte ihn gefragt: Doktor, glauben Sie, dass Europa bald für den Buddhismus reif werden kann? Nein, hatte er geantwortet, vorläufig nicht, frühestens vielleicht in fünfhundert Jahren. Wie in fünfhundert Jahren schon? Dann ist Europa ja nicht verloren.

Wer kann sich da auskennen. Der König Chulalongkorn ist tot. Seinen Nachfolger hat das siamesische Volk mit Revolution davongejagt. Das heißt, er lief beim ersten Flintenschuss. Weil das Volk nicht mehr glauben wollte, dass man mit endlosem Verzicht und restlosem Entsagen schon auf Erden zur Seligkeit des Erlöstseins gelangen könne. Nun ist der König von Siam, aus lauter Gold und Perlen und Edelsteinen und so viel Weisheit, dass ihm diese Märchenschätze garnicht daran gehindert hatten, ein Entsagender im Geiste zu sein, nun also ist er ein Emigrant ohne Namen und spielt Roulette in Monte Carlo.

Wir gewöhnlichen Emigranten müssen zunächst einmal warten. Wie gesagt, wir haben es zumeist gelernt. In der Zelle, wissen Sie. In der Zelle. Fünf Schritte lang. Drei Schritte breit. 126 Fliesen bilden den Fußboden. Das erste Mal hat man vielleicht eine Fliese zu wenig gezählt, das andere Mal eine Fliese zu viel. Aber schließlich stellt man die endgültige Zahl fest. Oben angefangen oder unten. Genau gezählt. Das eiserne Bett hängt am Mauerhaken, hochgeklappt an der Wand. Sieben Gitterstäbe hat das Fenster und man darf nicht hinausschauen. Nur die Sonne kann hineinschauen, weil keine Verfügung der Gestapo, eines Gefängnisdirektors oder eines Staatsanwalts es ihr verbieten kann. Um sieben Uhr ist die Sonne bei der vierten Fliesenreihe, um 8:00 Uhr bei der fünften, um 9:00 Uhr … das heißt, dann ist es Mai. Im Juni ist es anders. Und im Dezember erst, noch ganz anders. Da lässt sich gemächlich warten.

Da hatten sie einen politischen Gefangenen. Von dem wollten sie alles mögliche wissen. Er sollte seine Freunde nennen und verraten. Sie haben ihm alles mögliche versprochen, wenn er zum Verräter würde. Und haben ihm schrecklich zugesetzt, weil er sich weigerte. Ich sollte etwas gestehen, was ich nicht getan hatte. Dergleichen von einem Menschen verlangen, das ist schon eine schurkische Gemeinheit. Aber jemanden zwingen, mit Foltern des Leibes und der Seele, seine Freunde und Gefährten zu verraten, das ist Verworfenheit. Verworfen. Weggeworfen. Ausgeworfen. Auswurf. Ausgespucktes. Ausgekotztes. Das stinkt. Das einem immer wieder übel wird. Der Kranke schämt sich seines Auswurfs. Der Besoffene noch flüchtet auf den Abort, wenn er kotzen muss. Die aber sind stolz auf ihre Ausgekotztheit. Die Treue ist das Mark der Ehre. Heil Heckerle. Große Worte, schöne Worte, heilige Worte machen sie zu Scheißhausparolen. Bitte sehr. Sie stoßen sich an dem peinlichen Wort? Aber es ist doch so. Es ist doch so. Man muss doch mal sagen dürfen, was ist. Ich bin ja kein Diplomat. Ich darf einen Lumpen einen Lumpen nennen. Ich darf zur Scheiße ehrlich Scheiße sagen. Früher war ich auch so etepetete. Aber ich habe was gelernt da drüben, in den Kerkern von Blut und Scheiße.

Speiübel kann einem werden. Ging es nicht um den Etat, ich möchte mir einen Cognac bestellen. Einerlei. Ober, einen kleinen einfachen Cognac bitte. Ich habe einen so schlechten Geschmack im Mund. Als ob ich faules Fleisch gegessen hätte. Stinkendes Fleisch. Es sind schon Maden drin. Weiße, glibbrige Maden. Wurmgetiere. Wenn man es durchschneidet, leben beide Hälften weiter. Aus Schleim und Eiter und schillernder Geronnenheit. Bitte sehr. So rufen Sie doch eine Desinfektionsanstalt an, statt dass Sie wegsehen und sich ein parfümiertes Taschentuch unter die Nase halten. Sie haben genug gelesen über die Greuel der Konzentrationsläger. Über die Gestapo-Folterkammern. Sie wissen das alles schon. Gut. Gut. Ich werde Ihnen nichts erzählen, was Sie schon wissen. Ich habe nur versucht, Ihnen das einmal anders zu erzählen. Sie hatten genug von der naturalistischen Darstellung. Vielleicht bin ich ein Symboliker. Aber gleich im Anfang wird Ihnen übel. Das sind doch nur Worte. Worte und Gedanken. Das muss man doch erst erlebt haben. Ha, ha, ha. Da ist ja auch schon der Cognac.

Als die Folterknechte der Nazis aus dem politischen Gefangenen nichts herausbringen konnten, kamen sie auf eine Satansidee. Sie sperrten den Mann drei Wochen lang in eine Dunkelzelle ein. Drei Wochen lang in die Nacht. Sie dachten, da würde er entweder wahnsinnig werden oder kapitulieren und alles sagen, was sie wissen wollten. Drei Wochen lang Nacht und nur Nacht. Die Augen gewöhnen sich daran? Das ist ja das Schreckliche, dass die Augen die Finsternis zum düsteren Nebel machen. Wo die Kerkermauern zu zerfließenden Fernen werden, die Liegepritsche zu einem kauernden Ungetüm. Die Türrahmen zu Gespenstern. Drei Wochen in feuchtkalter Nacht. Da lernt sich warten. Da lernt sich die ausgesponnene Langweile tragen. Unser Mann hatte gar keine Langweile. Er schaffte sich Arbeit. Am Türgeräusch, wenn der Kerkerknecht ihm Brot und Wasser hineinschob, wusste er den Ablauf der Tage. Wusste er genau das Datum des Kalenders. Wichtig war das für unseren Mann im Nachtgemäuer. Denn er errechnete sich: Heute ist ein Lenin-Gedenktag. Oder heute ist ein Marx-Gedenktag. Oder heute ist ein Goethe-Gedenktag. Oder heute ist ein Feiertag der Sowjet-Union. Und da meinte unser Mann, bis zum Abend müsste er sich selbst eine Feierrede zu diesem Gedenktag halten, dass die feuchten Mauersteine hören würden. Heißt es nicht wo, dass wenn die Menschen schweigen, die Steine reden würden? Und wenn die Menschen taub sind, können nicht dann die Steine hören? So präparierte unser Mann sich den ganzen Tag auf eine Feierrede. Dann probte er sie und sie schien ihm nicht gut genug. Und er formte sie um, ließ Stellen weg und tat andere hinzu. Und am Abend des Tages in der Nacht hielt er den Steinen eine Rede, von Rosa Luxemburgs Leben und Sterben, von Friedrich Hölderlins Freiheitstraum, von Frankreichs großer Revolution und den Sansculottes, die die Heere der Reaktion aus dem Frankreich der ersten Tricolore hinausgeschlagen hatten. So stand unser Mann in Kerkernacht als ein großes Leuchten und die Steine lauschten und wurden hunderttausend horchende Kameraden und er nannte sie: Genossen.

