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Die Rhapsodie von 1937 in Schwarz und Weiß

I.

Ladies und Gentlemen!

Hier ist Cook.

Thomas Cook and Sons.

Der größte Cook unterm Himmelszelt.

Der Cook der Cooks der ganzen Welt.

Ein Jedermann, der Geld hat

Bei Cook die ganze Welt hat

Und jederzeit sein Zelt hat.

Wir zeigen Ihnen die Oberwelt, Unterwelt, die ganze Welt, die Halbwelt.

Cook and Sons, der Welt größtes Reisebüro.

Macht Weekend-Ausflug nach Arabien.

Das echte Arabien. Wo die waschechten Araber sind.

Ladies and Gentlemen!

Hier hat der Hedschas gegen den Yemen gekriegt.

Hier hat ein Khalif seinen Bruder besiegt.

Potz Bomben und Granaten!

Hier sehen Sie im Wüstensand

Noch allerhand

Toter Soldaten.

Und wär der Soldat nicht so mausetot

Dann hätte die ganze Waffenindustrie

Und die schöne Gift- und Gas-Chemie

Ja nich ihr täglich Brot.

Dann wäre die gute Zeit zu Ende,

Dann gäbe es keine Dividende,

Dann gäbs keine hohen Preise,

Und mit Cook and Sons keine Reise.

Ladies and Gentlemen: Sie sehen hier das große arabische Tor.

Dahinter stellt sich gleich Mekka vor.

Mekka ist die heilige Stadt

Wo Mohammed sanft geschlafen hat

Auf einem schwarzen Marmelstein

Und die große Moschee rahmt den Stein jetzt ein

Und Allah ist groß und Mohammed sein Prophet

Und jeder ders glaubt mal nach Mekka geht.

Ladies und Gentlemen: Sehen Sie die große Moschee sich an,

Und die Gasse-Suk el Abid – gleich nebenan.

Da ist der Markt, da ist der Bazar,

Da kauft man alles und kauft in bar.

»Rosenöl aus Schiras.« »Rote Henna.« »Sandelholz aus Heiderabad.« »Oliven aus Trapezunt.« »Datteln«! »Datteln! Die braunen Töchter der Wüste.« »Echte Haare vom Barte des Propheten.« »Feigen aus Smyrna.« »Teppiche aus Samarkand.« »Afghanische Teppiche.« »Hallo, Sir. Eine Perlenkette für Ihre Lady. Echte arabische Perlen. Nix Japanperlen. Echte Perlen aus Gablonz.«

Ladies und Gentlemen von Cook and Sons:

Wir zeigen Ihnen jetzt eine Attraktion.

Eine echte, rechte Sklavenauktion.

Hier stellt sich Ihnen der Dallal vor:

Das ist der Sklavenauktionator.

Der Dallal: »Ihr Gläubigen von Mekka, ihr braunen und schwarzen guten Söhne der heiligen Stadt, ihr Nachbarn Gottes, und auch ihr, weiße Christenhunde, never mind, wenn ihr Geld habt. Der Dallal ist da. Der Dallal hat frische Ware mitgebracht. Gute Ware, ganz neue Ware. Frische Transporte. Schwarze Ware. Starke Ware. Männer vom Kongo. Frauen aus Liberia. Restbestände aus Äthiopien, wo Mussolini Khan jetzt alle Sklaven selbst gebraucht. Und darum werden die Preise für Sklaven in Mekka bald steigen. Heute letzte, billige Auktion. Großer Ausverkauf, mit Genehmigung des obersten Kadi der Wahhabiten und des erhabenen Khalifen Abd al-Aziz ibn Saud höchstselbst.

Hier ist aus dem belgischen Kongo ein Neger.

Ein starker Kerl, ein kräftiger Träger.

Sehen Sie sich nur die Muskeln an,

Und das Maul voller Zähne hat der Mann.

Trägt Koffer und Kasten

Und jegliche Lasten.

Zum ersten. Zum zweiten. Und niemand mehr?

An den großen Scheich. Zu Allahs Ehr.

Da wäre ein kräftiges Zulumädchen.

Mit Brüsten wie Türmen und prallen Wädchen.

Zum Fegen, zum Scheuern, zum Kochen, zum Waschen,

und auch sonst zum Vernaschen.

Zum Ersten, zum Zweiten, und niemand mehr?

An den löblichen Bey. Zu Allahs Ehr.

Hier die prächtigen Sudanmänner.

Etwas für Kenner.

Starke Ware, beste Ware.

Garantie für dreißig Jahre.

Alter Khan, für dein Haremsleben

Möchte das ’nen Eunuchen geben.

Alle Wetter. Alle Wetter!

Und dann wird er immer fetter.

Zum ersten, zum zweiten. Und niemand mehr?

An den edlen Khan. Zu Allahs Ehr.

Somalis. Die geb ich paarweis weg.

Eignen sich zu jedem Zweck.

Das ist dauerbare – das ist beste Ware.

Lässt sich treiben, lässt sich jagen,

Täglich zwanzig Stunden plagen.

Kann bei jedem Wetter laufen.

Lässt sich übers Meer verkaufen.

Nimmt den schwersten Kaffeesack,

Und den größten Baumwollpack

Und schmeißt den ganzen Weltertrag

Ins Feuer und ins Meer.

Zu unserer Wirtschaft und Allahs Ehr.

Zum Ersten, zum Zweiten und niemand mehr? – Schwarze Mädchen – Schwarze Kerle – jeder eine schwarze Perle! Zum ersten, zum zweiten und keiner mehr?« »Räucherkraut.« »Gebetteppiche aus Taschkent.« »Feigen. Feigen …«

Ladies und Gentleman von Cook and Sons: Ehe wir Mekka verlassen, werfen wir noch einen Blick in das Heiligtum der Heiligtümer. Mohammeds große Moschee, wo die Kaaba ist und der erste Koran.

Und wo die Hunde bellen

Und Horden verlotterter Menschen umkläffen.

Verkommener Menschen.

Verdorrt, erblindet, vergrindet.

Mit hungerkralligen Händen

Und wankenden Beinen.

Menschen, die nicht schwarz sind

Und nicht weiß sind,

Die aschfahl sind, wie ihre Kleiderlumpen.

»Wir sind die freien Leute,

Die freiesten Leute der Welt.

Wir haben nicht Gut und nicht Beute.

Wir haben kein Geld und kein Zelt.

Wir sind das ganze Leben lang

Um Fußtrittlohn und Prügeldank

Sklaven gewesen!

Jetzt sind wir freie Leute

Und nur des Hungers Beute.

Sie haben den Leib uns zu Schaden geplagt.

Sie haben die Seele uns ausgejagt.

Sie haben uns die Knochen zerknackt,

Ganz ausgepresst und abgewrackt,

Ausgewalzt und ausgelaugt,

Bis so ein Sklave zu nichts mehr taugt.

Und dann – und dann – haben sie uns die Freiheit geschenkt.

Jetzt sind wir nur ein letzter Dreck.

Jetzt schmeißt man uns als Abfall weg.

Müssen wir betteln,

Greise und Vetteln.

In der großen Moschee mit der Hundemeute

Das ist die Moral hier, der großen Leute.

Das nennen sie: Den Sklaven die Freiheit schenken. – Ladies and Gentlemen von Cook and Sons! Kommen Sie. Das Dinner wartet auf Sie.

II.

»Aber da muss man doch etwas tun!« Muss man? Was wollen Sie tun? »Man müsste da doch einen Verein gründen …« Richtig. Man müsste einen Verein gründen. Etwa: Liga für Sklavenrechte. Einen besonderen Verein gegen Sklaverei. Ober, bitte einen Verein gegen Sklaverei. Ist schon da. London S.W.l. Vauxhall Bridge Road. Mit President und Vicepresident. Mit Vorsitzendem und Vizevorsitzendem. Mit Schriftführer und Vizeschriftführer. Mit Kassierer und Vizekassierer. Mit Parlamentssekretär, Ehrensekretär und Hilfssekretär. Mit Beisitzer, Vizebeisitzer und Syndicus. Und ein Mitglied ist auch da.

Das Mitglied bezahlt den Beitrag. Dafür kauft der Verein Briefbogen und Briefumschläge.

Darauf schreibt man Protestnoten und die schickt man an den Völkerbund, an die Kolonialmächte, an die Regierungen der Negerstaaten. Und dann? Dann kommen Antwortnoten. Und dann …?

Papier, Papier, Papier, Papier

Verschreiben wir, verschicken wir.

Und was kommt zurück?

Zu unserm Glück:

Papier, Papier, Papier, Papier

Erhalten wir, behalten wir.

Für jeden Ausgang ein Brief retour

Und alles geht wie an der Schnur,

Und wo ein Vorgang gewesen

Ist schwarz auf weiß zu lesen, wie jene Sache gewesen.

Und da schreibt ein sehr ehrenwerter Lord,

Und ein Lord ist ein Lord und sein Wort ist sein Wort,

Und er schreibt von der Krise die hier ist und dort.

Und die Krise kommt von der Wirtschaft her,

Und die Misswirtschaft kommt von der Krise her,

Und die Armut kommt von der Povertät,

Und das Rad bleibt stehn, wenn es nicht mehr geht,

Und nur darum, weil der Mensch nicht frei

Gibt es leider immer noch Sklaverei.

Und mancher Sklave ist mit dabei

Der nicht einmal weiß, dass er Sklave sei,

Ob er schwarz ist, ob er weiß ist, ist am Ende einerlei.

Hallo! Hallo! Hier Goldminen von Kimberley. (Kimberley. Cecil Rhodes. Jameson Überfall. Kaiser-Telegramm. Buren-Krieg. Konzentrationslager Transvaal. Rule Britannia zu Wasser und zu Lande.) Hallo! Hallo! Befehl der Generaldirektion der Minengesellschaft, London: Ein Teil der Minen ist stillzulegen. Goldschürfung und Produktion ist um 50 Prozent einzuschränken.

Denn es gibt zu viel Gold auf der Welt,

Zu viel Gold und zu wenig Geld.

In Kimberley gräbt man Gold aus der Erde,

Damit es in Paris, in London, New York wieder eingegraben werde.

Und die Keller sind von dem Gold ganz voll,

Und man weiß nicht, was mit mehr Gold man soll.

Aber Gold ist doch Gold und Gold ist doch Gold.

Scheinbar, alles scheinbar,

Mit Praxis unvereinbar.

Denn der Goldstandard ist eine Konstruktion

Und die Konstruktion ist nur eine Fiktion,

Und die Fiktion führt zur Devalvation,

Und die Devalvation ist nicht Inflation

Sondern Gegenteil von der Deflation,

Wegen Produktion und Überproduktion

Und Expansion und Investitution,

Und die Goldblockländer sind nur eine Station,

Und schwankende Währung macht Progression.

Haben Sie das verstanden?

Nein!

Ja, dann müssen eben die Goldminen stillgelegt werden.

Und das Rad bleibt stehen, wenn es nicht mehr geht,

Und die Armut kommt von der Povertät,

Und ein Prolet ist ein Prolet,

Und mancher Prolet ist mit dabei

Der nicht weiß, dass er Proletarier sei.

Ob er schwarz ist, ob er weiß ist, ist am Ende einerlei.

Und es fahren die Männer von den Kimberley-Minen

Zum letzten Mal auf den rostigen Schienen,

Denn es gibt zu viel Gold auf der Welt

Und für sie keinen Lohn und kein Geld,

Und weil die Goldproduktion so groß

Sind sie arbeitslos. Sind sie arbeitslos!

Das statistische Amt der Süd-Afrika-Dominions hat schon im Dezember 1934 darauf aufmerksam gemacht, dass infolge Stilllegen eines Teils der Goldminen über 60 Prozent der weißen Arbeiterbevölkerung proletarisiert ist.

Warum gehen die arbeitslosen Minenmänner nicht auf die Farmen? Das geht nicht. Wegen der Tradition. In Südafrika ist Tradition, dass die Feldarbeit von Schwarzen gemacht wird.

Das ist nun so in Südafrika,

Für die Feldarbeit ist der Nigger da,

Der weiße Mann, der auf Abstand hält,

Der hat keine Arbeit und hat kein Geld,

Und des weißen Mannes Würde ist groß

Darum ist er und bleibt er jetzt arbeitslos.

Und für das Primat der weißen Rasse

Da rutscht er jetzt ab, in die Elendsklasse.

Weißer Mann, der nicht mehr zu fressen hat,

Was hast du jetzt von dem Primat?

Der Anzug verlumpt und der Hunger ist groß

Und arbeitslos ist arbeitslos.

Sie mögen rasseforschen, was sie wollen,

Das ist für uns am Ende einerlei,

Wir haben nichts zu zinsen und zu zollen,

Wir sind schon lange nicht mehr mit dabei.

Es mag die Sonne brennend uns bescheinen,

Der Regen feucht auf uns herunter weinen,

Vom Arbeitslohn und Brot und allem Geld

Da sind wir frei – und alles fällt, wie’s fällt.

Ob Konjunktur, ob Krise grade dran ist

Verweht für uns, wie Zeitung vor dem Wind.

Man weiß schon längst nicht mehr, wozu man Mann ist

Und nur die Frau kriegt jedes Jahr ein Kind.

Es mag der Index rauf gehen oder runter,

Das macht den Kohl nicht fett, das Hirn nicht munter,

Und uns nicht frei vom Irrsinn dieser Welt,

Bis auf den Tag – wo alles fällt, wie’s fällt.

Hallo! Hallo! Vornehme Society in London. S.W. Was sagst du denn dazu?

Sollte man nicht einfach die Arbeitslöhne auf der ganzen Welt erhöhen? Dann wäre ja Bedarf für die Goldproduktion da. Und für die übrige sogenannte Überproduktion, die also in Wirklichkeit, siehst du wohl, gar keine ist, und alles käme in Ordnung.

Mein Herr, sind Sie denn wahnsinnig geworden? Wir besitzen 41 Theorien und 796 Abhandlungen über das Gold und seine Bestimmung als Wertmesser aller Waren. Aber so etwas hat uns noch kein Fachmann ernsthaft vorgeschlagen.

Ja, was wollen Sie denn tun?

Wir schicken jetzt erst mal Einladungen weg,

Auf elfenbeinfarbenem Blütenpapier.

An die Herren Minister,

An die Herren Gesandten und Konsuln.

An die Herren Zeitungsverleger und Redakteure.

An die Herren von der großen Finanz,

An die Herren von der großen Industrie,

An die Herren, die Bridge und Tennis spielen

Und sonst garnichts zu tun haben,

Und an alle ihre Damen.

