Читать книгу Paradiesäpfel - Justine la Mour - Страница 3
Paradiesäpfel
ОглавлениеAuf der Wiesn, sagst du, da bist du glücklich gewesen, mit glänzenden Augen und roten Wangen, nur das Dirndl hat gefehlt. Damals habe ich gewusst, ich werde gehen, auf der Wiesn werde ich gehen, aber nicht in diesem Jahr, auch nicht im nächsten, sondern erst im übernächsten, dann aber allerspätestens, und ich werde lächelnd durch die glitzernde Menge schreiten auf High Heels von Manolo Blahnik, eine enganliegende glänzend schwarze Lederhose tragen, einen kurzen Rolli und grell geschminkte rote Lippen.
Mein Lächeln wird echt sein, es wird mich über die Wiesn tragen, durch die Straßen, mir den Weg weisen in meine Welt, in die ich an diesem Tag zurückkehren werde. Ich werde wieder zu zweit sein mit meinem Sohn, nur noch diese kleinste Einheit wird es geben, diese Kernzelle, alles andere wird vergessen sein. Unsere gemeinsame Zeit abgelaufen, die Zeit der späten Familie, die nur noch aus Patchworkflicken bestand, deren Nähte sich langsam aufgelöst haben.
Ich werde meinen Sohn an der Hand halten und mich nicht mehr umsehen, eine kleine klebrige Hand in meiner, ein mit Zuckerwatte vollgestopftes Kind mit einem riesigen Lebkuchenherz mit der Aufschrift „Ich liebe dich“, das nichts versteht und nicht zum Fragen kommt, weil alles so schnell gegangen ist. Er schleckt sich die Reste der Zuckerwatte von den Lippen, zäh, weiß und klebrig wie ein zu dicht gewebtes Spinnennetz, in einer Hand hält er noch einen Paradiesapfel, frisch und glänzend, umhüllt von rotem Guss, der sich so perfekt darüber legt als sei er schon immer mit der Schale verwachsen gewesen.
Wenn er seine Zähne hineingeschlagen haben wird, bekommt der rote Lack die ersten Kratzer, wird mit jedem Bissen weiter abbröckeln und das helle Innere aufzeigen, den viel zu sauren grünen Apfel, den er enttäuscht wegwerfen wird.
Würde er fragen, wohin wir gehen, ich verstünde ihn nicht bei diesem Lärm, das bayerisch-italienische Geraune um mich herum, Pfeifen, Sausen, Kreischen, die Fremdbewegungen fremdgesteuerter Menschen, in die Weißbier, Gaudi und Hochgeschwindigkeitsspaß hineingeschüttet wird, weil sie dafür zahlen. Wenn es hier einen riesigen Bottich gäbe mit der Aufschrift: Leute, hier könnt ihr euer Geld lassen, das würde beruhigen. Einfach einwerfen und nichts mehr tun müssen, vom Paradiesapfel der Erkenntnis ein kleines Stück abbeißen, sich die Lippen lecken und hinausgehen in die Freiheit abseits der Wiesn, schweben, weit fort vom Vergnügungsabfall.
Auf der Wiesn, sagst du, da bist du glücklich gewesen, mit glänzenden Augen und roten Wangen, nur das Dirndl hat gefehlt, und ich denke, das wolltest du so gern, damals, dass ich auch noch dieses Wiesndirndl trage, damit ich genau die bin, die ich in deinen Augen sein soll, für dich sein soll, die ich aber eigentlich weder bin noch sein will noch sein kann. Die Frau an seiner Seite und noch dazu im Dirndl. Und schon lange habe ich gewusst, habe in der Vergangenheit gewusst oder glaubte damals schon gewusst zu haben, dass ich gehen würde, dich verlassen würde, aber noch nicht jetzt, erst später. Und selbst die Vorstellung, das könnte bedeuten, ich sei keineswegs eine emanzipierte Frau, sondern ganz einfach nur ein moralisch schlechter Mensch, ein Charakterschwein, konnte mich schon damals nicht davon abhalten all diese Dinge gedacht zu haben.
Wir sind da, wir sind wir oder wie der Bayer sagt „mir san mir“, die Familie für einen Tag, deine beiden Töchter und mein Sohn, drei Kinder auf der Wiesn, das fällt auf. Wir sind reich, wir sind erfolgreich, wir sind schön.
Die Frau an der Kasse schaut mich an, als habe sie ein schlechtes Gewissen, als könne sie sehen, dass ich unfreiwillig mehr als zwanzig Euro für mich und die Kinder hinlege, um in einem Waggon eingepfercht in eine Wildwasserfahrt hinein zu geraten, die ich gar nicht will. Ihre Haut ist grau und von Falten überzogen wie eine Maske, fast möchte ich sie anfassen, sie würde sicher auf der Stelle zerfallen, Staub von ihr abbröckeln bis nur noch ein Haufen Asche übrigblieb. Ihre Augen streifen mich nur flüchtig, scheu, dann starren sie ins Leere als wären sie blind, sie tastet in einer Schublade und holt einige abgeblätterte Plastikjetons hervor. Viel Spaß tönt es aus ihr heraus, die Stimme blechern und tonlos wie aus einem Automat.