Wie hatte der alte Anwalt in Hamburg gesagt, dass diese Leute seien? Eisern. So sind sie und noch viel mehr. Eisern gepanzert und drinnen mit brennender Seele. Und ich bin nur ein Stein. Aber die Steine müssen reden und so rede ich davon.

Der Mann hieß Willi Bredel. Sie sagten mir, er sei ein Schriftsteller und ein Kommunist. Ich dachte mir: groß ist der und breit. Und sie sagten mir, er sei nicht breit und sogar klein. Einerlei. Einerlei. Er ist doch groß und stark. Und er kann es leuchten machen in der Nacht.

Dergleichen Warten haben wir gelernt. Mehr oder weniger. Aber immerhin. Warten kann eine Leere sein, aber es kann auch eine Lehre sein. Je nachdem. Dem einen wird die Zeit ermordet, dem anderen wird sie nur gestohlen, der dritte aber lernt sie zu gestalten. Auf den dritten kommt es an.

Wie lange habe ich beim Hilfskomitee warten müssen? Nur ein paar Stunden. Ein paar lehrreiche Stunden. Ein paar geradezu notwendige Stunden. Einführung in die Kunst, Emigrant zu sein.

Sie sind neu hier? Von wo kommen Sie? Sind Sie politisch? Hier steht es nicht gut, viel Unterstützung wird man Ihnen nicht zahlen. Es ist einfach kein Geld da. Leben können Sie nicht davon. Wie, Sie wollen keine Unterstützung? Wozu sind Sie denn hier? Ach so. Keine Papiere. Aha. Also waren Sie doch politisch. Mit mir können Sie ruhig reden.

Nansen-Pass? Nein, den werden Sie nicht kriegen. Der war für die zaristischen Russen, die damals vor der russischen Revolution davongelaufen sind. Damals hat man doch gemeint, wie lange kann das dauern in Russland? Kommunismus und Sozialismus. Wie lange kann das dauern? Drei Monate. Sechs Monate. Man muss mit den Flüchtlingen doch anständig sein. Das sind doch die Leute von Gestern und so werden es die Leute von Morgen sein. Und da hat man ihnen gegeben. Auch Nansen-Pässe. Aber Sie, Sie kommen doch von der anderen Seite der Barrikaden.

Wieso kommt Leonhard Glanz von der Barrikaden anderer Seite? Hat er damals nicht auch genau so gedacht und geredet? Hat er für die Kommunisten jemals Sympathie gehabt? Interesse, ja, in letzter Zeit. Weil man einfach musste. Weder war die Sowjet-Union zusammengebrochen, noch waren ihre Bürger samt und sonders verhungert. Obwohl in den Zeitungen doch Millionen immerzu verhungert waren. Aber dass er auf jener Seite gestanden hätte – nein, niemals. Und jetzt auf einmal scheint es ihm, dass er doch da steht, auf der »anderen Seite der Barrikaden«. Das hat er selbst bis zur Stunde nicht gewusst. Wie ist der dahin gekommen?

Also keinen Nansen-Pass. Da müsste aber doch irgendeine Regelung sein? Nein? Keine Regelung? Heute so und morgen so? Entscheidung nach jeweiligem Ermessen. Kein Gesetz? Kein Recht? Ja, wie ist unsere Stellung hierzulande?

Stellung? Fragen Sie mal einen Fußball, was für eine Stellung er einnimmt. Die Emigranten, die sind etwa der Fußball der politischen Parteien. Die einen schreien: Im Namen der Nation muss man die Emigranten rausschmeißen. Das fliegt der Ball. Die anderen schreien: Im Namen der Menschlichkeit muss man sie dalassen. Da fliegt der Ball wieder zurück. Manchmal haben die Parteien und ihre Zeitungen auch Sorgen, dann kümmert sich kein Mensch um die Emigranten. Sobald sie aber nichts zu tun haben, geht der Sport wieder los.

Da werde ich mich an den Hochkommissar beim Völkerbund wenden. An wen? Ja, wie kommen Sie denn darauf? Sie haben mal in der Zeitung gelesen, dass es den gibt? Ich kann Ihnen verraten, das ist sogar schon der zweite. Der erste war ein Amerikaner. Der ging wieder nach Hause, weil er nach zwei Jahren aufopferungsvoller Tätigkeit nichts erreicht hatte. Aufopferungsvoll, sagte ich. Aber genau weiß ich nicht, wie viele Emigranten aufgeopfert wurden. Jetzt ist da ein Engländer. Der bleibt, weil er auch nichts erreicht hat. Der ist doch nicht für die Emigranten da. Der macht Reisen und studiert die wirtschaftliche Lage in der Welt in Bezug auf die Einwanderungsmöglichkeiten in den einzelnen Ländern. Nein. Dem Mann geht’s gut. Der hat doch mit uns Emigranten nichts zu tun. Der hat ein Jahresgehalt, davon könnten wir allesamt leben, wie wir hier sind. Ne, der ist für Sie nicht zu sprechen. Irgendeine Regelung? Aber der Mann ist doch beim Völkerbund. Vielleicht hat er sogar mal was zur internationalen Regelung vorgeschlagen. Ich habe mal sowas gehört. Aber da hat erst der eine nicht gewollt und dann der andere nicht. Wie groß ist die Welt und wieviel Emigranten gibt es, alles in allem? Das ist doch prozentmäßig gar nicht auszudrücken. Null, komma, nix. Aber über das Nullkommanix kann sich der Völkerbund nicht einigen. Warum nicht? Das ist doch das Normale. Der Völkerbund beschließt doch immer einmütig, dass nichts beschlossen werde. Vielleicht wird es jetzt aber besser. Ägypten ist ja in den Völkerbund eingetreten. Wenn aber der deutsche Gesandte in Caracas erklären sollte, er würde eine internationale Rechtsbestimmung für Emigranten als einen unfreundlichen Akt ansehen, dann kann man wieder nichts machen. Dann ist dafür keine Einstimmigkeit im Völkerbund zu erzielen. Denn Venezuela verhandelt vielleicht gerade wegen eines Clearing-Abkommens mit der deutschen Reichsbank, oder irgendwer verhandelt wegen eines Handelsvertrages. Und man kann doch nicht wegen der nullkommanix Emigranten den Handelsvertrag in Frage stellen. Man kann auch nicht den Parteien ihren netten Fußball wegnehmen. Womit sollten sie sonst Wettspiele austragen? Wer ist denn schuld, wenn die Preise runtergehen? Die Emigranten. Sitzen hier rum und verbrauchen nichts. Wer ist denn schuld, wenn die Preise raufgehen? Die Emigranten. Sitzen hier rum und fressen uns das Brot vor dem Munde weg. Wer ist schuld, dass die Aufrüstung ein Vermögen kostet? Die Emigranten, die uns mit dem Dritten Reich verhetzen. Wer ist schuld, dass wir nicht genügend gerüstet sind? Die Emigranten, diese Pazifisten. Wer ist schuld, dass die heurige Badesaison miserabel war? Dass es zu viel geregnet hat? Dass kein ordentlicher Winter war? Die Emigranten, nix als die Emigranten.