Und dann gibt es ein Bankett

Mit schwarzem Fracke und weißen Westen,

Mit schwarzem Porter und weißem Sekt,

Mit schwarzem Caviar und weißem Geflügelreis,

Und mit schwarzen Kellnern in weißen Leinenanzügen.

Und zweihundert Autos kommen vorgefahren

Zu den zwölf Gängen mit feierlichen Reden:

Ladies und Gentlemen, gestatten Sie, dass ich mein Glas erhebe

Zum Gedächtnis des großen, britischen Admirals

Wilberforce, der schon 1834

Eine Bill eingebracht

Zur Abschaffung der Sklaverei in allen britischen Ländern

Und in der übrigen Welt.

Und gestatten Sie, dass ich mein Glas erhebe

Zum Gedächtnis der Tory-Minister Pitt und Fox,

Die diese Bill zum Gesetz gemacht.

Und gestatten Sie, dass ich mein Glas erhebe

Für alle Regierungen der ehrenwerten, Kolonialwirtschaft betreibenden Nationen,

Die sich dem britischen Vorbild angeschlossen.

– Es gibt fünf Millionen Sklaven auf der Welt! –

Zwar lässt es sich nicht leugnen

Dass trotz der Gesetze

Und der internationalen Übereinkommen,

Und der ehrenwerten Unterschriften unter den Verträgen

Und trotz der Oberlehrer, die doch unterrichten

Dass es keine Sklaverei mehr gäbe.

Dass von der Theorie bis zur Praxis,

Von den Gesetzen zur Ausführung,

Von der Moral zur Ökonomie,

Dass gleichsam von der Synthese zur Analyse,

Vom Willen zur Tat,

Und darum bitte ich Sie, Ladies und Gentlemen

Mit mir Ihr Glas zu erheben …

Und das tun sie denn auch,

Und wünschen einander gute Verdauung,

Und reden noch lange

Von Admiral Wilberforce und Pitt und Fox,

Und von Gentlemen-Agreements zur Abschaffung der Sklaverei,

Und rauchen schwarze Brasilzigarren

Und blütenweiße Cigaretten.

Alles wegen der fünf Millionen Sklaven auf der Welt.

III.

Ja, was dann

Lieber Mann

Fängst du an,

Wenn du eines Tages ganz ohne Geld bist

Und dabei doch immerhin auf der Welt bist,

Denn das kann

Lieber Mann

Dann und wann

Lieber Mann,

Wie du mir

So ich dir

Jedem mal geschehn,

Und alsdann

Armer Mann

Musst du pumpen gehen.

Ob du siegst, lieber Mann,

Und was kriegst, lieber Mann,

Oder fliegst, lieber Mann,

Kommt drauf an.

Ach könnten Sie, alter Freund, mir vielleicht bis morgen zehn Kronen borgen?

Ja lieber Freund, wie sehn Sie aus – mit ausgefransten Hosen,

Der Hut zerbeult, das Hemd ganz kraus – mit ausgefransten Hosen,

Die Schuhe schief und unrasiert – mit ausgefransten Hosen,

Da kommen Sie ganz ungeniert – mit ausgefransten Hosen.

Ja, glauben Sie, dass ich mein Geld auf der Straße finde.

Haben Sie ’ne Idee, wie ich rackernd mich schinde?

Es tut mir leid, tut mir wirklich leid.

Und ich habe sowieso keine Zeit.

Ob du siegst, lieber Mann,

Und was kriegst, lieber Mann,

Oder fliegst, lieber Mann,

Kommt drauf an.

Könnten Sie, lieber Direktor, sagen wir mal auf Drei-Monat-Accept mir hunderttausend Kronen creditieren?

Ja lieber Freund, Sie müssen bedenken – immerhin Ihr Auto hat 8 Cylinder,

Ich will sie ganz gewiss nicht kränken – immerhin Ihr Auto hat 8 Cylinder,

Aber die Krise, die Krise, die Krise, die Krise – immerhin Ihr Auto hat 8 Cylinder,

Und wie geht’s Ihrer Frau, Madeleine Louise? – Auto … 8 Cylinder …

Und was hätten Sie sonst für Unterlagen?

Und ich müsste doch erst meinen Sozius fragen.

Und würden Sie sich vielleicht bequemen

Zunächst mal fünfzigtausend zu nehmen?

Ob du siegst, lieber Mann,

Und was kriegst, lieber Mann,

Oder fliegst, lieber Mann,

Kommt drauf an.

Namens der Regierung des freien Staates Liberia, den ich vor dem löblichen Völkerbund zu vertreten die Ehre habe, stelle ich den Antrag, der löbliche Völkerbund möge umgehend eine internationale Völkerbundanleihe auflegen, in Höhe von 50 Millionen Golddollars, langfristig, zwecks der im Interessen der Weltwirtschaft unumgänglich nötigen Sanierung der in vorübergehende Stagnation befindlichen Finanzlage des freien Staates Liberia und seiner Regierung, die ich zu vertreten die Ehre habe.

Versehrtes Mitglied im Völkerbund – scheußlich, der Kerl ist ein Neger,

Wir hoffen, ihr Budget ist sonst gesund – scheußlich der Kerl ist ein Neger,

Denn es wird unsren Banken eine Ehre sein – tadellosen Frack trägt der Herr Neger,

Und es friert der Kredit auch am Äquator ein – beinahe ein Gentlemanneger.

Ordnungshalber brauchen wir ein Exposé,

Für die Parlamente und für unser Renommé.

Und das Exposé prüft eine Kommission,

Und die Anleihe kriegen Sie vorher schon.

Ja, du siegst, schwarzer Mann,

Und du kriegst, schwarzer Mann,

Und du fliegst, schwarzer Mann

Heim, per Aeroplan.

Und das Exposé? Ach, das Exposé!

Haben Sie das Exposé gesehen?

Sahn Sie etwas in der Zeitung stehn?

Haben Sie das Exposé gelesen?

Ist das Exposé denn ein Exposé gewesen?

Was ist denn überhaupt ein Exposé?

Das wissen Sie nicht? Das kennen Sie nicht? Ja, dann will ich Ihnen das einmal vorlesen.

Das ganze Exposé?

Ja, das heißt, nur was zwischen den Zeilen steht.

Liberia, das ist der Freiheitsstaat.

Freiheit, die ich meine.

Was das wohl zu bedeuten hat?

Liberia, du feine.

1822.-

Das Datum ist richtig,

Doch nicht so wichtig.

In Afrika inauguriert,

Von den großen Mächten garantiert.

Für die Heimatlosen, die Emigranten,

Die Unterdrückten, die Weggerannten

Der schwarzen Rasse,

Der schwarzen Klasse,

Überflüssig, abgebaut,

Schwarze Haut, weiße Haut.

Alles egal. – Alles egal.

Und es gab schon anno dazumal:

Zu viel schwarze Hausknechte in Virginia.

Zu viel schwarze Stiefelputze in Canada.

Zu viel schwarze Sackträger in Argentinien,

Zu viel schwarze Kahnschlepper am Mississippi,

Zu viel schwarze Ackerknechte in Texas und Ohio,

Zu viel schwarze Viehtreiber in Mexico,

Zu viel schwarze Kerle am Rio Grande,

Zu viel, zu viel, zu viel, zu viel.

Und man hat doch en passant, schon so viele totgeschlagen,

Und sie leben, ohne uns, ihre Herrschaft, erst zu fragen.

Und sie wollen unterdessen

alle fressen, alle fressen,

Und sie stören nach dem Dinner die Verdauungsruh.

Wie kommt der Pakt dazu?

Und auf einmal der Quatsch von der Humanität,

Und die Dichter haben das alles verdreht.

Kennen Sie bitte

Onkel Toms Hütte?

Ab nach Liberia, Nigger und verdrecke.

Amerika erwache – Nigger verrecke.

Und so wurde Liberia gegründet, als ein freier Staat für die überschüssigen Sklaven, als der Sklavenmarkt gerade sehr flau lag und in Mekka lauter Minus, Minus, notiert wurde.

Und die heimkehrten in das Heilige Land,

In das Land ihrer Verheißung,

Von allen vier Enden der Erde,

Dahin, wo ihre Väter einst gewohnt

Und die Väter ihrer Väter,

In das freie Land Liberia,

Wo Palmöl und Kautschuk fließt,

Und nicht einmal ein britischer Hochkommissar war,

Da brachten sie etwas mit.

Da brachten sie die Errungenschaften der westlichen Zivilisation mit.

Nämlich: Das System!

Was für ein System?

Die Sache ist an dem:

Da gibt es ein System,

Das ist viel hundert Jahre alt

Und erbt sich fort als Sachverhalt.

Das muss man doch verstehn,

Denn das System ist ein System wie kein System so schön.

Hokus pokus, eins, zwei, drei.

Gestern Sklave, heute frei.

Und sie haben zugesehen

Wie die Gentlemen

Weißen Gentlemen,

Ihre Rolle drehn.

Nervus rerum aller Welt

Donnerwetter, ist das Geld.

Geld ist Gut und Gut ist Zahl,

Donnerwetter, Kapital.

Und mit Geld, da kann man kaufen,

dieses kaufen, jenes kaufen,

Jagen, hetzen und ersaufen,

Und es geht ums Geld, ums Geld,

Um Kultur der neuen Welt.

Die Sache ist an dem:

Da gibt es ein System,

Das ist im weißen Land schon alt

Und wird jetzt schwarzer Sachverhalt.

Das muss man doch verstehn,

Denn das System ist ein System, wie kein System so schön.

Und Monrovia ist die Hauptstadt von Liberia.

Und Kaurimuscheln sind das erste Geld von Monrovia.

Kaurimuschel. Kaurimuscheln. Wie geben Sie Kaurimuscheln?

Den Theresienthaler für 1003.

Lose oder an Schnüren?

1003 lose. 1010 an Schnüren.

Ich biete 1000. – 1003. – Ich biete 1002 – 1004 – 1003 – 1005

Ich nehme. – – – Ich gebe. – – –. 1005 – 1006 – 1007.

Kaurimuscheln sind jetzt Geld,

Nervus rerum schwarzer Welt.

Und für Geld da kauft man Land

Samt dem Vieh und allerhand,

Wer das Land hat, hat im Kauf

Gleich die Menschen mit darauf,

Und so hört die Freiheit auf.

Geld wird Macht und Macht wird Geld,

Und das nennt man Wirtschaftswelt.

Die Sache ist an dem:

Sie haben ein System

Vom Kapital, das neues heckt

Und wer keins hat verdreckt, verreckt,

Sie lernten es verstehn,

Denn das System ist ein System wie kein System so schön.

Und die schwarzen Gentlemen mit weißem System

Wohnen nicht länger in Hütten von Lehm,

Sondern in soliden Kästen,

Nebst schwarzem Gehrock und weißen Westen,

Und die einstens geprügelte Minderwertrasse

Bildet schon längst die regierende Klasse,

Und halten schon längst im Zeitenwandel

– Na, wo denn? – beim alten, soliden Sklavenhandel.

Die schwarze herrschende Klasse verkauft ihre eigenen, schwarzen beherrschten Brüder.

Steht das im Exposé?

Aber nein. Das Exposé

Ist so rein und weiß, wie Schnee.

Das liest man mit Verweilen

Zwischen den Zeilen.

Schlagt die Trommeln, schlagt hinein,

Schönes, schwarzes Elfenbein.

Kennen Sie den right honourable

Charles Dunbar Burgess King, Exzellenz?

Mr. King ist kein King,

Er heißt nur so.

Und er tut nur so.

Mr. King ist Präsident von Liberia

Und Liberia hat einen kleinen Export,

Und Liberia hat einen dreimal so großen Import.

Und darum hat Liberia eine passive Handelsbilanz,

Und davon entstehen die Staatsschulden.

Aber davon kann keine Regierung leben,

Und die Differenz muss ausgeglichen werden.

Schlagt die Trommeln, schlagt hinein,

Schönes, schwarzes Elfenbein

Die feste Notierung für Sklaven aus Liberia ist 9 Pfundsterling, Gold, pro Stück. Bei Lieferung kompletter Schiffsladungen von mindestens1000 Sklaven wird noch eine Prämie von einem Pfund pro Kopf bezahlt. – Mr. King liefert niemals weniger als 1000 Köpfe auf einmal.

Wissen Sie, wer Mr. Jallah ist? Das können Sie nicht wissen. Mr. Jallah ist ein kleiner, schwarzer Bürgermeister in einem Negerdorf von Liberia.

Und da kommt ein Bote zu Pferde

Und reicht mit stolzer Gebärde

Mr. Jallah einen Brief, mit Siegel schwer,

Und der Brief kommt direkt vom Präsidenten her.

»Befehl seiner Exzellenz, des Präsidenten Charles Dunbar Burgess King:

Es sind bereit zu halten und an meine Kommissare zu übergeben: So viel Arbeitsmänner, wie dort aufgetrieben werden können, mindestens aber 250 Stück. Die Nichtbefolgung dieses Befehls wird bestraft.«

Der Bürgermeister, der kleine Mann,

Der denkt, ich denke garnicht dran.

Arbeitsmänner? Gemeine Lügen!

Hier wird man keine Sklaven kriegen.

Und da kommt noch ein Bote zu Pferde

Und recht mit stolzer Gebärde

Von Mr. King, der kühn sich nennt

Des Freiheitslandes Präsident

Ein Telegramm: Wenn angeforderte Arbeitsmänner, mindestens 250 nicht bis heute Abend sieben Uhr bereit stehen, werde ich Dorf und Nachbarschaft niederbrennen lassen.-

Der Bürgermeister, der kleine Mann

Der denkt, was fange ich jetzt an?

Bis heute Abend 7 Uhr.

Und es wird Mittag.

Und es wird Nachmittag.

3 Uhr, 4 Uhr, 5 Uhr, 6 Uhr …

Zehn kleine Negerlein – die sich des Lebens freun,

Der eine wird jetzt Arbeitsmann – da sind es nur noch neun.

Neun kleine Negerlein – die haben noch gelacht,

Der eine wird jetzt Arbeitsmann – da sind es nur noch acht.

Acht kleine Negerlein – die haben ihr Sach’ betrieben,

Der eine wird jetzt Arbeitsmann – da sind es nur noch sieben.

Sieben kleine Negerlein – Ganz ohne Geld und Schecks,

Der eine wird jetzt Arbeitsmann – da sind es nur noch sechs.

Sechs kleine Negerlein – ohne Schuh und ohne Strümpf,

Der eine wird jetzt Arbeitsmann – da sind es nur noch fünf.

Fünf kleine Negerlein – und Mr. Kings Kurier,

Der eine wird jetzt Arbeitsmann – das sind es nur noch vier.