Spaß muss sein, sagst du und klopfst mir auf die Schulter. Die Wagen der Wildwasserrutsche quietschen auf abgefahrenen Gummireifen auf mich zu und bleiben mit einem plötzlichen Ruck stehen, jetzt müssen wir einsteigen, ich will nicht, aber ich muss, ich muss Spaß haben und mich amüsieren, es muss sein.
Wildwasserrutsche fahren ist wie zufälliger Sex mit einem völlig uninteressanten Mann, für den man bezahlt, ohne auch nur den geringsten Spaß daran gehabt zu haben. Als wir hochgezogen werden kreischen die Kinder und klammern sich fest an den eiskalten Griffen, an denen die Farbe abgeblättert ist, ich kneife meine Augen fest zu, so fest, dass es schmerzt, ein Gegendruck, der die Angst übertönt.
Farbreste bleiben an meinen Handinnenflächen hängen, es kratzt, aber ich halte mich fest, jede Lockerung könnte mich hinausschleudern über die Wägen hinaus in die Luft, in all das bunte laute Leben hinein, ich würde fliegen, einmal noch hoch auffliegen und dann endgültig auf dem harten Boden aufprallen, der Wiesn heißt, obwohl kein Rasen darauf wächst, kein einziger noch so winziger Grashalm, nichts.
Abwärts, es geht abwärts, ich spüre wie es uns hinunterpeitscht, Tropfen prasseln auf meine Wangen, hart wie Sandkörner bei einem Wüstensturm, das Geschrei um mich herum, du fasst nach meiner Hand, aber es beruhigt mich nicht. Wie die Hand eines werdenden Vaters während der Geburtswehen, kaum spürbar, eine winzige Geste, die irgendwo weit entfernt stattfindet in einer anderen Sphäre. Schreie wie im Kreissaal, dem Fahrprogramm der Schausteller ausgeliefert wie den Wehen, willenlos fügen wir uns.
Noch einmal und noch einmal, ich zähle die Runden nicht mehr, ich will das Kreischen nicht hören, aber ich kann mir nicht gleichzeitig die Ohren zuhalten und mich an den Griffen festklammern, also muss ich die Schreie der Kinder aushalten, keine Lustschreie, nur Schreie der Angst, die durch die Luft gellen und kaum herausgepresst schon wieder von ihr verschluckt werden.
Als wir aussteigen fasse ich an meinen Hals, der sich rauh und wund anfühlt, wringe meinen Rockzipfel aus, wische über die Augen wie nach einer langen Odyssee durch einen Alptraum. Du siehst mich an, ein wenig Mitleid in den Augenwinkeln, aber auch der Ansatz eines zweideutigen Lächelns, eine kurze Umarmung, aus der ich mich rasch entwinde.
Im nächsten Jahr muss ich mit deiner jüngeren Tochter auf das große Kettenkarussel obwohl ich weiß, sie mag mich nicht und ich weiß, sie weiß, ich weiß, sie mag mich nicht und dennoch fliegen wir zusammen durch die Luft, weil du eine lebende Bierleiche bist und jemand sie begleiten muss. Noch nicht einmal acht Jahre alt ist sie, zum ersten Mal wird mir das klar, wie klein sie noch ist und ihre Eltern schon so viele Jahre getrennt. Achtjährige nur in Begleitung Erwachsener, sie bettelt, du siehst mich an, nein, sage ich, nein, auf keinen Fall, nein, geht gar nicht, aber sie jammert und dann kann ich nicht mehr, also ja. Sie muss Angst haben, ich sehe es an ihren Augen, die unruhig hin- und herflackern.
Wir klammern wir uns beide an dem eiskalten klammen Bügel fest als wir hinaufgezogen werden, ich schließe die Augen als die Fahrt beginnt, mir ist schon schwindlig beim ersten Kreisen in der Luft, und ich sehe dich unten stehen und lachen und winken, dann aber schließe ich die Augen. Kirchtürme und Ziegeldächer sind verschwunden und als ich sie endlich wieder öffne, sehe ich in die Augen deiner Tochter, die auch in diesem Moment wieder zu erwachen scheinen als wir langsam hinab gleiten, und da lächelt sie ganz kurz, vielleicht mag sie mich ja doch ein bisschen, jetzt, nachdem wir beide so gelitten haben. Mir ist schlecht Papa, sagt sie als sie in deine Arme fällt, du lachst, immer lachst du, immer nur lächeln und immer vergnügt, denke ich, will gerade weiter denken, da küsst du mich auf den Mund und sagst: Danke.
Jetzt will sie auf deinen Schultern getragen werden, Papa, Papa, bitte! Du musst dich von mir abwenden als du sie hochhebst aber es stört mich nicht. Hand in Hand mit den Kindern schieben wir uns durch die Menge, durch das glitzernde bunte Körpermeer und einen Augenblick lang steht die Zeit still.