Die Emigranten – einer – haben einen Pelz gestohlen. Der Dieb – einer für alle – gab an, er sei am Verhungern gewesen. Und da habe er gestohlen. Am Verhungern? Warum denn? Weil er nicht arbeiten darf? Faule Ausrede. Deshalb stiehlt man doch nicht! Die Emigranten sind einfach ein asoziales Element. Taktlose Leute sind das. Da hat sich einer im Plenarsaal des Völkerbundes in Genf erschossen. Wie peinlich. Wenn der Mann nichts zu essen hatte, hätte er es doch sagen müssen. Es hätte ihm dann auch keiner was gegeben. Aber man erschießt sich doch nicht vor den Leuten. Erschießt sich in Monte Carlo einer im Spielsaal? Er geht in den Park. Aber vor dem Völkerbund? Vor dem gleichen Völkerbund, dem der Nazivertreter aus Danzig die Zunge ausgestreckt hatte. Würdelos. Taktlos sind diese Emigranten. Nullkommanix und so viel Spektakel. Warum nur des tausendjährigen Dritten Reiches Propagandaminister solchen Zorn auf dieses Nullkommanix hat? Warum er nur so hysterisch wird, wenn er von ihnen spricht? Haben sie ihm etwa doch auf den Fuß getreten? Das wäre nicht höflich, wo er so schon des Teufels Pferdehuf führt.

Nein. Wenn das Dritte Reich einen unfreundlichen Akt darin sehen würde, dann kann man für die Emigranten nichts tun. Menschlichkeit ist schön. Und jeder darf nach seines Herzens Wunsch so viel Menschlichkeit betätigen, wie er meint, mit der rückständigen Steuerrechnung vereinbaren zu können. Aber dem Staat darf er nichts kosten. Der Staat kann sich dergleichen Luxus nicht erlauben. Der Staat ist der Staat und kein humanitärer Verein. Die Nation. Über allem die Nation. Achtung. Fahne. Hut ab.

Und nun will die spanische Regierung dem Völkerbund ein Weißbuch überreichen. Der Völkerbund, la Société des Nations, the League of Nations. Mit so viel Fahnen auf dem Dach, wie Nationen im Palast sitzen. Kein Mensch hat so viel Hüte, wie er da abnehmen müsste. Obwohl es vielleicht die wichtigste Qualität des Kopfes ist, dass man damit grüßen kann. Vorbeigehen in gerader Haltung, mit Anlegen der rechten Hand an die Kopfbedeckung. Fragen Sie mal zum Beispiel einen von der Hitler-Jugend. Das ist wichtiger als die ganze Universität. Was hilft einem der Pythagoras, wenn man nicht ordentlich grüßen kann. Aber mit tadellosem Gruß, ruckzuck, dass die Hacken knallen, da ist schon mancher Sturmtruppführer geworden. Und vom Sturmtruppführer bis zum Direktor eines mittleren Provinztheaters ist’s nicht weit.

Dem Völkerbund das spanische Weißbuch über die italienische Intervention. Wenn nun aber Mussolini sagte, dass er es als einen unfreundlichen Akt ansehen würde, wenn der erlauchte Völkerbund davon Kenntnis nehmen würde. Denn alles was da drin steht ist – ungesehen – erlogen. Und Mussolini fühlt sich verantwortlich, dass der Völkerbund nicht durch verlogene Lektüre um seine hohe Moral gebracht werde.

Dann wird der sehr ehrenwerte Völkerbund den Spaniern nahelegen, ihm das Weißbuch nicht offiziell zu überreichen. Wenn die Spanier es nun aber einmal mitgebracht haben, werden sie jedem Delegierten ein Exemplar privat überreichen. Und am nächsten Tag werden es alle privat gelesen haben und offiziell wissen sie von garnichts. Und das ist dann hohe Politik.

Der kleine Moritz sagt: Wenn mein Vater meiner Mutter erzählt, wenn ich dabei bin, dass der Storch nächstens Tante Frieda ein Kind bringen würde, dann wissen sie, dass ich weiß, dass das mit dem Storch nicht stimmt. Sie wissen sogar, dass ich weiß, dass sie das wissen. Etwas kompliziert, wie? Ja, dergleichen mutet man dem kleinen Moritz zu. – Und genau so stellt sich der kleine Moritz die hohe Politik vor.

Der kleine Moritz kennt sich da aus. Aber wenn heute jemand aus Deutschland kommt, der hat ja gar keine Ahnung. Er braucht garnicht aus einem besonderen Gefängnis oder Zuchthaus oder Konzentrationslager zu kommen. Sondern eben einfach als ein normaler Bürger aus dem Dritten Reich. Den Kopf so eingerichtet, dass die Nase mit den Knöpfen des Waffenrocks und der Kokarde der Militärmütze eine gerade Linie bildet. Und nun liest er auf einmal die Zeitung. Der fällt ja die Treppen nur so hinauf und herunter.

Was ist denn bloß in Spanien los?, denkt der Mann, den die »Kraft durch Freude«-Organisation auf das Ausland losgelassen, damit er dort Propaganda für des Dritten Reiches Herrlichkeit mache und der stattdessen verbotene Zeitungen liest. Da haben sie uns gesagt, in Spanien hätten die Roten Revolution machen wollen. Was die Roten so Revolution nennen. Rauben, Morden, Plündern, Kinder aufspießen und Frauen vergewaltigen. Und alles kurz und klein schlagen, die Kirchen und die Häuser und den Reichstag von Madrid haben sie auch angezündet, und wenn sie es nicht getan haben, dann haben sie es jedenfalls gewollt, wenn nicht im letzten Augenblick der tapfere General Franco das alte, nationale Banner ergriffen hätte, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen. Und das wäre alles längst wieder in Ordnung, wenn nicht die Moskowiter den Roten in Spanien zu Hilfe gekommen wären

Das ist doch ganz klar. Das ist doch ganz einfach. Und nun, was da hier so in den Zeitungen steht. Da kennt sich doch kein Mensch aus. Englische und französische Schiffe. Na ja, Frankreich liegt ja da hinten und England sitzt in Gibraltar. Aber italienische Divisionen vor Madrid und deutsche Flieger im Baskenland. Da hat man ja keine Ahnung. Was ist denn nun eigentlich los? Nein. Am letzten Kameradschaftsabend bei »Kraft durch Freude« haben sie mir gesagt: Mensch, wenn du auf Reisen gehst, kiek dir gut um. Aber glaub nur, was du siehst. Was in den Zeitungen steht, ist alles Schwindel. Das brauchst du garnicht erst zu lesen. – Hätt ich mich nur daran gehalten.

Da fällt mir auf einmal was ein. Da wohnt bei uns in der Straße so ein kleiner Schneider. Er hat mir den Anzug gemacht, den ich anhab. Echt englischer Stoff, hat er mir gesagt. Kein Faden Ersatzgarn drin. Den kann ich bei Regenwetter ruhig tragen. Was? Wie? Nein, hier hört ja keiner zu, hier können Sie ruhig sprechen.