Vier kleine Negerlein – Liberia so frei.

Der eine wird jetzt Arbeitsmann – da sind es nur noch drei.

Drei kleine Negerlein – und so ein Menschenhai,

Der eine wird jetzt Arbeitsmann – da sind es nur noch zwei.

Zwei kleine Negerlein – zehn Pfund bringt jeder ein,

Der eine wird jetzt Arbeitsmann – und einer steht allein.

Ein kleines Negerlein – das meint, es träumt im Schlaf.

Der letzte wird auch Arbeitsmann. – Ein Sklav! Ein Sklav! Ein Sklav!

Fünf Minuten vor sieben …

Beinahe hätten Mr. King’s, des ehrenwerten Präsidenten von Liberia, diensthabende Soldaten ein friedliches Dorf im eigenen Lande anzünden, in Schutt und Asche legen und alle Männer fortführen müssen.

Aber Mr. King hat auch so seine 250 Köpfe bekommen. Die bringen 2500 Goldpfund ein. – Der kleine Bürgermeister muss für seine Säumigkeit im Dienst bezahlen:

Für Bereitstellung des Überfall-/Brandkommandos … 40 Pfund

für eigentlich verwirkte Gefängnisstrafe …………… 100 Pfund

für einen Depeschenboten zu Pferde ………… 72 Pfund 10/ 6 d

für das Gericht in Monrovia, damit es nicht erst zusammentritt …………………… 110 Pfund

zusammen 322 Pfund, 10 shilling und 6 pence

zu zahlen an Mr. Yancy.

Mr. Yancy ist der Vizepräsident von Liberia.

Und weil der kleine Bürgermeister gar kein Geld hat, muss er noch drei Dutzend Sklaven liefern. An Mr. Yancy, den ehrenwerten Vizepräsidenten,

Schwarze Männer, ein langer Zug.

Man treibt sie durchs Land,

Und man hetzt sie bis zum Meer,

Und man jagt sie auf ein Schiff,

Und man sagt ihnen:

Bis zum nächsten Hafen,

Nur ein paar Stunden,

Da gibt es Arbeit und hohen Lohn,

Und dann fahrt ihr bald wieder heim.

Und es währt einen langen Tag,

Und Meer und Himmel und Himmel und Meer,

Und es währt zwei Tage,

Und es währt drei Tage, viele Tage,

Und immer Himmel und Meer. Weites Meer.

Captain, wohin fahren wir?

Nach dem französischen Kongo.

Davon hat man uns nichts gesagt!

Aber es ist meine Order.

Kennen Sie die Stadt Libreville?

Sie hat doch einen schönen französischen Namen,

Die freie Stadt.

Da wird ein Teil der schwarzen Männer ausgeladen.

Sie bekommen: Ein Kontobuch.

Das fängt mit Schulden an.

Für Kleidung, die sie nie gewollt,

Für Handwerkszeug, mit dem sie für andere schuften müssen.

Das Schuldenkonto wird immer größer,

Die Sklavenkette wird immer stärker,

Und niemals, niemals, niemals

Sehen Sie die Heimat wieder.

Die Anderen: Captain, wohin fahren wir?

Nach den portugiesischen Kolonien.

Davon hat man uns nichts gesagt.

Aber es ist meine Order.

Kennen Sie die Insel San Tomé und Príncipe?

Schöne portugiesische Inseln,

Wo das Fieber herrscht und der Teufel.

Da wird ein anderer Teil der Schwarzen ausgeladen.

Bekommt sein Kontobuch

Und kann nie mehr nach Hause.

Kennen Sie Mr. Gabriel Johnson?

Das ist ein schwarzer, ehrenwerter Gentleman.

Konsul von Liberia auf Fernando Po, spanische Station.

Der zählt die abgelieferten Männer persönlich nach.

Stück für Stück, Kopf um Kopf.

Und erst dann dürfen die Kerls Soldaten werden,

Für General Franco und Juan March.

Steht das in dem Exposé?

Das Exposé? Das Exposé! Was wollen sie vom Exposé?

Das ist rein und weiß, wie Schnee.

Das liegt ja doch beim Völkerbund,

Und beim Völkerbund treffen Sie Mr. Sottile.

Den kennen Sie wieder nicht?

Das ist auch ein schwarzer, ehrenwerter Gentleman,

Delegierter von Liberia, beim Völkerbund.

Er hat blanke, weiße Visitenkarten,

Mit dem Wappen von Liberia

Und dem schönen Wahlspruch rundum:

»Die Abschaffung der Sklaverei und die Liebe zur Freiheit haben uns hierher gebracht.«

Davon nahm der Völkerbund Kenntnis und so bekam Liberia eine Völkerbundanleihe. Mr. King brauchte nicht in Konkurs zu gehen. Nur ab und zu macht er einen kleinen Ausgleich. Unter der Hand. Mit den von ihm geliebten Landeskindern.

Denn:

Die Sache ist an dem,

Sie haben ein System.

Das ist schon ein System. Bitte sehr. Kein Wort weiter. Was wollten Sie sagen? Ich frage, was Sie sagen wollten. Ich meine, was Sie da eben dachten. Ihre Gedanken sind Ihre private Angelegenheit? Nichts ist private Angelegenheit. Das Denken schon garnicht. Das werden wir Ihnen schon beibringen. Sie Denker, Sie.

Ich schließe die Versammlung. Die Rhapsodie ist aus.

Die Wahrheit? Das ist doch alles zusammengedichtet. Wie?

Schlechte Verse? Aber die reine Wahrheit. Schweigen Sie. Die Versammlung ist geschlossen, die Rhapsodie ist aus. Beschweren Sie sich beim (seligen) Völkerbund.

*

Gut, gut. Es hat auch das so sein Gutes. Der Mann Leonhard Glanz, vom Hundertsten ins Tausendste kommend, geriete in äußerste Peripherie, wo es sich doch hier um ihn dreht und er kein alter Kaiser ist, dass er am marmelsteinernen Tische sitzen dürfte, mit nichts beschäftigt, als sich den Bart wachsen zu lassen, durch die Tafel hindurch. Sondern er sich mit der Zeitung herumschlagen muss, in der von allem dem ja garnichts steht. Und niemals davon etwas darin gestanden hat. Hier nicht und dort nicht und überhaupt in keiner ehrenwerten Zeitung der Welt. Ich bitte Sie, Sklavenhandel und so. Ist das ein Thema für die Zeitung? Ist das ein moralischer Stoff? Informiert man so seine Leser, die ihre Ruhe haben wollen? Bitte sehr, ich kann auch solche Reime machen:

Hallo, hier ist Afrika.

Donnerwetter, Afrika

Algier, Tunis und Marokko,

Samum, Monsun und Schirokko.

Tsetsefliegen und Bananen,

Zulus, Panther und Lianen,

Niger, Berber, Karawanen,

Palmen, Löwen, Zebra, Gnu,

Suaheli, Kautschuk, Kru,

Kaffee, Schlangen und Vanille, Hottentotten, Pumas, Kongo,

Kesselpauken und Fanfaren, Bambus, Palmenöl und Malongo.

Bantus, Kiliman und Dscharo, Tschadsee, Massais, Beduinen,

Gorillas und Nilpferd und Nilpferdpeitschen. Kimberley- und Rhodes-Minen.

Kamerun und Kordofan,

Emin Pascha und Sudan,

Stanley, Wissmann, Livingstone

und so weiter. Sehen Sie. Das sind 28 Zeitungsartikel über ihre vertrackte Negerfrage. Oder ein Hörspiel für Radio, nachmittags von vierzehn Uhr, bis vierzehn Uhr fünfundzwanzig. Überhaupt steht alles, was Sie über diese Dinge zu wissen brauchen, doch in der Zeitung. Jawohl, man muss es nur zu finden wissen. Weiter hinten, noch weiter. Halt. Na also: Bar- und Tanzparkett Imperial. In diesem Monat allnächtlich die vier Johnsons. Die mondänste Neger-Jazz-Band. Und Fatme, die rassige, arabische Bauchtänzerin. Bauchtänzerin ist gut. Diese Fatme. Nein, bitte sehr, ich bin Kavalier. Ich habe nichts gesagt. Ich sagte nur: Diese Fatme. Sehen Sie, da haben sie alles, was ein zivilisierter Mitteleuropäer von diesen Dingen zu wissen braucht. Darüber hinaus hatte sich auch Leonhard Glanz nicht den Kopf darüber zerbrochen. Und jetzt auf einmal kommt er da nicht mehr zurecht, wegen des Weißbuchs, das eine spanische Regierung einem löblichen Völkerbund zu überreichen sich anschickt.

Was kann denn nun in diesem Weißbuch stehen, dass Mussolini seine Veröffentlichung als einen unfreundlichen Akt ansehen würde? Dass Italien auf Seiten des Rebellengenerals Franco regelrecht Krieg führt gegen die legitime spanische Regierung? Das weiß doch die ganze Welt. Das weiß sogar das arme Schneidermeisterlein in Berlin. Das braucht doch nicht noch schriftlich bewiesen zu werden. Was änderte sich mit solchem Weißbuch von dieser Zeiten Spott und Schande, in dieser Welt des Als-Ob. Die Italiener schießen auf die Spanier, den Briten an der Nase vorbei, und die Briten tun, als ob sie es garnicht merkten. Deutsche Flugzeuge segeln nächtlich über Frankreich nach Spanien und die Franzosen tun, als ob sie es garnicht wüssten. Regierungschefs erklären, dass sie ein Regime von Rebellen weder als Regierung, noch als kriegführende Macht anerkennen können und tun am nächsten Tage so, als ob sie das nicht gesagt hätten. Seeräuber des Jahres 1937 verseuchen die Meere mit Treibminen, nennen solches Banditentum eine Blockade, und die gescheitesten Seerechtskenner der Schifffahrt treibenden großen Nationen tun so, als ob das rechtens sei und nicht Piraterie. Infam käufliche Landsknechte der Luft (Luftknechte?) werfen Brisanzbomben auf Frauen und Kinder und die Kulturwelt tut, als ob nicht festzustellen sei, wer diese schurkische Mordbrennerei angestellt hat. Wer da lügt, dem glaubt man, als ob er die Wahrheit spräche. Wer die Wahrheit spricht, den sperrt man ein, als ob er ein brutaler Verbrecher sei. Schtaatsmänner schmettern faustdicke Verlogenheiten in die Welt und die Pressekommentatoren tun, als ob sie diskutierten. Kriegsverbrecher läuten Friedensglocken und Kirchenfürsten tun, als ob es aus ihren Domen tönte. Mit dem Als-Ob voltigiert eine um alles wissende Menschheit über die breitesten Abgründe, aus denen die Hölle zum Himmel stinkt. Alles das an einem einzigen Tage und im Bereich der hohen Politik, sodass sogar eine ganz simple, opportunistische Zeitung für den Familiengebrauch dabei das große Kotzen bekommt und ihren Hauptartikel, vorne, auf der ersten Seite mit dicker Schlagzeile überschreibt: »Die Groteske von Bilbao«, als ob das ungeheuerliche Frevelspiel wirklich eine Groteske sei und seine Tragödie erst später einsetzen sollte.

Wölfe hängen sich lose Schafsfelle über und die arbeitsamen Pferde, wohl wissend, dass es schlecht verkleidete Raubtiere sind, warten ruhig ab, dass sie ihnen an die Gurgel springen? Anstatt mit kräftigem Huftritt sie zu empfangen? Nein, aber: Hier ist eben der große Karneval des Als-Ob.

Raubmörder gehen im Frack auf Gesellschaft und die Damen und Herren reichen ihnen die Hände, weil der Frack verpflichtet. Frack ist mehr als Mörderhände. Obwohl sie wissen, dass es auf die Brieftaschen abgesehen ist. Die Fracks machen einander Verbeugungen. Ganz als ob …

Ein Massenmörder von Weltrekord lässt sich gerne mit Kindern fotografieren. Das ist nicht denkbar? Richtig. Denkbar ist es nicht. Nur die Wirklichkeit bringt das fertig. Die Kinder machen ein ängstlich verschüchtertes Gesicht, während sie ihm Blumen überreichen. Sie wittern die Blutatmosphäre. Er aber, der Massenmörder, grinst. Was mag in solchem Augenblick in ihm vorgehen? Es geht vor, dass er denkt: Hoffentlich ist der Grinser gut auf die Platte gekommen, wegen der Popularität.

Herostrat zündete den Artemis-Tempel zu Ephesus an. Dieser abscheuliche Massenmörder da eben aber hieß Haarmann. Er ward verurteilt und gerichtet. Die Namen sollten der Vergessenheit angehören, aber leider erhalten sie sich.

Also geben Sie schon ihr Weißbuch her, oder geben Sie es nicht her. Überreichen Sie es dem Völkerbund, offiziell, oder präsentieren Sie es den Mitgliedern privat. Was darin steht, wissen wir so schon und wir werden tun, als ob wir es nicht gelesen hätten. Letzter, endgültiger Kompromissvorschlag.

Ich glaube an die Macht der Lüge. Kommt einer und will mir durchaus die Wahrheit sagen, schmeiß ich ihn hinaus. Einer, der durchaus etwas will, ist ein Fanatiker. Fanatiker sind sowieso polizeiverdächtig.

Wieso verdächtig? Das habe ich doch gleich gesagt. Er hatte immer schon so einen komischen Blick. Unsere Waschfrau hat das auch gesagt, dass Leute mit so komischem Blick zu allem fähig sind. Auf einen Diebstahl wirds dem auch nicht ankommen. Wo heutzutage so viele silberne Löffel gestohlen werden. Wer weiß, womit der isst. Der Hungerleider. Und wer stiehlt, der raubt. Bis zum Mord ist es nicht mehr weit. Am besten, man hängt ihn gleich. Wo er vielleicht noch dazu ein Jud ist. Aufhängen. Aufhängen! An den höchsten Galgen.

Das Volkswohl fordert es. Das Volkswohl, vertreten durch die öffentliche Meinung. Die öffentlich Meinung, aufgehetzt durch eine Pressekampagne. Die Pressekampagne, inauguriert als Ablenkungsmanöver, zwecks Wiederherstellung der durch die Börse tangierten Ruhe und Ordnung.

Einerlei. Der Mörder muss gehängt werden. So ein Lump. Hat silberne Löffel gestohlen. So ein Kerl mit komischem Blick. Denken Sie nur. Ein Fanatiker sag ich Ihnen. Hat partout die Wahrheit sagen wollen.