In diesem Moment sehe ich den Fotografen, er schießt los, direkt auf uns ist seine Kamera gerichtet, ich will den Kopf wegdrehen, aber er hat uns schon, er will uns, weil wir eine Familie sind oder zumindest so aussehen als wären wir eine richtige Familie: Vater, Mutter, Kinder. Als ich am nächsten Tag das Bild in der Abendzeitung sehe, das Familienfoto, denke ich, da sind wir also, es gibt uns, wir sind eine Familie und haben drei Kinder, denn es steht hier gedruckt, auch wenn die Namen noch so falsch sind, auch wenn der schöne Schein noch so große Schatten wirft, wir sind es, wir stehen in der Abendzeitung, im Lokalteil auf der ersten Seite, die obere Hälfte des Blattes ist von uns bedeckt, und wir lachen in die Kamera: Hanna, Sophie und Maximilian mit Mama und Papa auf der Wiesn.
Sophie, die nicht Sophie heißt und auf deinen Schultern sitzt, blickt auf uns herab, ein süßsaures Lächeln ziert ihren Kindermund, an deinen Händen Hanna und Maximilian, die auch nicht so heißen. Nichts, nichts davon ist wahr, schreit es in mir, ich muss das klären, dieses unentwegte Lügen, es muss aufhören, die Leute glauben das doch, das dürfen wir nicht machen. Aber dann denke ich, wir sind Mama und Papa, und unsere Kinder sind unsere Kinder, nur nicht unsere gemeinsamen Kinder, aber das steht ja auch gar nicht unter dem Foto, und die Namen, wer weiß, wären es unsere gemeinsamen Kinder, dann hätten sie vielleicht genau diese Namen.
Der Fotograf hat uns verlassen und wir gehen weiter, einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Obwohl es noch nicht dunkel ist, nicht einmal dämmert, glitzern die bunten Lichter jetzt heller, ich versuche, auf den Boden zu schauen, der schwankt, halte mich fest daran: Haferlschuhe, klobig und grob, Bergschuhe zu Dirndln, vereinzelt noch Sandalen und immer wieder bunte Papiere dazwischen, die aufwirbeln, Plastikflaschen, Eispapier, eine glitzernde Scheinwelt, dazwischen wir, aneinander geklammert, so fest, als wenn wir uns verlieren könnten, aber das ist unmöglich.
Für wenige Stunden sind wir eine Familie, und du wirst zu mir sagen, du liebst Kinder und hättest am liebsten noch zwei, aber schon im Moment des Abschieds nach unserem ersten Wiesntreffen weiß ich, das wird nichts mit uns, nicht mit diesen Kindern und auch nicht mit gemeinsamen Kindern, die wir erst machen müssen, aber ich sage nichts, ich will deine Träume nicht zerstören.
Auf der Wiesn, sagst du, da bist du glücklich gewesen, mit glänzenden Augen, mit roten Wangen, nur das Dirndl hat gefehlt, und ich denke, das wolltest du so gern, damals, dass ich auch noch dieses Wiesndirndl trage, aber jetzt hast du es geschafft, zuletzt doch noch geschafft.
Es ist unser drittes Wiesnjahr, und der Nachmittag ist schon weit vorangeschritten, die Dämmerung eingebrochen, das Licht des Himmels senkt sich, die Sonne strahlt noch einmal in einem pampelmusefarbenen Glanz, Ende September, fast schon verlöscht, der Spätsommer. Der Abschied ist doch anders als in meinen Träumen. Mein Wiesndirndl quetscht am Dekoltee, der Push-up-BH drückt darunter, an eine enganliegende glänzend schwarze Lederhose, einen kurzen Rolli und grell geschminkte rote Lippen habe ich schon lange nicht mehr gedacht.
Ich gehe nicht auf High Heels und erst recht schreite ich nicht durch die glitzernde Menge, nein, ich schleiche müde dahin und die Manolo Blahnik Stilettos, das einzige Symbol aus meinen Träumen, drücken schon zu lange. Ich trage sie in der Hand, mein Sohn hat sich die andere genommen und klammert sich daran fest, eine kleine klebrige Hand in meiner. Sein Paradiesapfel ist angebissen, er hält ihn noch immer fest, obwohl er sauer gewesen sein muss. Das Innere ist mehr grün als weiß, die rote Zuckerhülle großflächig abgeplatzt. Nur noch an ganz kleinen Stellen erinnern rote Lacksplitter daran, wie verführerisch der Apfel einmal geglänzt haben muss.
Glänzend ist jetzt nur noch die Cellophanumhüllung, in der das Herz aus braunem Lebkuchen steckt, grasgrün die Zuckerschrift „Ich liebe dich“, umrankt von rosaroten Blüten, zuckersüß unser Abschied von der Familie, ein Geschmack von Süße fließt durch meinen Mund während ich mich ermahne, nicht zurückzublicken, nicht zu dir und den Kindern. Ich schaue hinauf in den weißblauen Himmel, wo alle Antworten schon lange auf uns warten und in diesem Moment ist es, als müssten wir sie nur pflücken wie die rotgelackten Paradiesäpfel oder nicht einmal das, sie fielen uns einfach in den Schoß während wir alle zusammen Hand in Hand über die Wiesn schwebten.