Da komme ich also zur Anprobe und da kommt der Mann, hat den Anzug überm Arm und ist ganz grau im Gesicht. »Na Meister«, sage ich, »was ist dann passiert?« Na, was soll ich Ihnen sagen, der Mann hatte einen Sohn beim Militär. Eines Tages kriegt er nen Bescheid, der Sohn sei zu besonderer Übung im Manövergelände und wenn er ihm zu schreiben hat, soll ers da und dahin schicken. Na und was soll ich Ihnen nun sagen. Der Mann hat nun den Bescheid gekriegt, dass sein Sohn bei einer Manöverübung verunglückt sei. »Auf dem Felde der Ehre …«

Ich denke, was soll ich dem Mann sagen, in seinem Schmerz. Aber irgendwas muss man doch sagen. Ich sage also was, von der neuen Ehre des Vaterlandes. Deutschland geachtet und gefürchtet und so. Auf einmal haut der Mann mit der Hand auf’n Tisch. »Deutschland, Deutschland über alles«, schreit er, »aber was hat das mit Spanien zu tun? Was haben wir in Spanien verloren, dass ich meinen einzigen Jungen dafür geben muss?«

»Nun beruhigen Sie sich nur, Meister«, sage ich, »um Gottes willen, nicht so laut. Wenn sie einer hörte.«

»Mir können se hören. Mir kann jeder hören. Ich sag es sie ins Gesicht. Meinetwegen den Dokter und den Hermann und Adolf auch. Mir kann keener. Ich bin alter Kämpfer mit Parteibuch vom 26. Deutschland, in Ordnung Herr. Wenn uns einer an den Wagen fährt, bis zum letzten Hauch von Ross und Mann. Aber Spanien, was geht uns Spanien an? Und General Franco und überhaupt Mussolini? Det steht nicht ins Programm. Det nicht. Det stimmt nicht. Denn wenn es stimmte, dann können se uns das ja ruhig sagen. Und nich sone Geheimtuerei. Alle Tage der Krach wegen die katholischen Klöster und Unzucht am Altar und verderbte Priester. Mit einmal. Und dass unsre Jungs in Spanien fechten und fallen müssen, da, davon kein Wort? Ja, wofür denn? Wofür hab ich denn nu meinen Jung gegeben, wenn es noch nicht mal einer wissen darf?«

Ich dachte, der Kummer hat den Mann ganz verwirrt gemacht. Ist ja auch keine Kleinigkeit. Und nun liest man das auf einmal hier alles in den Zeitungen. Was ist dann bloß los? Rebellion? Das ist keine Rebellion. Bürgerkrieg? Das ist kein Bürgerkrieg. Das ist ein richtiger Krieg. Italienische Divisionen, deutsche Soldaten, marokkanische Neger, spanische Reaktionäre, die diesen oder jenen König wieder einsetzen möchten, kämpfen gegen das spanische Volk. Richtiger Krieg.

Aber da sind die internationalen Brigaden, auf der Seite des spanischen Volks. Das sollen die Moskowiter sein? Das sind ja Kämpfer aus aller Welt, aus allen Erdteilen. Da sind ja auch Deutsche und Italiener. Und nun stehen sich an den Fronten vielleicht an beiden Seiten Deutsche und Italiener gegenüber? Was ist dann das für ein Krieg? Warum steht denn das nicht im Völkischen Beobachter, den wir zu Hause alle Tage lesen?

Was ist das für ein Krieg? Wer gegen wen? Wo laufen denn die Fronten? Mitten durch die Nationen? Man muss sich das doch genauer ansehen.

Da sind die Negersoldaten des Generals Franco. Die Mohren. Die Mauren. In der Schule haben wir mal gelernt, dass früher die Mauren in Spanien waren. Das spanische Volk und die spanischen Ritter haben sie hinausgejagt, nach Afrika, wo sie hingehören. Da war ein Held, hieß der Cid, ein großer Held, haben wir gelernt. Und nun holt der General Franco die Mauren wieder zurück, damit diese Mohren das Land erobern und unterwerfen sollen? Wie ist denn das? Da stimmt doch was nicht? Aber was stimmt da nicht?

Frankreich ist eine vernegerte Nation. Na ja, das ist so. Auf allen unseren Parteiversammlungen wurde das immer gesagt, Das ist eine hundertprozentige Wahrheit, wurde gesagt. Im Buch Mein Kampf steht es doch auch, Und wenn der Führer das geschrieben hat, dann ist es so. Und es ist eine Schande und eine Schmach. Schwarze Schmach. Französische Negersoldaten am Rhein. Französische Negersoldaten an der Ruhr, an der Saar. Schwere Schmach. Vierzehn Jahre der Schmach. Vierzehn Jahre. Und dann hat der Führer das Land wieder frei gemacht.

Aber warum kämpfen und fallen jetzt deutsche Männer Schulter an Schulter mit den Mohren des General Franco? Da stimmt doch etwas nicht? Aber was stimmt da nicht?

Wahrscheinlich weiß der Führer davon garnichts. Bestimmt weiß er nichts davon. Dass würde er doch nicht dulden. Darum darf nichts davon bei uns in der Zeitung stehen. Sie verheimlichen es dem Führer. Aber ich werde da Ordnung machen. Ich werde ins Parteibüro gehen, wenn ich erst wieder zu Hause bin. Ich werde einen Brief an den Führer schreiben. Jawohl, ich habe meine SA-Uniform immer in Ehren getragen. Ich bin auch ein alter Kämpfer.

Die Juden und die Neger. Das eine wie das andere verdirbt die arische Rasse. Die Neger und die Juden. Wozu haben wir den Kampf gegen den Juden geführt? Hatte ich da nicht manchen guten Bekannten, wo ich mir sagte, der ist anständig wie nur einer. Aber es kommt doch nicht darauf an, dass ein Jude einmal ein anständiger Mensch ist. Der Jude ist eben der Feind. Der Jude ist der Teufel. Keine Gemeinschaft mit Juden und Negern. Reine Rasse, reines Blut. Blut und Boden. Heil.

Und nun sollen in Spanien die Neger die Retter der Nation sein? Germanische Blondlinge kämpfen Seite an Seite mit krollhaarigen Negern? Vierzehn Jahre schwarze Schmach? Und auf einmal sollen Negersoldaten so malerisch sein? Da stimmt doch etwas nicht. Und ich sehe doch ganz genau, was da nicht stimmt. Der Führer muss davon erfahren. Der Führer muss da Ordnung machen. Ich werde ihm einen Brief schreiben.