Zum Beispiel wird da in dem spanischen Weißbuch stehen: Ein Befehl des italienischen Divisionsgenerals Mancini, (wirklich dieser Leute-in-den-Tod-Schicker heißt Mancini, wie jene Maria, die eines gewaltsamen Kardinals schöne Tochter war – ihr Bild hängt in irgendeiner internationalen Galerie, vielleicht sogar im Kaiser-Friederich-Museum in Berlin, wenn es nicht zu Devisenzwecken ins Ausland verkauft wurde –, und wie jene schöne Zigarre, die durch Thomas Manns Buch vom Zauberberg duftet) gegengezeichnet von dem italienischen Generalstabschef Ferraris, datiert »Arco, 16. März 1937« als in Spanien, indem es heißt:

1) Es sind offenbare Fälle von Selbstverstümmelung festgestellt worden.

2) Es ist festgestellt worden, dass Soldaten Verbände getragen haben, obwohl sie in Wirklichkeit garnicht verwundet waren.

3) Es ist festgestellt worden, dass wirklich Verletzte von Leuten begleitet werden, die dazu keineswegs beauftragt waren und selbständig solche Gelegenheiten ausnutzten, um sich aus der Feuerlinie zu entfernen.

Weiter wird da stehen, dass der General zur Abstellung solcher Missstände höchst drakonische Maßnahmen anordnet, zum Beispiel: sofortiges Erschießen im Fall der Selbstverstümmelung. Der General wird nicht unterlassen zu bemerken, dass die »gerechte Strafe« des Erschießens an Selbstverstümmlern bereits in fünf Fällen vollzogen worden sei.

Womit, wenn man die wichtigtuerischen Randbemerkungen weglässt, bewiesen wäre, dass die italienischen »Freiwilligen« auf der Seite des spanischen, ordentragenden Generals Franco gar keine Freiwilligen sind, sondern für Interessen, die nicht die ihren sind, in den Krieg kommandierte, arme Soldaten, die einen Finger oder mehr drangeben, um nur dem Gemetzel zu entgehen, der Chance, als Kämpfer gegen Recht und Freiheit totgeschossen zu werden. Dass aber, wie in der großen Zeit, der Hauptfeind einmal wieder hinten steht, mit »gerechter Strafe« des Erschießens für alle, die ihr Leben lieben, und nicht wissen, wofür sie es wagen sollten.

Aber das kennen wir doch längst. Es braucht kein Buch in Weiß zu kommen, um uns so bekannte Dinge zu erzählen. Auch dass die neuen Römer keine Kriegshelden sind, erfährt die Welt nicht zum ersten Mal. Und das, was sie nun eigentlich sympathisch macht, das eben will Mussolini, der Duce, nicht, dass im Wege über das Weißbuch sich etwa in Italien selber etwas darüber herumspräche. Denn daheim wird so getan als ob, … als ob zum Beispiel immerfort gesiegt würde.

Und das Nichtinterventionskomitee des Völkerbundes tut so, als ob ein mit dem Todesstrafenkommando hinter sich an die Front geschleifter Söldner als Landsknecht des internationalen Faschismus, gleich sei einem Vorkämpfer der für Spaniens Freiheit kämpfenden, internationalen Brigade.

Leonhard Glanz, verknautschter Mann, dessen Gedanken jetzt anfangen, gleich noch unbeholfenen Schmetterlingen aus den Puppen auszuschlüpfen, fällt dir bei diesen Betrachtungen eines zeitverschwendenden Zeitungslesers gar nichts ein, was dich angehen könnte? Nichts, als nur zu moralischer Entrüstung antreibendes Erstaunen? Und wenn du nun gar im Zorn mit der Hand auf den Tisch schlagen wirst, dass die drei Gläser mit dem schon lauwarm gewordenen Wasser, die ein vorsorglicher Piccolo dir hinstellte, auf den Nickelteller überpantschen, was dann? Was ist geholfen, geändert, wenn der in Ewigkeiten gerichtete, Hilfe heischende Blick an der nächsten Wand lange hängen bleiben wird? Was ist, um deinen schönen, großen Hass? Gar nicht zu gebrauchen? Nichts noch fällt dir ein? Du hier oben. Ohne Arbeit und Beschäftigung. Und da unten alle Mann an der Front für die Freiheit. Na? Fällt dir garnichts ein? Nein. Noch nicht. Nichts, was uns veranlassen könnte, die Harfe zu schlagen und die Zimbeln oder etwas ortsangepasster, Beifall zu trampeln. Nichts fällt dir ein, was uns veranlassen könnte, dieses Buch jetzt und hier in die nächste Ecke zu hauen und zu sagen: Gut und sehr gut. Und der Rest interessierte weder Schreiber noch Leser. – Vorläufig tust auch du nur so, als ob mit dir etwas Ordentliches los wäre, vorläufig bist auch du nur ein Als-Ob-Mann. Wie sollte es anders sein in dieser Zivilisation des Als-Ob, in der du keine Ausnahme bist, sondern ein Durchschnittstyp. Ein wenig mehr erscheinen, als man ist? Bitte. Warum nicht. Vielleicht wirst du morgen sein, was du heute zu sein vorgibst. Der eine möchte gerne Box-Weltmeister im Schwergewicht sein. Oder Napoleon. Oder Diktator des Weltmarktpreises für Zahnstocher in Zellophanpackung. Oder lieber Gott. Die Ideale sind unterschiedlich. Aber diese Existenz im Als-Ob, das ist schlimm. Das ist böse. Das ist Barbarei. Das treibt nicht welchen Zielen zu, das stösst hinab. In die falsche Genügsamkeit, in die Lebensverlogenheit. Talmi als Wertmesser alles Menschlichen. Der Mensch, nicht mehr im Dasein vom Schicksal geformt, getrieben, gehämmert, gehärtet, gefeilt und als Präzisionsarbeit vollendet. Der Typ, fix und fertig gestanzt, als ob das ein Mensch sei.

Wie viele Bücher, Leonhard Glanz, hast du gelesen? Wirklich gelesen, nicht auf Eisenbahnfahrten mit ihnen die Zeit totgeschlagen. Was stand denn eigentlich in den Büchern? Richtig, richtig. Wozu braucht ein gestanzter Mensch überhaupt Bücher zu lesen? Er liest auf sechs Zeilen, was ein Anderer über das Buch in die Zeitung schreibt, dann weiß er genügend Bescheid, um mitzureden. Hauptsache, dass man über ein Buch reden kann, als ob man es gelesen hätte.

Da geht ein Fotograf hin und macht von einem Haufen Schotter aus der Froschperspektive eine Aufnahme, dass das fertige Foto mit Licht und Schlagschatten nachher wie eine Kreuzung des Popokatépetl mit einem Schachbrett aussieht. Und nun steht ihr vor diesem Stückchen stibitzter Natur auf Bromsilberpapier, du, und der Fotograf, und das ganze gestanzte Publikum und staunt den gelungenen Trick an, als ob da ein Kunstwerk sei. Und der kleine Techniker von einem Fotografen hält sich für einen Rembrandt, obgleich er noch nicht einmal eine Ahnung hat, was Lovis Corinth eigentlich ist. Ist, lieber Freund. Nicht wer das war. Darüber hast du ja gelesen. Was das ist!

Wohin gehen Sie heute Abend? Ins Konzert? Was ist denn da heute? Beethovens Siebente? Ach so, Beethoven. Ich gehe immer zu Furtwängler. Furtwängler ist, was früher Nikisch war und bei Nikisch war schon meine selige Mutter abonniert. Wieso müssen Sie aber ausgerechnet heute ins Konzert gehen? Wissen Sie, ich habe einen so wunderbaren Grammophonapparat zu Hause. Mit elektrischem Antrieb. Da hab ich eine Giannini-Platte. Ich sage Ihnen, genau als ob die Giannini im Nebenzimmer steht und singt. Wie die Schumann-Heink, als ich noch jung war. Wollen Sie nicht? Radio haben Sie selbst alle Tage? Was Sie für ein komischer Mensch sind.

Als ob. Als ob. Als ob. Als ob das noch Menschen seien. Als ob das noch Persönlichkeiten wären. Als ob sie noch eine Seele hätten. Als ob sie noch vom Geist getragen würden. Als ob sie noch sich des Verstandes bedienten. Als ob sie noch für oder wider Gott kämpften, ihn anbeteten oder ihn herunterholten vom Piedestal, um selbst eine bessere Welt schaffen zu helfen. Als ob sie noch weinen könnten um alle die Sachen, die schmählich vertan sind. Als ob sie noch jubilieren könnten, ob einer Rose, die aufgeblüht ist, oder einer Fabrikbelegschaft, die nach sechs Wochen schweren Streiks sich eine Lohnerhöhung erkämpfte. (Ich bitte Sie, das mit der Rose war so hübsch und nun kommen Sie gleich wieder mit so sozialistischen Bemerkungen.) Als ob, als ob, als ob.

Serienware. Gestanztes Blech. Rasierklingen vom laufenden Band. Gepresste Knöpfe aus Bakelit. Messingschrauben, Groß für Groß. Genormte Schränke, die Wäsche links, die Kleider rechts. Anzüge von der Stange mit auswattierten Schultern, sieben komma fünf Zentimeter, Pariser Mode, alles schottisch, der Popo wird in diesem Jahre vorne getragen. Achtung: Auf die Kalorien kommt es an. Achtung: Auf die Vitamine kommt es an. Die Volksschule, die Mittelschule, die Hochschule, je nach Portemonnaie. Liefern den Jahrgang fix und fertig. Das brauchen Sie nicht zu wissen, das wird im Examen nicht gefragt. Dass da auch nicht. Aber dieses, das kommt bestimmt dran. Fix und fertig, der genormte Mensch. A, Klassiker und fremde Sprachen. B, Rechnen und Radiobasteln. C, Kunst und Fußballregeln.

Ich bin der Mensch des Als-Ob. Ich habe keine Weltanschauung. Ich tue auch nicht, als hätte ich eine, und hoffe auch nicht, dass sie mir schon nachwachsen wird. Ich habe die Spielregeln, als ob ich eine Weltanschauung hätte. Ich bin ein nationaler Guatemalteke. Guatemala, erwache! Madagaskar, erwache! Andorra, erwache! Bravo, die Nationalhymne. Warum nehmen Sie den Hut nicht ab? Sie wussten das nicht? Sie kennen die Nationalhymne von Honduras nicht?

Die geistigen Dinge, mein Herr, warum so kompliziert, die geistigen Dinge sind die Theorie des Lebens. Theorie muss auch sein. Ich habe da was, als ob es eine Theorie sei.

Aber die Praxis. Auf die Praxis kommt es an. Wir wollen nicht als etwas erscheinen, wir wollen etwas sein. Nicht mehr erscheinen als wir sind, sondern genau sein, als ob wir etwas wären.

Das ist doch ganz einfach. Mit den geistigen Dingen fängt es an und mit den Dingen des täglichen Gebrauchs hört es auf. Alles als ob. Alles prima. Alles schick.

Taxi auf Stromlinie, als ob es ein eigener Wagen sei. So fahren wir durch die Welt. Als ob sie uns gehörte.

Ich bin von Kopf bis Fuß auf Als-Ob eingestellt. Ich trage meinen Papierkragen, als ob er Leinen sei. Mein Filzhut ist aus gebackenen Wollresten. Meine Crêpe de Chine-Krawatte aus Kunstseideersatz. Die lila Streifen in meinem Hemd sind hinaufgedruckt. Und so weiter, bis zu den Gummihacken unter dem Einheitsschuh. Meine Frau hat Pleureusen aus Baumwollfäden auf dem Hut und eine lederne Handtasche aus Pappmaché. Sie trägt einen Elfenbeinschmuck aus weißlackiertem Laubsägeholz, einen Schildpatt-Kamm aus Galalith und klebt die ausgerutschten Maschen im baumwollenen Florstrumpf. Unser Mahagoni-Schlafzimmer auf Abzahlung ist aus Tannenholz mit Weichsel furniert. Unsere Baccarat-Obstschale aus nachgeschliffenem Pressglas und der Kaffee, den wir trinken, ist zwar braun, aber von gebranntem Korn, außer wenn wir Besuch haben. Kinder? Nein. Wir sind doch keine Proleten. Wissen Sie, ich hätte schon gerne gewollt. Aber meine Frau wollte lieber einen Eisschrank. Vielleicht nächstes Jahr.

Das ist die gerade Linie des Als-Ob: Von der Margarine auf dem Brot, als ob es Butter sei – während doch ein Bürgermeister einer großen amerikanischen Stadt einen Erlass herausgeben musste, damit nicht mehr so viel Milch in den Fluss gegossen werde, dass die Fische sterben, wobei vom Sterben der Säuglinge und Kinder infolge Unterernährung nicht die Rede war – bis zu dem spanischen Weißbuch, das auf allen Seiten die Tragödie des schändlich verratenen, zerschlagenen, in Fetzen gerissenen Völkerrechts feststellt, und von dem der Völkerbund offiziell Kenntnis zu nehmen nicht für opportun hält. Das ist eine gerade Linie, und die führt weiter und weiter, bis …

Auf dieser geraden Linie muss die Politik sein, wie sie ist, – kleiner Moritz, – und die erste Seite des Hauptblatts aller opportunistischen Zeitungen der Welt muss ausschauen, wie sie ausschaut. Als ob sie die Wahrheit sagte. Die Wahrheit, von der man hier ein Wort fortlässt und da eines hinzugibt und keiner kann sagen, ob eine neunzig-, achtzig-, siebenzig-, sechzig-, einundfünfzig-, neunundvierzig-prozentige Wahrheit nicht immer noch die Wahrheit des Als-Ob sei.