Schreibe deinen Brief an den Führer, wenn du wieder daheim sein wirst, alter Kämpfer. Es war einmal ein seltsamer Mensch und erhabener Dichter, Friedrich Hölderlin, der schrieb auf kleine Zettelchen Briefe an den lieben Gott und warf sie zum Fenster hinaus. Es bleibe dahingestellt, ob diese Briefe angekommen sind. Aber dein Brief, alter Kämpfer, wird nicht beim Adressaten ankommen, nur du hast eine Chance, dabei im Konzentrationslager zu landen. Aber bei jener Art des Mutes, die eine so hervorragende Eigenschaft der landläufigen Nazis ist, wirst du den Brief ja garnicht erst schreiben. Weil du ja auch ganz genau weißt, dass der Führer ganz genau informiert ist, über das, was in Spanien getrieben wird. Und was hülfe das deinem Schneider, der dir aus seinem letzten englischen Stoff einen Anzug gemacht hat? Sein ganzes Leben lang hat der als braver Schneider Röcke zugeschnitten und genäht, Hosen gebügelt, Flicken kunstvoll eingesetzt. Und selbst nie einen ordentlichen Anzug getragen, weil es nicht reichte, von vorne nicht und von hinten nicht. Und jeder übrige Groschen sollte für den Jungen sein, dass der eine ordentliche Erziehung hätte und eine gute Schulung und einmal etwas werden sollte. Hoch hinaus sollte es mit dem Jungen. Und nun liegt er, ein zerschmetterter Ikarus, irgendwo in baskischer Erde von Irun. Die vornehmen Badegäste von Biarritz haben damals mit Feldstechern zugesehen, wie er mit brennendem Flugzeug abstürzte. Deine Sorgen und Nöte. Deine Entbehrungen und Hoffnungen. All die tausend kleinsten Freuden, die du dir dein Menschenleben durch versagtest, dass ein Tag war wie der andere, ein leeres Stroh. Du kleiner Mann mit dem großen Bügeleisen. Mit dem heißen Bügeleisen in der kleinen Werkstube, dass du immer hast hüsteln müssen. Und dann kamen deine Feiertage, wo du Fähnchen geschwenkt hast und Fackel getragen und Heil gerufen, mit dünner, etwas lädierter Stimme, und hast dich als große Sache gefühlt, weil auf einmal die Juden da waren, auf die du heruntersehen konntest. Und nun liegt dein Leben und dein Hoffen, dein Königreich liegt da, ein namenloses Grab zwischen namenlosen Gräbern von Irun. Und deine Frau, du kleiner Mann, mit dem großen Bügeleisen? Die immer so grau aussah, wie ihre Kleider waren und auch so fadenscheinig? Oh, die ist jetzt eine Heldenmutter. Heldenmutter inkognito. Und wenn es niemand sieht – sie ist ja viel allein –, dann darf sie sich die Augen ausweinen bei Tag. Und ihre Muttertränen fallen auf dich nieder, in der Nacht. Glühende Tropfen, die durch die Haut brennen und tief hinein, bis in das Herz. So ruf doch Heil. So trag doch deine Fackel.

Warum denn das? Für wen denn? Für was denn? Kleiner Mann mit dem großen Bügeleisen, wie soll man dir das sagen? Alter Kämpfer von der »Kraft durch Freude«, wie soll man dir das sagen? Ein Glück, dass ihr nur Gespinste seid, der Fantasie des Mannes Leonhard Glanz, der mit der ersten Seite der Zeitung nicht zurechtkommen kann, obwohl er schon anfängt, sich in der Zeit auszukennen. Aber er weiß das auch nicht. Und obwohl er nun schon tagelang mancherlei Zeitungen gelesen hat, kennt er sich da nicht aus. Denn in den Zeitungen steht es nicht drin.

Da ist der General Franco. Gott des Krieges? Der hat damals einen Militärputsch machen wollen. Höchstens dreimal vierundzwanzig Stunden meinte er zu brauchen, um Spanien um zweihundert Jahre zurückschieben zu können. Was will er denn? Er will die Stiergefechte in Spanien verewigen. Das spanische Volk meint, man könne zu seiner Bildung und Erheiterung auch etwas anderes tun. Zum Beispiel Bücher lesen. Oder wenn es eine Schau sein sollte, könnte man in gutes Theater gehen. Aber General Franco meint, Kraft durch Freude in spanisch-nationalem Sinne, das ist: Stiergefecht. Er meint, Kultur ist Stiergefecht. Und darum schießt er die Theater von Madrid zusammen und die Bibliotheken, legt er die heilige Geistigkeit von Guernica mit Bomben in Trümmer. Mehr weiß der General Franco nicht. Aber schließlich führt man keinen Krieg, nur weil der eine unter Kultur Stiergefecht versteht und der andere Bücher. Der General Franco ist kein Gott des Krieges. Er trägt nur gerne Orden. Viereckige, runde und zackige, einerlei, wenn sie nur blitzen und blank sind. Es gibt mehr solcher Kriegsgötzen, die sich mit Silberblech und Goldblech behängen, mit Schnüren und Firlefanz. Die Urindianer von Amerika hatten in dieser Sitte viel mehr Geschmack entwickelt, wenn sie sich Kronen aus bunten Federn aufsetzten. Aber nicht jeder kann es bis zum Indianerhäuptling bringen. Winnetou bleibt eine unerfüllte arische Sehnsucht und wenn man auch alle Klassiker verbrennen würde und nur Karl May übrig ließe.

Da ist der Mann Juan March. Der macht sich garnichts aus Orden. Der weiß überhaupt nicht, woraus er sich etwas macht. Dem geht es um die 650 Millionen Dollar, die er in das Franco-Unternehmen hineingesteckt hat, gewiss nicht aus Liebe zu irgendwem und zu irgendwas. Aber der Ursache des Krieges sind wir hier doch schon greifbar näher. Man merkt schon wie und was. 650 Millionen Dollar sind eine Menge Geld, auch dann, wenn man es zum Teil von den werten Kollegen der spanischen Hautefinance bekommen, zum anderen Teil aus dem spanischen Tabakmonopol herausgeplündert hat.

Auf in den Kampf, Torero. Jedesmal, wenn du dir ein Päckchen schwarzer Cigaretten gekauft hast, um besser husten und zielsicher spucken zu können, hast du eine Steuer in Juans Marchs Kriegskasse gezahlt. Vielleicht ist die Fliegerbombe, die dein eigenes Kind erschlagen hat, auch mit deinem eigenen Geld bezahlt. Und du weißt es nicht einmal. Caballeros, es lebe das Tabakmonopol!

Leonhard Glanz, pass auf. Alter, ehrlicher Hamburger Getreidehändler. Prima Börsenaufgabe. Sichere Kontraktsunterschrift. Pass auf.

Dein Kollege Juan March hat vor einem Menschenalter noch mit Zwiebeln gehandelt. Ob’s nun canadischer Weizen ist oder spanische Zwiebel, das wäre am Ende einerlei. Nur hat er nicht, wie du, sich in wohlformulierten Kontrakten bewegt, er hatte seine Zwiebeln gleich vor sich auf der Karre und verkaufte sie stückweise oder in Bündeln, je nachdem.

Wir haben nichts gegen Zwiebeln. Zwar sagen die echtbürtigen Nazis, Zwiebel sei der Juden Speise. Was aber nur innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches recht ist, solange es nützt, etwa als Ersatz für einen Punkt des sozialistischen Programms, den man für die Dauer des Dritten Reiches schuldig zu bleiben fest entschlossen ist. Sonst: Nichts gegen Zwiebeln. Das Geld, das sich Juan March damit als Anfangskapital verdient hat, riecht nicht nach Juden.

Juan March wurde aber jetzt nicht etwa Zwiebelhändler en gros. Nein, hier trennen sich seine Wege von denen etwa des Kaufmanns Leonhard Glanz. Juan March zog dem Leben bürgerlicher Ordnung ein Leben indianischer Beweglichkeit vor. Er wurde Tabakimporteur. Allerdings einer, der bei seinen Tabakimporten niemals den Steuerbehörden ihre Taxen bezahlte. Er importierte längs den Küsten des Mittelmeers. Zumeist bei der Nacht und an einsamen Stellen. Ein brillantes Schmugglergeschäft. Den späteren, großen amerikanischen Alkoholschmugglern aus der Trockenperiode mindestens ebenbürtig, umso mehr, als das Unternehmen von etwas anarchischem Kleinimport von Fall zu Fall, zum Großimport, zur Versorgung ganzer Märkte überging. Dazu war sogar ein allgemeiner Mittelmeer-Zollfrieden abgeschlossen worden. Die bösen Feinde, die Zöllner, wurden versöhnt, sie partipizierten sogar an dem Geschäft. Juan March studierte damals eifrig die Geschichte der Petroleumkönige, Eisen- und Stahlkönige und anderer Könige, mit dem Vorsatz, auch einer zu werden. Ob in der Türkei oder in Ägypten, in Spanien, Marokko oder gar in Marseille, das war noch nicht heraus. Gute Freunde hatte er dort schon überall.

Auf einmal kam der Weltkrieg. Im Krieg an sich dürfte der Tabakkonsum wesentlich steigen. Soldaten können nicht immer nur Schlachten schlagen und in der Freizeit rauchen sie, so spekulierte Juan March ganz richtig, aber sein gut aufgezogenes Geschäft geriet doch heillos durcheinander. Beamte wechselten. Wie mit den neuen zu reden sei, war unklar. Juan March lag verkehrt. Er lag überhaupt verkehrt. Im Krieg soll man doch mit Waffen handeln. Also umstellen. Das aber gelang nicht. Überall, wo man in den Waffenhandel sich hätte einschalten können, saß schon einer, nämlich Mister Zaharoff.

Juan March war ernstlich böse, nämlich auf sich selbst. Da hatte er einen Bekannten, der wegen geplatzter Wechsel und entsprechender Zusammenhänge nach Mexico gegangen war. Der hatte drüben einen Export von Musca angefangen. Musca hat nichts mit dem Gewürz zu tun, das Muskat heißt, im Gegenteil, es ist eine scheußliche stinkende Sache. Musca ist die mexikanische Sumpffliege, die in ungeheuren Mengen gefangen wird. Haben Sie schon einmal eine Fliege zu fangen versucht? S – t, mit der Hand an der Wand entlang, oder an der Fensterscheibe. Weg ist sie, Sie haben sie nicht gekriegt. Es war einmal ein General, der hielt sich einen Laubfrosch. Der Laubfrosch fraß lebendige Fliegen, und zur Beschaffung dieses Laubfroschfutters hatte die Division einen Mann ständig kommandiert, der nichts zu tun hatte, als Fliegen zu fangen. In Mexico ist das anders. Es ist egal, wie man da die Fliegen fängt und zu Millionen nach Gewicht in Kisten verpackt, als Fischfutter oder zu chemischen Zwecken. Ist ja egal. Eines Tages schrieb der geplatzte Wechselmann aus Mexico, es sei Blödsinn in dieser Zeit mit Musca zu handeln, wo in Mexico jeden Tag Revolution ausbrechen könne. Man müsse mit Gewehren und Maximkanonen handeln. War das nicht ein Wink vom Himmel gewesen? Und nicht befolgt. Sonst wäre Juan March jetzt in Trade. Anstatt daneben zu sitzen.

Aber schließlich und Gott sei Dank, wird Krieg ja nicht nur mit Waffen und Munition geführt. Da haben die Deutschen einen sehr gescheiten Mann aus der Elektrizitätsbranche. Er soll auch sonst was verstehen. Rathenau heißt er. Der soll den Krieg der allgemeinen Wirtschaft organisiert haben. Rohstofforganisation. Diese Deutschen. Wenn sie nur organisieren können. Der Ballin soll übrigens geflucht haben, dass man ihn nicht rechtzeitig informiert hatte, dass und wann man Krieg machen würde. Er hätte sonst mit seiner Flotte Deutschland so voll Getreide geworfen, dass eine Brotsorge nie hätte kommen können.

Haben die Deutschen Brotsorgen? Aufpassen, Juan March. Da gibt es was, um einzuhaken. Aber der Haken lässt sich nicht einschlagen, keine ordentliche Verbindung möglich, zu den Mittelmächten. Und die Alliierten haben selbst alles. Soll Juan March die großartige Chance versäumen? Lebt in einem neutralen Land und kann am Kriege nicht verdienen? Ist er ein Trottel? Ein Greenhorn? Ein Caballero sin caballo. So einen Krieger erlebt man doch nur einmal im Leben (Höchstens zweimal, oder … abwarten, Sie werden schon sehen). Sitzt Juan March völlig daneben, rauft sich die Locken, die ohnehin nicht mehr fest sitzen. Der Kummer lässt sie ihm ausgehen.

Juan March liefert Schweine an die französische Heeresverwaltung. Das ist nicht viel, aber ein Anfang. Auf einmal sind deutsche Kriegsschiffe in spanischen Häfen. U-Boote. Etwas klein. Aber da muss Juan March eben kleine Geschäfte machen. Stolz weht die Flagge schwarz, weiß, rot. Allons enfants de la patrie. Britannia, rule the waves.

Der Gott des Krieges lächelt dem wackeren Juan March zu. Der König und die Granden sind für die Mittelmächte. Die Finanz ist für die Alliierten. Spanien bleibt neutral. Juan March schwimmt dazwischen. Juan March geht in die Politik. Juan March liefert dem Geheimdienst der Deutschen geheime Nachrichten. Juan March liefert den geheimen Dienst der Alliierten geheime Nachrichten. Juan March hört etwas vom deutschen Gesandten und verkauft es dem englischen Generalkonsul. Er hört etwas vom französischen Botschafter und verkauft es dem österreichischen Attaché. Juan March spricht viele Sprachen und handelt mit vielen Waren, Juan March steigt sachte in die Börse ein und kauft unter der Hand ein paar Majoritäten auf. Ein paar Banken, ein paar Industriewerke, ein paar Reedereien. Land? Nein. Land kauft er nicht auf. Mit den Granden will er nicht konkurrieren. Im Gegenteil. Er will in die Hofsonne. Orden? Was soll Juan March mit Orden? Den wohlriechenden Zwiebelorden? Den treugeschmuggelten Tabakorden? Den wohlgemästeten Schweineorden? Den patriotischen Geheimdienstorden? Was soll ein Kaufmann mit Bändchen und Blech? Der Krieg steht faul. Er frisst zu viel Menschen. Das kann nicht ewig weiter gehen. Faul. Der Krieg neigt sich seinem Ende zu. Juan March muss sich nach einem soliden Geschäft umsehen und nach einem seriösen Partner, der die richtigen Verbindungen hat. Noch einmal will man nicht halb daneben sitzen und zusehen, wie dieser Basil Zaharoff die Sahne abschöpft, von einem Meer von Blut.