Da haben wir ja noch den Leitartikel. Erste Spalte links, an den übrigen Wahrheiten entlang und da steht gerade:

»Was man heut zu Tage Politique nennet, ist mehrenteils so verkehrt, daß man es mit Recht Filoutique nennen könte. Denn stehlen und betrügen, wenn man nicht, oder doch schwerlich kann ertappet werden, wird zum Unterschiede des groben und öffentlichen Diebstahls, eine Scharfsinnigkeit und Klugheit genennet, und man nennet wohl gar die, so darin sich auszeichnen, galants Maitres. Wenn man solcher Leute ihre politische Finessen und Staats-Intriguen unparteiisch examinieret: so wird man befinden, daß sie dadurch ihrem Nächsten mehr schaden, als die öffentliche Filous. Denn oft werden redliche Leute, durch falsche Complimente und Conteflationes, wodurch man bey jedem Wort, wider das Gewissen, unverantwortlich lüget, um Ehr und Gut gebracht, und ein solcher Betrüger lachet in sein Fäustchen, daß er andere so bey der Nase herum führen, seinen Nutzen und Vorteil von ihnen ziehen und selbige dafür mit leeren Hoffnungen abspeisen kan. Mit einem Wort, oder kurz zu sagen, die verkehrte Politique … bestehet meistenteils in Wind, leeren Worten und listigen Vorstellungen, dergestalt, daß sie den Betrug in den Armen, und die Falschheit auf dem Rücken trägt.«

Dieser Leitartikel stammt freilich nicht von einem berufenen Leitartikel-Redakteur dieser Zeit, sondern er stammt von dem deutsch-römischen Kaiser Heinrich VI., ward im Jahre 1195 verfasst, ward im Jahr 1751 in einem Band »Staats-Gespräche« zu Erfurt abgedruckt und erhellt daraus welch einen barbarischen, unermesslichen Rückschritt diese Welt gegen das Jahr 1751, in dem derartiges noch abgedruckt und gar gegen das Jahr 1195 getan, in dem das gesagt und aufgeschrieben werden konnte. Von einem Kaiser, wohlverstanden, der immerhin damals die pyramidale Spitze der herrschenden Klasse von Europa und angrenzende Bezirke war.

Und nun liest so ein Leonhard Glanz die »Complimente und Conteflationes«, wodurch »bei jedem Wort wider das Gewissen unverantwortlich gelogen« wird, als ob zwei mal zwei tatsächlich fünf sei. Als ob Banditen aufgehört hätten Banditen zu sein, nur weil sie Macht ihres Banditentums imstande sind, fünfzig oder hundert Millionen Menschen auf einmal in die Fresse zu schlagen. Als ob die wider jedes Kriegsrecht – das ist auch so ein Wort, Kriegsrecht – in Guernica von blutsäuferischen, tobsüchtig gewordenen Berufsmördern erschossenen, zerschmetterten, zerfetzten Kinder und Frauen dadurch wieder zum Leben erweckt würden, dass die feigsten Schurken der registrierten Kriegsgeschichte nachher behaupten, dass sie es nicht gewesen seien. Und alle opportunistischen Leitartikler ihnen die Hehler machen.

Hatte sich der Mann Leonhard Glanz nicht schon beizeiten daran gewöhnt, an nichts zu glauben? Zuerst hatte er den sogenannten Glauben seiner Väter abgelegt, als es nicht in der Mode war, orthodoxer Jude zu sein. Er wurde ein liberaler Jude, der mit Behagen frische Schinkensemmeln aß, wenn ihm der Appetit darauf stand, und der nun noch einmal im Jahre in den Tempel ging, am Versöhnungstag, mit Gehrock und Cylinderhut. Dann legte er gewisse moralische Vorurteile ab und etliche sogenannte Sittlichkeitsbegriffe auf sexuellem Gebiet, weil er sich ja schließlich nicht von jedem bettseligen Kleinmädchen sagen lassen konnte, dass er Hemmungen habe. Und damit waren die Möglichkeiten seines Glaubens und seiner Revolutionen gegen den Glauben erschöpft. Er glaubte nur noch daran, dass ein anständiger Kaufmann seinen Verpflichtungen nachzukommen habe, was sich dann in der Praxis als l’art pour l’art erwiesen hatte, und ferner an den Leitartikel des Tages, jeweils für vierundzwanzig Stunden. Erst in der Zeit von Deutschlands nationaler Erhebung hatte er auch den Glauben an die Heiligkeit des Leitartikels aufgegeben und – zu seiner Ehre – ihn in der Zeit seiner nun rund achttägigen Emigration auch nicht wieder zurückgewonnen. Er hielt sich an die Nachrichten. Denn Nachrichten sind Nachrichten, dachte dieser, von technischen Dingen des Zeitungswesens so garnichts verstehende Durchschnittsmensch.

Hier ein Wörtchen weg. Dort eines hinzu. Hier eine Zeile fett gedruckt. Dort ein Telegramm mit kleinster Schrift, petit, compress. Neunzig-, achtzig-, fünfundsiebzig-, fünfzig-, dreiunddreißig ein drittel-, zwanzig-, zehn- und nullprozentige Wahrheit. Keine Ahnung hat dieser glaubenslose Durchschnittsmann, dass gerade darin des tüchtigen Redakteurs Tüchtigkeit besteht, dass er, je nach dem ihm wohlbekannten Geschmack der Leser und des Verlegers, aus einem schmetternden Bombenwurf einen Furz machen kann oder einen Donnerschlag. Halten zu Gnaden. So gläubig ist dieser Durchschnittsmann. Denn Leonhard Glanz meint natürlich, dass eine Zeitung, wenn er sie definieren sollte, als ein literarisches Werk anzusprechen sei. Unter Ausschluss der Inserate. Aber sonst: Ein Werk. Dass er für seinen Zeitungsgroschen erwirbt. Ohne zu bedenken, dass er da manchmal ein Paket Papier erhält, das blank und weiß für einen Groschen nicht zu kaufen wäre. Und den ganzen Inhalt bekommt er gratis dazu. Die Nachrichten, den Leitartikel, das Neueste aus aller Welt, die lokalen Informationen, das Kreuzworträtsel, die Schachecke, die Witze samt Illustrationen, den Handelsteil, die Börsennachrichten, samt Anweisung, wie man in kurzer Zeit Millionär wird, Verkehrsnachrichten, Unterhaltungsteil und Gedichte mit Reimen am Ende, wissen Sie schon, dass der Skarabäus sechs Beine hat und nach dem Liebesakt vom Weibchen getötet wird? Der Anzeigenteil, die Toten der Woche und des Tages. Was heute vor hundert Jahren war. Wohin gehen wir am Sonntag? Sportbeilage. Annoncen. Annoncen. Annoncen. Theaterkritik und neueste Nachrichten, wer von den Filmstars mit wem schläft, die Mode zu ebener Erde, zu Wasser und in der Luft, Rezept, den bescheidenen Hummersalat für vierundzwanzig Personen anzurichten, fortschrittliche Gesinnung unter dem Strich, reaktionäre Gesinnung über dem Strich. Werter Abonnent, was Sie da von der zweierlei Gesinnung festzustellen belieben, entspricht nicht den Tatsachen. Unser Organ ist von jeher bemüht gewesen, überhaupt keine Gesinnung zu haben, wobei wir es auch in Zukunft hochachtungsvoll belassen wollen. Wer bezahlt das alles? Wenn du, normaler Zeitungsleser, doch knapp das Papier bezahlst. Die Setzer, die Drucker, das Blei, die Schwärze, die brandteuren Telegramme und Telefonate, die Expedition, die Administration, den Redaktionsstab, die Verlagsdirektion, die doch gut leben will, und die Mitarbeiter, die man nicht glatt verhungern lassen darf, weil man nicht nur von ehrgeizigen Oberlehrern und Großindustriellen Gratisbeiträge bringen kann. Wer bezahlt das alles? Die Annoncen, meinst du, die Annoncen. Im Vertrauen gesagt, die reichen zumeist auch nicht. Und darum sitzt der eigentliche Chefredakteur einer großen Zeitung im Vorsitz einer großen politischen Partei, oder in der Direktion einer Monstrefabrik, oder in einem Börsenratsgremium, oder in allen dreien zusammen und das nennt man in Frankreich »publicité« und dort weiß jeder, dass es so ist. Und anderweitig hat es keinen Namen und wird mit freundlichem Lächeln oder mit dem ganzen juristischen Apparat abgeleugnet, womit erwiesen ist – was? Dass Frankreich immer noch das demokratisch fortgeschrittenste, geistig freieste Land ist. Hommage à Voltaire.

Die Zeitung des Als-Ob, die Presse des Als-Ob, die Träger jener öffentlichen Meinung, die ein großes Als-Ob ist. Garnichts anderes sein will.

Leonhard Glanz glast in die Zeitung. Die Zeit zerrinnt und manchmal schaut ihn der Kellner in weißlich-schmutziger Leinenjacke an, manchmal der Ober im Frack und schwarzer Krawatte. Wie weit mag die Uhr vorgerückt sein? Vielleicht ist Mittagszeit. Vielleicht sollte man etwas essen. Leonhard Glanz hat keinen Hunger. Obwohl er nicht eben reichlich gefrühstückt hatte. Und das ist schon geraume Weile her. Keine Bewegung freilich, aber der Schreibtischmann war immer an bewegungslose Geschäftigkeit gewöhnt. Sein Magen war in Ordnung. War es jedenfalls immer gewesen. Und doch widerstrebte ihm der Gedanke an das Essen. Sollte er in eines der zahlreichen Automatenrestaurants gehen und ein Paprikagulasch essen, mit Knödel? Oder ein ungarisches Gulasch mit Kartoffeln? Wie ihm das widerstand. Oder sollte man dahier einmal besser speisen? Etwas Leckeres? Brathuhn mit Pommes frites? Wie satt er war. Woher denn nur? Oder Kalbszunge in Madeira? Angegessen bis dahinauf. Angefressen an dicker Pampe. Gelbes Erbsenpüree mit Zwiebel und Kochwürsten. Große Graupen mit Pflaumen. Gefüllte Milz mit Petersilienkartoffeln. Fetter Schweinemagen mit Mehlknödel. Ölig schimmernde Blutwurst mit Sauerkraut. Kuttelflecksuppe mit eingebrocktem Brot. Speckknödel mit süßlich dampfendem Kastanienpüree. Kalbshaxe mit großen Bohnen, mit sauren Linsen, mit Grünkohl und Bratkartoffeln, Hammelfleisch mit gelbem Fett und weißem Kohl. Roter Kohl mit Apfel und Rosinen gedünstet. Und schwarzes Bier, gezuckert und darüber geschwemmt. Bläulich-grün schillerndes, weißliches Fleisch, das ist Walfischkarbonade. Mit Kornschnaps. Bis da hinauf. Abgrundtief. Pampe.

Der Bauch ist eines. Und das Hirn ist ein anderes. Hatte nicht Leonhard Glanz bisher immer geglaubt, auf den Bauch käme es an? Nur auf einem gesunden Bauch kann ein gesunder Kopf sitzen. Irgendwie so hat es einmal ein großer Dichter gesagt. Aber die Regel lässt Ausnahmen zu. Leonhard Glanz hatte stets Wert darauf gelegt, kein Prinzipienreiter zu sein. Das bewährte sich nun an diesem Normalmenschen, den die Zeitläufe in den leeren Raum geschleudert hatten, dem er nun, aus dem eingeborenen Bestreben aller Natur, keinen leeren Raum dulden zu wollen, eine Füllung zu geben bemüht war. Dabei entstand Unordnung und Wirrnis. Unteres musste nach oben gelangen, es musste ein wenig drüber und drunter gehen. Ein heute kärglich Gespeister saß da, magenvoll, stopfte sich mit Zeitungslektüre an, die in seinem Hirn aufquoll, teils zu riesigen Seifenblasen, die im buntesten Schillern zersprangen, nichts hinterlassend, als ein graues Gerinnsel fader Erinnerung, teils auch zu neuen, leeren Räumen, die nach Füllung verlangten, gleich leeren Gasometern, leeren Wassertürmen, leeren Getreidesilos. Umbau oder Neugeburt? Die Zeichen waren ernst, wenn sie auch nach außen sich nur in der unscheinbaren Bewegung äußerten, dass ein ganz normal Zeitung lesender Mann, ohne sonderliche Hast oder Weile ein Zeitungsblatt umschlug und auf der anderen Seite weiter las.

Der Gesandte der USA in Berlin, so liest er, hat wegen des zum Tode verurteilten Helmut Hirsch interveniert, nachdem sich herausgestellt hat, dass dieser junge Mensch tatsächlich Amerikaner sei und die USA auch seine Staatsbürgerschaft anerkannt haben.

Helmut Hirsch, so erinnert sich das blasentreibende Hirn des magenschweren Mannes Leonhard Glanz, war doch dieser junge Fanatiker, der den deutschen Führer hatte ermorden wollen. Er erinnerte sich sehr wohl. Um diesen Verbrecher, der mit zwei Höllenmaschinen nach Deutschland angereist gekommen war, um so, mir nichts – dir nichts, Hitler zu ermorden, um diesen Verbrecher hatte es drüben noch ein großes Spektakel gegeben. Sonderbar, es widerstrebte Leonhard Glanz diesen Mann einen Verbrecher zu nennen, obwohl es drüben keine Zeitung gegeben hatte, keinen Mann auf der Straße, der das nicht sagte. Dass ein amerikanischer Diplomat interveniert, das bestätigt Leonhard Glanz in seinem Gefühl. Helmut Hirsch hatte den Führer ermorden wollen. Also war er nach deutschem Recht, dass kein Gesetz braucht, zum Tode verurteilt worden. Aber hatte er denn morden wollen? Ja. Dazu hatte er doch zwei Höllenmaschinen mitgebracht. Aber hatte er sie denn mitgebracht? Ja. Sie sind sichergestellt worden. Sichergestellt von wem? Von der Gestapo. Ach so.

Da war schon mal einer zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, der damals an jenem ominösen 9. Februar mit nichts bewaffnet, als einem gefälschten Mitgliedheft der Kommunistischen Partei und einer Schachtel Zündhölzer, das Berliner Reichstagsgebäude in Brand gesteckt hatte. Hölle und Teufel, brüllten die Nazis und handelten so. Hölle und Teufel machte die Deutsche Volkspartei mit und die deutschen Stahlhelmpatterjohten. Obwohl ihnen schon anfing vor der eigenen Courage, die ihr persönliches Ende wurde, bange zu sein. Und die anderen? Saßen da, die Hosen nicht nur mit Angst erfüllt, und versuchten noch lauter zu brüllen als die Ersten, wobei nur ein klägliches Meckern hervorkam. So spielten sie zum letzten Mal Als-Ob. Wer war das noch? Das war die Deutsche Demokratische Partei, werter Herr Leonhard Glanz. Aber ja. Zu ihrer Entlastung sei es gesagt, auch der allzeit so feste Turm des katholischen Zentrums und die reichsgebannerte, sozialdemokratische Partei, die keinen Strick ungedreht ließe, an dem man sie hätte aufhängen können und auch gehenkt hat und alles, was da zwischen diesen Partiewaren-Parteien herum firlefanzte. Erinnern wir uns nur, ohne Groll im Herzen. Weil wir doch ganz etwas anderes zu tun haben. Merkst du was, Leonhard Glanz? Geht dir noch kein Lichtlein auf im Dämmerhirn, da doch die ganze Pampe dir in den Magen gerutscht ist? Oder muss auch das erst hinaus? Eine Zeitung ist doch kein römisches Vomitorium. Oder doch?