Wer ist der beste Geschäftsmann von ganz Castilien? Nach Juan March, natürlich. Denn dass er das Fixeste ist, das weiß er sowieso. Sie sagen, der beste Geschäftsmann sei der König. Sie sagen auch, dass er der beste Tennisspieler, Reiter, Fechter sei. Das ist das Vorrecht aller Majestäten. Das war Wilhelm, der von Gottes Gnaden auch. Was habe ich Ihnen gesagt? Faul, der Krieg. Wilhelm ist nicht mehr der beste Mann im Staate. Er ist nur noch der beste Holzhauer von Doorn. Majestäten an sich sind schlecht im Kurs. Aber dieser Alfons ist ein guter Geschäftsmann.

Politisch hat sich die Majestät von Spanien schiefgelegt. Der Rifkrieg, mit den schneidigen Reiterattacken. Das hat er noch von Wilhelm von Doorn her. Nichts gelernt. Dieser Alfons XIII. hat sich verdammt unpopulär gemacht. Das eben ist nun Juan Marchs Chance. Der hat die Popularität. Viel Geld, viel Geld, viel Geld und alle halten ihn für einen netten Kerl. Warum auch nicht? Mit der frühen Glatze und der Brille sieht der aus wie ein Professor im Film. Ein Haifisch, der wie ein Professor aussieht.

Seine Majestät brauchen Geld. Ha, ha, ha. Das ist alles? Der beste Geschäftsmann von Castilien und León. Und er braucht Geld. Ein König von Spanien aus dem Hause Habsburg und braucht Geld. Von einem Zwiebelhändler, der oft genug zum Mittagessen sich eine Knoblauchzwiebel vom eigenen Wagenstück stibitzt hat. Majestät, es ist mir eine Ehre. Wieviel befehlen Majestät, dass ich mit meinen bescheidenen Kräften zu dero erlauchter Verfügung stelle? Majestät sind sehr gnädig. Sehr gütig, Majestät. Juan March, wie stehst du da, vor deinem König. Als du anfingst, mit Zwiebeln, hast du geglaubt, der König geht mit Purpurmantel und Hermelin zu Bett. Und die Krone stellt er auf das Nachtschränkchen.

Und jetzt bist du wirklicher, geheimer Hofbankier. Und teilst mit der Majestät von Spanien einen hübschen Geschäftsertrag, nämlich den des spanischen Tabakmonopols. Vom Tabakschmuggel bis zum Tabakmonopol. Ein ganz hübscher Weg schon über die Krone. Eines Tages dankt der König ab und geht nach Monte Carlo, Roulette spielen, und nun ist Juan March alleiniger Besitzer des Tabakmonopols. Und nun sieht man wieder, warum der Krieg in Spanien kam, wie er kam. Dass die spanische Republik dich nicht zum Teufel jagte, Juan March, dich und die anderen deinesgleichen, das war ihr großer Fehler. Dass sie Leute wie dich geduldet hat und erlaubt hat, dass die Juan Marchs politische Parteien finanzierten »zur Verteidigung des Besitzes« nebst »spanischer Phalanx«, das war ihr unverzeihlicher Fehler. Dass der radikale Mann des Volkes Alejandro Lerroux so einen Menschenfresser für ganz in Ordnung hielt, das war sein volksverräterischer Irrtum. José Maía Gil-Robles und Juan March, hinab in die Zwiebeln, woher ihr kamt. Da es nicht geschah, gab es Krieg.

Zwar hatte ein erstes spanisches Parlament so viel Ehrgefühl – wieviel hatte der Sitz gekostet –, einen Abgeordneten Juan March nicht in seinen Reihen haben zu wollen. Zwar gab es einen Korruptionsskandal, Untersuchungsgefängnis und Prozess, aber das war schon ein frischfröhliches Gefängnis. Die Gefängniszelle als Zentralbüro der faschistischen Partei. Die Gefängniszelle als Chefredaktion von so und so viel politischen Zeitungen, die Gefängniszelle, in der das Kabinett des Ministeriums Lerroux ernannt wird, die Gefängniszelle von der aus ein höchster Gerichtshof von fünfzehn Ehrenmännern zur Garantie der Konstitution dirigiert wird – der Gefangene, der die Regierung kontrolliert, die ihn eingesperrt hat –, und schließlich die Luxus-Limousine vor dem Gefängnis und der sehr ehrenwerte Don Juan steigt ein, unter Assistenz von drei Posten und dem Zellenwächter, der mit Tränen in den Augen von seinem spendabelsten Gast Abschied nimmt und die Wagentür schließt – kleine Reisezuschlagskarte hat zwanzigtausend Dollar gekostet –, ab nach Paris.

So sieht der Glatzkopf mit der Brille aus, der Typ des braven Filmprofessors. So sehen die feinen Herren aus, deren Besitz der General Franco verteidigt, und er ist wenigstens einer, der sich den Besitz selbst zusammengeräubert hat. Wie aber erst die anderen Hidalgos, die Herren vom Adel und Großgrundbesitz, von denen eine Hundertschaft mehr Land besitzt als Millionen Bauern. Die patriotischen Patrioten, die damals von Biarritz aus zugeschaut haben, als der deutsche Kampfflieger vor Irun in einer Säule von Rauch und Feuer niederschmetterte und des kleinen Schneiderleins, mit dem großen Bügeleisen, Lebenshoffnung begrub.

Was hatte der deutsche Flieger an der baskischen Front in Spanien verloren? Warum musste er das Kapitel des Juan March verteidigen und die riesigen Güter des stolzen Hidalgos? Weil die Marxisten und Moskowiter immer von der Internationale sprachen, hatte doch der Führer Deutschlands nationale Revolution gemacht. Deutschland den Deutschen. Juden raus. Marxistische Internationalisten raus. Raus mit dem jüdischen Gott, raus mit der verjudeten Bibel, raus mit dem Franken Karl, dem Sachsenschlächter, es lebe Widukind, deutscher Boden, deutsche Art, deutsche Frauen, deutsche Treue. Wer liegt denn da im Bett, bei einer deutschen Frau? Ein jüdischer Teufel. Ein Rassenschänder. Ich habe es durch die Wand gehört. Ich habe es durch das Schlüsselloch gesehen. Ich habe es mit Schweinerüssel erschnüffelt, als Verteidiger der deutschen Ehre. Und wenn ich es zehnmal nicht gesehen, nicht gehört, nicht erschnüffelt hätte, den Eid möchte ich sehen, den ein deutscher Mann im Thing nicht schwören würde, wider Juda, den rassistischen Verderber.

Aber was haben die blonden und blauäugigen Deutschen aller Schattierungen nun wirklich in Spanien zu tun? Alles mal herhören. Streng vertraulich. Wer das Maul nicht halten kann, wer vaterländische Geheimnisse ausplaudert, wird auf der Flucht erschossen, noch ehe er ans Fliehen auch nur denken kann.

Natürlich weiß der Führer. Der, in seiner alles bedenkenden Weisheit, hat es sogar angeordnet. Der Führer in seiner Allwissenheit, treusorgend der deutschen Nation Belange besinnend, bei Tag und bei Nacht, der klug vorausschauende Führer denkt an die spanischen Erze, an die Quecksilbergruben, an Kupfer und Zinn und alles das, so wie die deutsche Industrie es ihm eingab. Heil!