Damals hatte kein fremder Diplomat interveniert, obwohl dergleichen damals vielleicht noch irgendeinen Effekt gehabt hätte. Aber damals … Man muss es der Umwelt schon konzedieren. Damals war sie noch so guten Glaubens, als ob sie guten Glaubens gewesen wäre.

Jetzt aber interveniert ein Diplomat. Im Namen der Vereinigten Staaten von Amerika. Das ist etwas. Der Mann mit dem weitdenkenden, politischen Verstand, der erste Napoleon von Frankreich hatte das schon klar erkannt. George Washington war der Mann seiner Sehnsucht. Bis 1917 hatte sich das allerdings noch nicht bis nach Deutschland herumgesprochen und 1937 brauchte man im Deutschland des Dritten Reiches überhaupt nichts von dem zu wissen, was jenseits der Grenzen liegt. Außer was man fressen oder mit Krieg überziehen möchte. Und da interveniert also ein Mann im Namen der USA. Ein immerhin größerer Mann.

*

Da ist ein kleiner kleinerer Mann. Ein einfacher Schlächtermeister in Magdeburg. Nicht eigentlich klein von Statur, sondern eher etwas über Mittelgröße, wohlproportioniert, mit Ansatz zu quellendem Bauch, was ihn gedrungener erscheinen lässt, als er wirklich ist. Ein wohl gemästeter Mann aus gutem Fleisch und wenig Fett. Ein ausgewachsener Beefsteak- und Roastbeeffresser. Dreimal des Tages, zumeist Gebratenes, aber nicht ganz durchgebratenes Fleisch. Das Rote muss noch zu sehen sein und rötlich muss es noch herunter träufeln.

Dieser einfache Schlächtermeister liest in der Zeitung von dem intervenierenden Schritt des amerikanischen Diplomaten, während dabei Zorn und Gram in sein Herz einziehen. Und dieser Mann, der nie gewusst hat, wozu ein Diplomat in der Lage ist, begehrt auf.

Hermann Hutt, der Schlächtermeister, sitzt in dem ledernen Klubsessel, dem einzigen modernen Möbelstück in seine Wohnstube mit den verstaubten, einstmals grünlichen Plüschmöbeln. Ganze Stunden des Tages verbringt er in dem Sessel. Eigentlich sitzt er immer da, wenn er nicht am Schlachthof ist, und schaut ab und zu durch die runde Scheibe in der Tür in den Laden, wo der Gehilfe den Kundendienst versieht und der Lehrling. In den Laden geht Hermann Hutt nicht gern. Die Kunden schauen ihn immer so sonderbar an.

Das Geschäft ging nie sonderlich gut. Und die anderen Verdienste waren oft so gering, dass man sie als nennenswerte Einnahme nicht rechnen konnte. Jetzt, im neuen Deutschland, hatte sich das Geschäft ja etwas gehoben, der Sturmbannführer hatte etliche Anweisungen gegeben, bei Hutt zu kaufen. (Schließlich war er doch ein alter Kämpfer.) Aber so sehr hatte sich das Geschäft wieder nicht gehoben. Wenn Hermann Hutt sich den bequemen Ledersessel hat kaufen können, wenn er jetzt, statt der bröckeligen Zigarren aus Pfälzer Tabak, Hamburger Brasilzigarren rauchen konnte, so verdankte er es anderen Einnahmen. Die waren unter dem neuerwachten, deutschen Geist beträchtlich, das musste man schon sagen. (Zumeist betrugen sie mehr, als die Verdienste aus der Schlächterei.)

Draußen im Hof bellt der Hund. Gewiss wird der Lehrling draußen sein, der kann den Hund nicht in Ruhe lassen. Was hat er auf dem Hof zu tun? Und warum lässt er den Hund nicht in Ruhe? Der Lehrling ist überhaupt nicht gut zu dem Hund. Das darf man nicht dulden. Hermann Hutt ist seit vielen Jahren Mitglied des Tierschutzvereins. Er kann keinem Tier was zu Leide tun. Es gibt Menschen, die schlagen Fliegen so mit der Klatsche tot. Gewiss, Fliegen sind ein unangenehmes Geschmeiß. Im Sommer schwirren und wimmeln sie um jedes Stück Fleisch im Laden. Man muss Gazeüberzüge um das Fleisch tun. Aber Fliegen wollen ja auch leben.

Da ist nicht weiter verwunderlich, dass ein Schlächtermeister Mitglied des Tierschutzvereins ist. Das kann ursächliche Zusammenhänge haben. Gerade weil er von Berufes wegen Tiere töten muss. Wer weiß denn, wie er zu dem Beruf gekommen? Hat er sich ihn ausgesucht? Keineswegs. Sein Vater war schon Schlächtermeister gewesen. In eben diesem Laden. Sogar die grüne Plüschgarnitur stammte noch von Hermanns Eltern her. Er wurde Schlächter, so wie er eines Tages die Wohnungseinrichtung auch erbte. Und so, wie er auch den anderen Beruf mit den Nebenverdiensten mit übernahm. Als Gehilfe war er ja etliche Male mit gewesen, obwohl früher (und auch unter dem Kaiser) nicht viel Gelegenheit war.

Indessen kommt man doch nicht umhin, zu denken, dass dieses Mitglied des Tierschutzvereins, schon unzählige Tiere getötet hatte. Geschlachtet, ausgeweidet, zerlegt, mit bluttriefenden Händen und Armen bis zu den Ellenbogen hinauf. Und mochte keine Motte zerklatschen. Trennte er vorsorglich das berufliche von dem privaten Leben, dass er, wenn er Hände und Arme mit Schmierseife gewaschen, mit der Bürste geschrubbt hatte, den Schlächterkittel weggehängt und das dunkelblaue, zweireihige Jackett angezogen hatte, er ein anderer Mann war, mit Sehnsüchten und Gefühlen? Oder war er einfach, als ein anderer Mensch, ein Mann der Sachlichkeit? Mitglied des Tierschutzvereins, eben gerade, weil er Schlächter war. Einer fetten Kuh die Maske aufsetzen, mit einem einzigen treffsicheren Schlag den Bolzen ins Gehirn treiben, dass sie bewusstlos zur Seite umsackt, eigentlich schon aus dem Leben herausgenommen, und die in die Luft tretende Beine machen nur noch Reflexbewegungen, sodass der wirkliche Akt des Schlachtens sozusagen schon am Fleisch geschieht, an einer Sache die kein Wesen mehr ist, alles das ist eine korrekte, berufsmäßige Angelegenheit. Aber einen Schmetterling fangen und ihm die Flügel ausreißen, das ist Tierquälerei. Was sein muss, muss sein. Und was nicht sein soll, soll auch nicht sein. Die Innung der Schlächtermeister legt größten Wert darauf, dass mit den modernsten Werkzeugen und auf humane Art geschlachtet wird.

Human? Humanität? Humanismus? Geht das nicht die Menschen an? Wieso? Was? Hier wird auf humane Weise geschlachtet. Wieso den Menschen? Was wollen Sie damit sagen? Die Leute, die den Schlächtermeister Hutt immer so komisch ansehen. Die Pg-Kundschaft, die früher garnicht gekommen war. Und sie kam jetzt nur auf Befehl, besonders die Frauen. Nur ein paar Kerle kamen und klopften dem Meister auf die Schulter. Kerle waren das, die als brutale Schläger bekannt waren. Hermann Hutt wollte mit ihnen nichts zu tun haben. Immer seltener kam er in den Laden, er wollte sich von diesen Kerlen, mit dem breiten, vorgeschobenen Unterkinn nicht auf die Schulter klopfen lassen. Von denen nicht. Aber manchmal fragten sie nach ihm. Dann musste der Geselle ihn aus der Stube herausholen. Manchmal sagte der Geselle auch »Hutt ist verreist«. Er sagte nicht: der Meister, oder Herr Hutt. Dann grinsten die mit dem vorgeschobenen Kinn, mit den Schädeln, die unten breiter waren als oben, so wie Schweinsköpfe. Manchmal johlten sie dann auch und riefen »bravo« und »wacker, wacker!« und »Heil Hitler!«

An diesem ganz gewöhnlichen Tag, an dem die Stunden in die Zeit träufelten, für einen, der in seiner Stube sitzt, inmitten all der altgewohnten Dinge, von denen fast nie etwas fortkam, denn außer dem neuen Klubsessel wurde nur der alte Schreibtisch benutzt, um die Rechnungen für faule Kunden auszuschreiben und um die Bücher für die Steuerbehörden zu führen – das war übrigens so ein Sonderkapitel mit der Steuer. Die Geschäftsbücher waren tadellos in Ordnung. Sauber geschrieben mit einer Schrift, die beim einfachen Hinsehen gar nicht wie die eines Schlächtermeisters aussah. Eines solchen noch dazu. Sondern viel eher wie die Schrift eines Mädchens aus einer oberen Schulklasse. Noch dazu war alles mit violetter Tinte gerschrieben, er fand das so hübsch. Mit der geschäftlichen Buchführung hatte Hutt auch niemals Anstände gehabt. Aber eines Tages war da einer von der Steuer gekommen und hatte gefragt, mit halblauter Stimme, ob er, Hutt, nicht noch andere, wesentliche Einnahmen hätte, die zu versteuern seien. Da war Hutt einfach aufgestanden. War ganz ohne Eile aus der Stube, durch den Laden auf die Straße gegangen und als er nach zwei Stunden, die er in einer Konditorei verbracht hatte, wieder nach Hause kam, da war der Beamte natürlich fort. Und er kam auch nie wieder – an diesem gewöhnlichen Tage also (wo der eine, der Zeit hat, hier, der andere, der Zeit hat, dort, etwa auf dem ausgesessenen Leder eines Kaffeehauses, mit Weile seine Zeitung liest) sinnt Hermann Hutt über die Intervention des amerikanischen Gesandten in Sachen des zum Tode verurteilten Juden Helmut Hirsch nach, dessen Prozess er genau verfolgt hatte und der nun auf einmal ein amerikanischer Staatsbürger sein sollte.

Welch eine Komplikation. Sonst, war einmal ein Todesurteil gefällt, war die Sache klar. Früher, in der lauwarmen Weimarer Republik freilich ging es in zehn Fällen neunmal auf Begnadigung aus. Aber das Dritte Reich, das musste man sagen, hatte manchmal den süßen, benebelnden Duft eines Schlachthofes in vollem Betrieb. Etwas für Männer mit Nerven. Und Nerven hatte Hermann Hutt. Man kann sehr wohl mit violetter Tinte schreiben und doch Nerven haben. Man kann eine große Leidenschaft für Orchideen in Meissener Porzellanvasen zur Schau tragen und doch Nerven haben. Man kann frühmorgens durch ein Schlachthaus schreiten, mittags in einer Kirche sich trauen lassen und abends der Braut ein Smaragdkollier um die enthüllten Reize mohnreifer Weiblichkeit winden, wenn man Nerven hat. Und auch Hermann Hutt hatte Nerven. Und darum soll ein Urteil ein Urteil sein. Und kein Hasardspiel mit fauler Begnadigung.

Hitler war nicht für Begnadigung. Mochte er von allen usurpierten Rechten Gebrauch machen, von diesem nicht. Höchstens Frauenmörder hatte er begnadigt. Aber Hutt konnte das verstehen. Hermann Hutt hatte einen tiefen Hass gegen die Frauen.

Das war nicht immer so gewesen. Als er ein junger Bursche war, fest und stämmig, da hatte er mit heißer Sehnsucht zu manchen Mädchen hingeschaut. Wenn er am Sonntagnachmittag hinausging, irgendwo hin in ein Tanzlokal in der Vorstadt. Da saßen die Burschen zu zweien, zu dreien an den hölzernen, gescheuerten Tischen, tranken (ihre »Kugel hell«) Bier aus bauchigen Gläsern, waren lustig, erzählten Witze, frotzelten die Mädchen, tanzten, dass die weißen Stehumlegekragen alle Form verloren. Und er, Hermann Hutt, saß an einem Tisch allein, er hatte keine Freunde und so war es auch nicht lustig. Dann tanzte er zweimal, dreimal mit einem Mädel, das ihm gefiel. Lud es zu einem Glas Bier oder zu einer Portion Eis an seinen Tisch. Manch Mädchen hat da gesessen, eine Viertelstunde lang oder so, dann kam gewöhnlich ein anderes Mädel hinzu, sagte, sie müsse mit ihrer Freundin ein paar Worte sprechen. Dann tuschelten die zwei miteinander und das Mädel an seinem Tisch sah ihn auf einmal an, so. So, wie jetzt die Kunden oftmals im Laden. Stand dann auf, unter irgendeinem Vorwand und kam nicht wieder.

Da war eine gewesen, mit so rotem Haar und mit braunen, großen Augen. Und mit ganz feiner Haut, wie es in Büchern geschrieben ist, wie Milch und Blut, aber auch wie Pfirsich. Und mit ganz schmalen Fesseln. Einen Gang hatte die. Als ob sie schreitet, hatte der junge Hermann Hutt gedacht. So ist das, wenn die Dichter schreiben, dass ein Mädchen schreitet.

Zwei-, dreimal hatte er sie am Sonntag getroffen und dann auch einmal in der Woche, in der Stadt. Da waren sie in ein Kino gegangen. Neben ihr sitzen, in der Theaterdunkelheit hatte er gedacht, das sei viel schöner als Tanzen und hatte den Arm ein wenig mehr zu ihr hinüber getan und sie hatte das wohl erlaubt. Das ist wie Seligkeit, hatte er gedacht. Auch ein Dichterwort, er war so poetisch in jenen Tagen. Das war an einem Mittwochabend gewesen und auf Sonntagnachmittag waren sie wieder verabredet. Lange Tage und endlose Stunden, bis zum Sonntag, die Tage und die Nächte. Und alles das. Eine ganz gewöhnliche Geschichte? Eine Allerweltsliebesgeschichte. Und vielleicht auch das, dass sie am Sonntag nicht kam. Nicht an diesem Sonntag und nicht am nächsten und nie wieder. War sie krank geworden, war sie gestorben? Nichts von alle dem. Hermann Hutt wusste, warum sie nicht gekommen war. Nach der ersten Viertelstunde vergeblichen Wartens wusste er, dass sie nie mehr kommen würde, und es war Torheit, wenn er stundenlang wartete, an allen Sonntagen. Immer an dem gleichen Tisch. Bier und scharfes Kirschwasser, dass die Kehle brannte und das Feuer nicht löschen konnte und spät in der Nacht torkelte er nach Hause.

Der Fluch war über ihm. Der Fluch. Darum hatte er keinen Freund und brütete allein an Wirtshaustischen. Darum liefen ihm die Mädeln davon. Darum hatte die ihn aufsitzen lassen. Die mit dem roten Haar. Mit den braunen Augen. Mit den Pfirsichwangen. Mit dem schreitenden Gang. Weg. Nie wieder. Ihn verworfen. Erst einen Fetzen herausgerissen aus dem Herzen und dann verworfen. Wegen des Fluchs.

War er denn kein richtiger Mensch? Schrie er denn nicht in Nächten in sich hinein, wenn er das Bild der Roten leibhaftig vor sich sah und mit heißen Händen in schwarze Leere griff? Tat es ihm denn nicht weh, dass es schon eins ihm war um Leben und Sterben? Ein Mensch, zur Liebe geboren, dass die Leidenschaft so in ihm toste? Dass er das Elend ersäufen musste, in Schnaps und Schnaps. Der Suff in ihm. Und der Fluch über ihm. Und war doch ein Mensch, war doch ein Mensch. Und war er auch tausendmal der Sohn des Henkers.

Und da ging Hermann Hutt, der Sohn des Henkers und selbst des Henkers Knecht, bestimmt, eines Tages das Henkeramt zu übernehmen, verworfen von den Menschen und verraten von der Liebe, ging hin und beschloss, ein Unmensch zu werden.

Ging zu den Dirnen, denn eines Menschen Blut war in ihm. Die fragten nicht, ob er eines ehrbaren Kaufmanns Sohn sei, oder eines Richters, oder eines Revierwachtmeisters. Die nahmen sein Geld, das war ihnen gut. Er trieb sich durch die Bordelle, betrank sich und spuckte mitten in den Bordellsalon. Ließ sich von jüngeren Huren die Geschichten ihres Lebens erzählen. Immer die gleiche Geschichte, vom Elend zu Hause und nichts mehr zu fressen und kaum noch etwas anzuziehen. Das war dahinter, das nackte Elend und garnicht das splitterfasernackte Laster. Das wurde von den besseren Herren in die Bordelle getragen.

Darum zog Hermann Hutt bald die älteren Huren vor, die schon alles gelernt hatten, und trieb mit ihnen Schweinereien und schlug die Liebe in sich tot und das Menschentum, und das rothaarige Mädchen mit all der Poesie war nur noch eine Panoptikumsfigur.

Darum sitzt er allein in seinem Zimmer, in das er keine Frau hat führen können, keine wollte des Henkers Weib sein. Das ist vielleicht auch gut so, dass der Fluch in diesem Stamm sein Ende habe. Und der Hass gegen die Frauen, die ihn verworfen hatten, war in ihn eingezogen und die Verachtung eines Geschlechts, das er nur in letzter Erbärmlichkeit kennen gelernt hatte. Er konnte mit der Welt nicht fertig werden, weil er ohne Mitleid war. Das war seine große Schuld, mochte sonst die Schuld an der Welt liegen. Ohne Mitleid mit sich und ohne Mitleid mit den anderen.

Der Sohn des Henkers, der selbst jetzt Henker war. Aber Henker, das war ein falsches Wort für diese Sache. In Deutschland schlug der Scharfrichter den Leuten die Köpfe ab.

(In der alten, freien und Hansestadt Hamburg hatte man gleich nach der französischen Revolution die Guillotine eingeführt. Das war lange Jahre das einzige gewesen, was von den Errungenschaften der französischen Revolution in Hamburg brauchbar erschien. Aber es war eine Voreiligkeit dieser seit je republikanischen Hanseaten. Das Dritte Reich hatte mit diesem welschen Tand aufgeräumt und auch in Hamburg wird jetzt vom Scharfrichter höchst persönlich wieder mit dem Beil geköpft.)

Ein Hieb mit dem Beil und ab ist der Kopf. Das muss gelernt sein. Die Hauptsache ist, gerade halten, das Beil. Ganz senkrecht im Anhieb. Den Rest macht das Beil von selber. Denn es ist sehr groß und sehr schwer, da es, um sein Gewicht zu erhöhen, innen mit Quecksilber gefüllt ist. Und es ist sehr scharf und ohne Scharte.

Starke Nerven braucht das. Falsch zu sagen, dass man den Mann nicht ansehen soll, dem man gleich den Kopf abschlagen wird. Man soll ihm ruhig ins Gesicht sehen. Das stärkt die Nerven. Lieber Freund, mich geht die Geschichte im Grunde gar nichts an. Ich bin hier nur der vollstreckende Arm der Gerechtigkeit. Dein letzter, guter Freund, denn mir kannst du vertrauen, ich werde dich korrekt und human hinrichten. Wie ich es von meinem Vater gelernt.

(Natürlich, das braucht Nerven. Aber die hat Hermann Hutt, Schlächtermeister und Scharfrichter aus Magdeburg.) Der schwarze Frack, die weiße Piquéweste mit der goldenen Uhrkette, der glatt gebügelte Cylinderhut, die blanken Schuhe mit Lackkappen und das Beil, hoch über den Kopf erhoben, einen Nerv das Ganze.

Früher, diese seltenen Hinrichtungen. Ohne inneren Gehalt. Ganz ohne Ekstase. Diese erbärmlichen Delinquenten, die anfingen zu schreien und zu toben, wenn sie des Schafotts ansichtig wurden. Die man hinaufschleppen musste, ein Bündel Angst, dass sie grünlich waren im Gesicht und so grässlich rochen vom Angstschweiß und weil sie die Hosen voll hatten. Jetzt aber ist das anders. Die Politischen. Solche Kerle. Was haben die in den Augen, wenn sie einen ansehen, dass man einfach nicht mehr da ist. Weggelöscht. Da ging einmal einer zum Richtblock. An ihm vorbei und sah ihn an. So. Dass er den gebügelten Cylinderhut vom Kopf zog, dass er dachte: Einer, der das so geht und gleich wird man ihm den Kopf abschlagen, der ist doch eine Majestät. Sowas zu denken. Es war wohl auch nur Erinnerung an alte Zeit, als er es noch mit der Poesie hatte. Ganz hinten, über allem die Rothaarige, schreitet heran. Da braucht es Nerven. Das war ein Hieb. Mitten durch die Welt. Die Rothaarige liegt mit unter dem Beil. Völlig zerspalten. (Und das Blut ist ein dicker Strom, in glitzerndem Nebel.)

(Dass es gerade in Hamburg war. Hermann Hutts Rache an der Guillotine, die ihn jahrelang geprellt hatte.) Einmal vier Männer. Hintereinander weg. Und er hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Vier Kerle, die standen. Bis die Köpfe fielen. Köpfe rollen, sagen sie immer alle. Das ist nicht so. Sie fallen in einen Korb. Man muss nicht auf die Köpfe sehen. Man muss auf den Rumpf sehen, wie das Blut hervorschießt, so viel, so rot, so wild. Viere, hintereinander weg. Damals habe ich das Dritte Reich aus der Taufe gehoben, denkt Hermann Hutt. Er denkt das nur. Einmal hatte er es dem Sturmbannführer gesagt. Aber der hatte ihn stehen lassen, ohne ein Wort zu antworten.

Was weiß so ein Sturmbannführer? Was wissen überhaupt die Leute. Das lebt so dahin, paart sich mit Lust und mit dem Weib irgendeiner Wahl und setzt Kinder in die Welt. Was wissen die, wie einem zu Mut ist, der ein Mann wie alle, doch nie ein Weib besessen. Dem der Trieb zur Liebe zum Hass zergoren war. Was wissen davon die Leute. Was wissen sie von einem, dem die Nöte des Leibes sich nicht von der Seele trennen wollten. Einer, der anfing, Knaben anzusehen und junge Männer, so wie er Mädchen angesehen hatte, und alles lief ihm gleichermaßen davon. Alles floh den Mann von Block und Beil. Warum ihn, warum nicht die Staatsanwälte, die dergleichen fordern, warum nicht die Richter, die solche Urteile aussprechen und dann einen Ohnmachtsanfall bekommen, wenn sie bei der Vollstreckung dabei sein müssen. Was wissen sie denn davon, dass er, Hermann Hutt, der das Staatsbeil führte, gerade dann und nur dann sich Mann fühlte, wenn er tötete. Der schwarz ausgeschlagene Schafott, das war sein Brautgemach, der Richtblock war sein Brautbett und das riesige Beil in Gemeinschaft mit dem, dem der Kopf abgeschlagen wurde, das war in grässlicher Unentwirrbarkeit, die Braut. So nah verwandt, Lieben und Töten. Leben schaffen und Leben vernichten, so nah verwandt. Hatten das die Menschen aus Hermann Hutt gemacht, war dann nicht auch die Natur mit dabei? Die Hochzeitsstunde auf dem Zuchthaushof. Angetreten zum Karreé. Achtung, präsentiert das Gewehr. Die Bretter des Schafotts ragen schräg und unendlich hoch ins Firmament, der Himmel sackt hinter Mauern ab. Zwei Satansknechte werfen die Braut nieder. Es schwankt, das ist ihr das Schaukelbrett. Zwei dicke Hände mit Ringen darauf, umklammern den Stiel der Reichsaxt. Heben sie hoch empor, welch ein Schwung. Alles ist rot, dunkel und doch rot, und der blanke Stahl blitzt für einer Sekunde Bruchteil wie ein blühender Stern, ein Meteor, und fährt so nieder. Alle Kraft, alle Macht der Welt ist in diesem schmetternden Schlag. Und da schießt das Blut hervor, Blut, der Urquell, und der Mann mit dem Beil weiß nicht mehr, von wo das Blut strömt, von jenem dort oder aus seinem eigenen Leibe. Der in diesem Augenblick schrecklichste aller Menschen ist bleich geworden.

Darum geht es. Was wissen die davon. Die bezahlen es mit Geld. Und das Geld, das muss er haben. Das ist ein Geld wie keines. Davon geht kein Pfennig ab. Keine Steuern und kein Groschen für Winterhilfe und für all die blechernen Tellersammlungen, die das soziale, klingende Gewissen des Dritten Reiches sind. Oder sollte er eines Tages einer alten Frau am Tisch der Wohlfahrt sagen »Mütterchen, für die warme Wassersuppe, die du da isst, habe ich einem Mann den Kopf abgehauen. Vielleicht war es dein Sohn oder dein Gatte oder dein Bruder, dass du vor der Zeit ein altes Weib darob geworden bist. Und guten Appetit auch, für die Suppe.«

Nein, ganz und gar musste er das Geld haben. Der Klubsessel einmalig. Und gelegentlich die Brasilzigarren. Aber das Geld, das Geld floss jetzt reichlich. Die deutsche Reichsaxt hat zu tun. »Köpfe werden rollen«, hatte Hitler gesagt. Und am Tage darauf war Hermann Hutt in die Nazi-Partei eingetreten. Er war bis dahin nur Mitglied des Tierschutzvereins gewesen. Er war nicht für Vereinsmeierei. Er wollte es nicht darauf ankommen lassen, ob man ihn aufnahm oder abwies. Aber damals war er in die Partei eingetreten. »Köpfe werden rollen.« Nicht rollen. Sie fallen. Aber das war ein Programm (für Hermann Hutt, Schlächtermeister und Scharfrichter). Mochten sie alle sagen, Hitler habe kein Programm, oder er habe es nicht gehalten. Was ging ihn das an. (Nichts von Politik.) Das Programm, das man ihm in Aussicht gestellt, das hatte man gehalten. Das Geld muss sich häufen. Muss zu einer Menge werden. Gerade darum, weil er nicht Weib hat und nicht Kind. Eines Tages wird man sagen: »Scharfrichter Hutt, Sie haben dem Staat lange genug treu gedient. Andere wollen auch mal ran.« Dann wird er sein Geld nehmen und fort fahren. Nach Monte Carlo wird er fahren. In das Spielcasino wird er gehen. Und mit einem König von Spanien und einem König von Siam wird er am Roulette-Tisch sitzen. Vielleicht werden noch andere Könige da sein. Und er wird sagen: »Majestät, sie waren einmal König. Ihre Krone, wo ist sie jetzt? Ich aber habe höchst königliche Menschen und auch andere, die aber zählen nicht, eigenhändig enthauptet. Und da setze ich jetzt so einen Kopf auf Rouge. Und Sie, Sire, setzen Sie auf Noir?«

»Wissen Sie, wessen Kopf ich da eben auf den Tisch getan habe? Das ist Etkar Andrés Kopf. Ich habe den Mann gesehen, Sire. Das eine Mal nur, als er das Schafott bestieg. Ich weiß nichts von dem Mann. Sie sagen, er habe dafür gesorgt, dass die proletarischen Arbeiter der Welt einander mit geballter Faust grüßen. Sie sagen, er sei der beste Freund der deutschen Arbeiter gewesen. Er war selbst ein Arbeiter, sagen sie. Sie sagen auch, wegen dieses Mannes hätten manche Könige oder sonstwie Mächtige der Erde nicht ruhig schlafen können.«

»Ihre Ehre ist nicht meine Ehre und meine Ehre ist nicht Ihre Ehre. Denn uns trennt die tiefe Kluft der Weltanschauungen. – Sollten Sie trotzdem das Unmögliche hier möglich machen und mich zum Richtblock bringen, so bin ich bereit, diesen schweren Gang zu gehen, denn als Kämpfer habe ich gelebt und als Kämpfer werde ich sterben.«

Wer sprach da? Wer, dass wir nicht schlafen können?

Nun, sie können wieder ruhig schlafen. Ich habe ihm den Kopf abgeschlagen. Das war der großartigste Tag meines Lebens. (Man sagt, es seien mehr Tränen um ihn geweint worden, als um alle Könige der Welt zusammen.) Als er vor mir stand, sah er mich an und lächelte. Er war der einzige Mensch, der mir je zugelächelt hat. »Rotfront, Genosse«, sagte er zu mir, dem Beilrichter des Dritten Reiches. Da konnte ich nicht anders. Ich sagte »Rotfront, André«, aber ich sah schon nichts mehr, der Rausch war schon um mich und ich hob das Beil. – Später ging ich durch die Stadt. Wo Zettel geklebt waren, mit der Mitteilung von des Mannes Hinrichtung. Menschen standen davor und lasen das. Und dann gingen sie fort und sprachen kein Wort. Ich aber, Sire, ich habe das Haupt abgeschlagen. Und es ist Etkar Andrés Haupt, das ich auf Rouge setze. Wagen Sie es, Majestät, und setzen Sie Noir.«

Nein und nein. Den Mann muss er haben. Den Mann und das Geld. Wie kommt ein hergelaufener, amerikanischer Gesandter dazu, sich da hineinmischen zu wollen? (Was geht das diesen Amerikaner denn an?) Wir brauchen hier überhaupt keine Ausländer (keine Engländer und keine Franzosen und keine Amerikaner.) Deutschland für die Deutschen. Das ist eine rein deutsche Angelegenheit. Da hat sich niemand hineinzumischen.