Der Führer in allerhöchster Klugheit besinnt und bedenkt nicht nur die wirtschaftlichen Möglichkeiten und Erfordernisse, sondern auch die militärisch-politischen. Und da er den Frieden will, was er ja selbst immer sagt – ich glaube, was ich sage, du sagst, was du glaubst, er sie es glaubt nicht, was er sie es sagt, wir glauben, was wir nicht sagen, ihr sagt, was ihr nicht glaubt, sie glauben nicht, was sie nicht sagen –, der Führer also, der den Frieden liebt und die Pazifisten nur wegen ihres fremdwörtlichen Namens hasst – Doitscher schbräche Doitsch –, muss mit allen Kräften den Krieg vorbereiten, um den Frieden verteidigen zu können. Etwa gegen die Franzosen, von denen in der Nationalbibel Mein Kampf der drittreichigen Deutschen nachgewiesen ist, dass sie die gefährlichsten Friedensfeinde sind. Und nun denkt der Führer so: Ein faschistischer Spanier würde im Fall eines Krieges, in dem das Frankreich der Volksfront stehen würde, zunächst schon etliche französische Divisionen an den Pyrenäen festhalten. Ein faschistisches Spanien, verstärkt durch deutsche Militärstationen, Flugzeug- und Marinebasen, könnte Frankreich von seinen afrikanischen Kolonien und damit von einem wichtigen Soldatenreservoir abriegeln. Der Führer muss alles edel und klug bedenken, nach seinen Intuitionen, wie ein deutscher Generalstabs sie ihm eingibt. Heil!

Der Kaffeehausemigrant bei seinem Zeitunglesen meint wunders was für Erleuchtungen und Erkenntnisse ihm da werden. Er ahnt ja garnicht, dass alles das platteste Binsenweisheiten sind, die jedermann kennt, und dass es ein unausgesprochenes Übereinkommen zwischen den Politikern, Diplomaten, Staatsmännern der Welt ist, darüber nicht zu reden. Hier sind wir bei den Dingen, von deren Ablauf das Leben, das Leben, das ganze einmalige Leben von vierhundert Millionen Europäern abhängen kann (abhängen wird), samt dem Leben von etlichen weiteren hunderten von Millionen nicht europäischer Menschen, die damit hineinschliddern (erfinden Sie nun endlich mal ein neues Wort für diese infernalische Dummheit) werden. Und nun meint dieser Weltfremdling, man müsse da etwas tun. Zum Beispiel einen Brief an den Völkerbund schreiben. Als ob es für den nicht sehr viel wichtigere Dinge gäbe. Etwa den Schutz patagonischer Minderheiten auf Island.

Schließlich wäre daran zu erinnern, dass Führer auf Italienisch »Duce« heißt. Dass da irgendwo in Rom jemand davon träumt, ein British Empire zerschlagen zu können, um ein neues Imperium Romanum an seine Stelle zu setzen, und dass diesem Traum zuliebe zehntausende italienischer Soldaten, die – zur Ehre der italienischen Nation sei es gesagt – zu den schlechtesten Berufssoldaten der Welt gehören, gegen die unabhängige Freiheit des spanischen Volkes kämpfen und zu tausenden fallen müssen. Da ist Guadalajara. Singt Guadalajara. Da haben die spanischen Sansculottes von 1937 eine italienische Interventionsarmee zusammengeschlagen, so wie die französischen Sansculottes eine Interventionsarmee europäischer Reaktion zusammengeschlagen hatten. Die ruhmreiche italienische Armee, die kurz vorher mit allen Waffen moderner Industrie gegen die barbarischen Abessinier mit Flitzbogen und Pfeilen glorreich gesiegt hatten. Und der Krieg in Spanien wäre nicht – mit und ohne Drittes Reich und seinen Führer –, wenn nicht vorher der italienische Eroberungskrieg in Äthiopien gewesen wäre. Und der italienische Eroberungskrieg in Äthiopien wäre nicht gewesen, wenn nicht vorher im arabischen Hedschas-Yemen-Krieg der italienische Yemen-König aus dem Lande jener Asra, welche sterben, wenn sie lieben, gegen den englischen Ibn-Saud von Hedschas verloren hätte. Und so weiter, und so weiter. So wie rückwärts so auch vorwärts.

Was für den Kaffeehausemigranten auch wieder eine nagelneue Erkenntnis ist anstatt einer Allerweltsweisheit. Er hatte bisher immer nur gelesen, der Duce, in seiner großen Kulturbeflissenheit, habe den Krieg gegen Abessinien nur geführt, weil Italien erstens von Abessinien bedroht werde und weil – das ist die Hauptsache – dem schändlichen Sklavenhandel in diesem Negerkaiserreich ein Ende gemacht werden musste.

In der Tat gab es in Abessinien einen blühenden Sklavenhandel. Das »schwarze Elfenbein«-Export-Geschäft hat so seine Traditionen. Äthiopien war ein Hauptlieferant für den Sklavenmarkt von Mekka, der immer noch der bedeutendste Sklavenmarkt der Welt ist. Freilich hätten die Äthiopier das Sklavenexportgeschäft nach Arabien gar nicht betreiben können, wenn es nicht mit Duldung der italienischen Behörden über das italienische Eritrea oder Somalia gegangen wäre. Denn irgendwie musste ja die schwarze Elfenbeinware an das Rote Meer kommen, von dessen Küste die Äthiopier längst abgeschnitten waren.

Es ist jetzt über hundert Jahre her, dass der britische Admiral Wilberforce im Londoner Parlament ein Gesetz einbrachte, das den Sklavenhandel in allen britischen Ländern verbot. Das Denkmal dieses Sklavenbefreiers steht in Hull. (Viele sehen es und wissen nicht, dass da etwas ist, was sie anginge.) Die Verhandlungen mit den am internationalen Sklavenhandel beteiligten Kolonialstaaten haben sich dann durch etliche Jahrzehnte hingezogen. Bis die Unterschriften gegeben wurden, die den Sklavenhandel allgemein untersagten. Seitdem berichten alle Oberlehrer in den Schulen, dass Sklaverei und Sklavenhandel eine böse Sache des grauen Altertums gewesen wäre und heutzutage gäbe es das nicht mehr.

Man soll den Oberlehrern nicht bösen Willen vorwerfen. Allein, was weiß ein Oberlehrer? Weiß er, dass es heute, sagen wir mal anno 1937, noch fünf Millionen Sklaven auf der Welt gibt? Richtige, schwarze Elfenbeinsklaven, die Eigentum ihres Besitzers sind, genau wie ein Auto oder ein Regenschirm? Damit hier nicht etwa Begriffe verwechselt werden. Effektive Sklaven. Ware, die ihren genauen Preis hat. Mit Sklavenbörse, wo die Preise notiert werden. Mit Angebot und Nachfrage. Mit Hausse und Baisse. Ohne dass man gehört hatte, dass Mussolini da etwas zu ändern das dringende Bedürfnis hatte. Nun wollen wir den Oberlehrern einmal etwas erzählen.

Ein Mann liest Zeitung

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