Das Geld muss er haben. Und den Mann. Der gehört ihm doch schon. Der war schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Nur der Führer hat das Recht, hier hineinzureden. Den wird er nicht begnadigen, den nicht. Der steht schon unter dem Beil. Jawohl. Hat nicht Hermann Hutt schon Nachrichten erhalten, sich für diese Hinrichtung bereit zu halten? Jede Stunde hätte das Telegramm kommen können, das ihn berief. Hermann Hutt ballte die Hand, öffnete und schloss sie wieder. Er fühlte die warme Ebenheit des eichenen Beilgriffs in der inneren Fläche der Hand. Die Ringe würde er abstreifen und in die Westentasche stecken, um fester das Holz umklammert zu halten. Aber erst im letzten Augenblick. Ringe gehörten zur Festlichkeit der Stunde. (Der Mann steht schon unter dem Beil. Und da kommt irgendein Ausländer und pfuscht da hinein?

Den Mann und das Geld. Das Geld und den Mann. Hier geht es um Deutschlands Ehre. Hermann Hutt hat sich um Politik nicht gekümmert, das ist wahr. Als er Pg. geworden, hatte er eigentlich nichts getan als Beiträge bezahlt. Zu Anderem wollte man ihn auch wohl garnicht haben. Nicht einmal zum Gasexerzieren. Aber einerlei. Er war Pg. Und seine Pflicht hatte er getan. Wie keiner im ganzen Reich. Gewiss, es geht ihm hier ebenso sehr um seine eigene Sache, wie um die Sache der Nation. Der Mann steht unter dem Beil und das Geld ist schon gerechnet. (Politik hin und Politik her.) Die Partei hatte die Pflicht, ihm zu seiner Sache zu helfen. Er wird zum Sturmbannführer gehen. Man muss die SA auf die Straße holen. Man muss eine Demonstration machen. Deutschland für die Deutschen. Gibt es da nicht einen amerikanischen Konsul in der Stadt? Man muss vor das Konsulat ziehen. Die SA, das Horst-Wessel-Lied. Und dann die Scheiben einwerfen.

(Das ist man dem Führer schuldig. Der Führer sollte doch ermordet werden. Die Bomben sind sichergestellt. Der Führer muss wissen, dass die Nation hinter ihm steht.)

So geht er zum Sturmbannführer. Dem leuchtet die Sache ein. Aber er hält sich nicht für zuständig. Das müsse der Gauführer entscheiden. Der Gauführer? Dann hörte die Demonstration doch auf, eine spontane Äußerung des Volkes zu sein. Darum ginge es doch. Gewiss. Gewiss. Aber spontane Geschehnisse sind nur wirkungsvoll, wenn sie richtig vorbereitet und organisiert sind. Ohne den Gauführer geht das nicht.

Nein. Zum Gauführer wird Hermann Hutt nicht gehen. Aus diesen und jenen Gründen nicht. Damit ginge auch viel zu viel Zeit verloren. Wer weiß, was die Diplomaten inzwischen in Berlin treiben. Haben die Diplomaten nicht immer verdorben, was das Schwert erkämpfte?

Dann wird Hermann Hutt nach Berlin fahren. (Den Mann muss er haben und das Geld.) Er wird zu diesem amerikanischen Gesandten sagen: Herr, lassen Sie gefälligst Ihre dreckigen Hände aus dem Spiel. Hier stehe ich. Ein deutscher Mann. Und ich sage Ihnen, kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten und nicht um unsere. – Vielleicht ist der Gesandte ein Jude. Die Amerikaner sollen ja alle Juden sein. (So wie dieser Bürgermeister von New York, der Saujud.)

»Mann, sind Sie blödsinnig geworden?«, haut der Sturmbannführer mit der Hand auf den Tisch. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst. Na, ja. Im Grunde haben sie ja recht. Aber wir wollen doch von den Amerikanern eine Anleihe haben. Wissen Sie das nicht? (Der Jakob Goldschmidt, diese gottverdammte Judensau, soll die Verhandlungen führen, weil Schacht überall abgeblitzt ist. So ist das.) Hier heißt es: Maul halten und parieren. Verstanden? Und nun gehen Sie gefälligst ganz ruhig wieder nach Hause.«

Hermann Hutt geht wieder nach Hause. Aber nicht ruhig. Er hat schrecklichen Hunger. Wie immer, wenn er aufgeregt ist. Er isst Schweinskotelett mit grünen Bohnen. Das ist ihm nicht genug. Er lässt sich ein Beefsteak braten. Das isst er, ohne etwas dazu, nur mit sehr viel Senf. Er kann nicht begreifen, dass er wehrlos sein soll. Ein deutscher Mann gegen einen Amerikaner.

Dieser Helmut Hirsch soll erst 21 Jahre alt sein, sagen sie. Beinahe noch ein Junge. Das ist eine besondere Art. Hermann Hutt hat da die Vision, dass ihr Blut heller sei, als bei den älteren, völlig Erwachsenen. Als Fachmann würde er das bestätigen und er ist doch wahrscheinlich der Fachmann mit der größten Erfahrung auf der Welt. (Außer vielleicht in China, wo sie mit dem Schwert enthaupten. Gleich, wo sie einen erwischen. Manchmal mitten auf der Straße. Das ist nicht gut. Das ist gemeines Handwerk. Das ist keine Feier. Kein Rausch und keine Hochzeit.)

Und da will ihn dieser Fremde, dieser jüdische Indianer, um sein Fest bringen? Aber der Führer wird solche Eingriffe nicht dulden. Er aber, Hermann Hutt, kann garnichts machen, als nur in dem Sessel sitzen und in sich hinein giften. Ihm ist zu Mute wie einem, der langsam am Rost gebraten wird.

»Draußen ist die Frau vom Standartenführer Künneke und will ein halbes Kilo Fett haben«, kommt der Geselle in die Stube.

»Na, was geht das mich an?«

»Sie hatte nach der Fettkarte aber nur noch ein Viertel Kilo zu kriegen.«

»Wenn es aber die Frau Künneke ist?«

»Das habe ich auch gedacht. Aber es kann durchaus sein, dass das eine Falle ist. Und dann kommt eine Anzeige. Was weiß man denn heutzutage?«

Ja, was weiß man heutzutage? Da hängt die Existenz vielleicht davon ab, ob man einer Frau Standartenführerin ein Viertel Kilo Fett gibt, oder nicht. Und wenn man es ihr nicht gibt und beruft sich auf das allgemeine Wohl, dann beschwert sie sich vielleicht bei ihrem Mann und später bekommt man irgendeinen Stunk. Solche Sachen auch noch.

(»Ja, was stehen Sie denn da, sagen Sie doch lieber, was man machen soll«, herrscht er den Gesellen an. Aber der weiß doch nicht. Darum fragte er gerade.)

»Geben Sie es ihr. Geben Sie es ihr nicht. Machen Sie, was Sie wollen.«

»Aber auf Ihre Verantwortung.«

Natürlich auf seine Verantwortung. Alle haben es auf ihn abgesehen. (Da liegt auch noch die blödsinnige Zeitung, mit der das ganze Elend anfing. Die Menschen trampeln auf ihm herum. Und er trampelt auf der Zeitung herum.) Das ist ja nicht zum Aushalten. Am liebsten möchte er weinen. Draußen geht gerade die Frau Künneke aus dem Laden. Sie bedankt sich beim Gesellen und gibt ihm sogar die Hand. Vielleicht wird doch noch alles gut. Der Führer wird diesem Amerikaner sagen, er solle sich zum Teufel scheren. Und Hermann Hutt erhält sein Recht. Den Mann unterm Beil für das Herz und das Geld für den Hass und die Rache.

Wirklich, das ist auch des Führers Ansicht, dass sich dieser Amerikaner zum Teufel scheren möge. Erstens, dieser Mann hat die Hand gegen ihn, den Führer erheben wollen. Zweitens, dieser Mann ist ein Judenlümmel und kein Amerikaner. Ebenso wenig, wie ein Jude Deutscher sein kann, kann er Amerikaner oder sonstwas sein, sondern nur ein Jude. Wenn das die Welt noch nicht begriffen hat, so ist es höchste Zeit, dass dieselbe es begreifen zu lernen alsbald in den Stand gesetzt werde. Drittens kann eine derartige provokatorische Einmischung weder in das deutsche Recht, das hier gesprochen hat, noch in die deutsche Souveränität, die innerhalb der Reichsgrenzen von jedermann, sei er wer er sei oder auch nicht sei, zu respektieren, geduldet werden …

So ist des Führers Meinung. Der sich der Ministerpräsident und General Göring vollinhaltlich anschließt. Der General begreift überhaupt nicht, warum man um ein solches Arschloch so viel Worte macht.

Der Minister und Doktor Goebbels kann nicht umhin, auf die öffentliche Meinung des Auslandes hinzuweisen. Der deutschen Presse hat er in dieser Sache weise Zurückhaltung auferlegt. Im Ausland hat sich einmal wieder die Ansicht gebildet: »Sie werden es nicht wagen.« Worauf man nur mit einem Lacher erwidern kann. Das ist schon oft die Meinung des Auslandes gewesen. Dann haben sie es gewagt. Und nichts ist geschehen. (Wer wagt, gewinnt zwar nicht immer, denn was ist mit so einem jüdischen Kopp denn schon zu gewinnen. Aber zu verlieren ist schließlich auch nichts.)

Nur der Reichsbankpräsident und Finanzchef Dr. Hjalmar Schacht hat Bedenken. Eine amerikanische Anleihe bekäme man im Augenblick so und so nicht. Nicht, weil Wallstreet nicht wolle, sondern weil sie im Augenblick garnicht könne. (Aber man habe drüben die öffentliche Meinung mit der Sache des Kardinals und mit dem La Guardia genugsam belastet.) Die heute abgelehnte Anleihe kann aber zu einer zugesagten von morgen werden.

(Wenn die Sache in Spanien jetzt richtig klappt, brauchen wir die Amerikaner überhaupt nicht mehr. Dann kriegen wir genug Erz, Eisen, Kupfer und alles, was wir wollen. Ist die Meinung des Generals. Werden wir bekommen?, bedenkt der Finanzmann. Hat nicht die London-City in Rio Tinto und anderweitig die Hand drin? Und kann sich die Hand von London-City nicht eines Tages da stärker erweisen, als die Abmachung mit der Deutschen Metall Aktiengesellschaft? Und wenn Herr von Schröder und Schröder-London die Sache dann nicht biegen können?)

So wird die Sache doch wohl zu kompliziert. Wegen eines Judenlümmels (der den Führer ermorden wollte) wird ja nicht die (ganze) internationale haute-finance (und Industrie) mobilgemacht. So bläst man keine Luftballons auf. Der Fall steht nicht weiter zur Erörterung. Der Amerikaner bekommt eine höfliche, eine sehr höfliche, aber bestimmte Ablehnung. Und fertig.

Der Schlächtermeister und Scharfrichter Hermann Hutt wird seinen Mann bekommen. Er hat es garnicht nötig, sich so aufzuregen, dass er so viel essen und Natron nehmen muss. Dass er nachts nicht schlafen kann und lotterig angezogen, mit offenem Kragen und ohne Schlips, mit Paletot und ohne Hut, durch die Straßen strolcht, durch Bordelle tost, dort baumwollene Handlungsgehilfen frei hält, damit sie seinem heiseren Grölen als Gesang applaudieren, und in spätester Nachtstunde vor einem Zeitungsgebäude herumlungert, um das erste Exemplar zu erstehen und nachzusehen, ob da etwas zum Fall Helmut Hirsch steht. Um Häuserblocks kreist er, so, wie seine Gedanken lustmörderisch kreisen. Könnte er sie aussprechen, welche grässliche Qual täte sich auf. Gespenstischer noch, als seine aschfahle, verlotterte Erscheinung, aus der ein aufgedunsenes Gesicht manchmal grinst und manchmal schamlos weint. Da steht er, im Schein der Laterne, an den eisernen Pfahl gelehnt, mit flatterndem Blick und fiebernden Händen die nassen, nach Petroleum riechenden Zeitungsseiten durchsuchend (eine Parodie des heiligen Sebastian). Und auch das ist, auch so ist ein Mensch, wenn die Schändlichkeit der Welt ihn dazu macht. Und nun kommt da ein humpelnder Verlumpter und bettelt ihn an. Dabei ballt er die Hand zur eisernen Faust und schlägt sie dem Bettler mitten ins Gesicht. Der fällt um und bleibt liegen. Hermann Hutts Gespenst aber trollt sich stolpernd nach Hause. Denn wieder stand nichts in der Zeitung.

Den Mann und das Geld, das Geld und den Mann, das Geld den Mann, den Mann, den Mann, das Geld.

Mal kriechen die Stunden, mal stolpern sie, mal sind sie weg (hast du nicht gesehen). Eines Nachts kommt Hutt nach Hause, Hass im Hirn und mörderische Vorstellungen und Dunst vom Alkoholfusel. Eine Salamiwurst nimmt er aus dem Laden mit. Schneidet mit dem Taschenmesser grobe Klötze ab und schlingt die schmatzend herunter. Dabei fängt er an, sich im Wohnzimmer auszukleiden. Erst das Jackett und dann die Weste, die mitten im Zimmer auf dem Boden liegen bleiben. Dann den einen Stiefel, den hält er in der Hand und weiß nicht, was er will. Soll er den Stiefel in die Lampe schmeißen? Da fällt sein Blick auf einen Fleck auf dem Schreibtisch. Ein viereckiger Fleck. Ein geschlossenes Telegramm. Er kann es nicht aufmachen, der Stiefel ist dazwischen. Verdammter Stiefel. Jetzt reißt er’s auf. Das Telegramm. Das Telegramm. Er fängt an zu tanzen, rund um den Ledersessel. Mit einem gestiefelten Fuß und einem in der wollenen Socke mit einem Loch an der Hacke. Morgen früh muss er fahren. Nein, es ist ja schon morgen. Heute früh muss er reisen. Und am nächsten früh um sechs Uhr wird Helmut Hirschs Hinrichtung sein. Ein Bär tanzt um den Sessel, immer ein harter und ein dumpfer Tritt. Ein Bär, mit einem Beil in den Tatzen. Er hat seinen Mann und er kriegt sein Geld. Und der Tanzbär frisst das letzte, große Stück Salamiwurst auch noch auf

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Ein Mann liest Zeitung

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