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Böse Männer kommen in den Himmel

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Wenn er schreibt, lebt er, sein Herzschlag beruhigt sich, der Atem wird tiefer, das Flackern in den Augen nimmt ab. Er hält das Leben nicht aus, keine zwei Stunden mit demselben Menschen in einem Raum, nicht mehr als einige Tage am selben Ort, und er spürt wieder dieses Schwitzen, Zittern, Anfälle von Unruhe. Ihn rettet nur das Eintauchen in die Welt der Worte und Sätze, die sich wie selbstverständlich aneinanderreihen und einen Sinn ergeben.

Warum sprechen die anderen miteinander, warum schließen sie Freundschaften, warum gründen sie Familien? Er versteht sich nur aufs Schreiben, die Geschichten entstehen von selbst, er verleibt sie sich ein, verdaut und spuckt sie wieder aus. Aus den Worten und Sätzen entsteht eine Welt, in der er sich zurechtfinden kann, weil er sie selbst erschaffen hat.

Auch wenn seine Figuren ein Eigenleben entwickeln, so sind sie doch in seiner Hand, er kann den Verlauf ihres Schicksals bestimmen. Wenn er schreibt, ist er lebendig, die Stimme der lärmenden Welt schweigt, sein Körper hört auf zu rebellieren, das Zittern endet, der Schweiß strömt nicht mehr, das Summen im Ohr wird leiser, mündet in ein wohliges Gefühl von Stille, die ihn umhüllt und schützt.

Sie ist die einzige, die bei ihm sein darf. Sie liebt ihn und weil sie ihn liebt, liebt sie seine Texte, denn nur darin ist er, der er ist. Er schimmert hindurch, sie kann ihn erkennen wie sie ihn im Alltag nie erkennen würde. Jeder seiner Sätze erfasst ihr Unbewusstes, eine Woge, die sie fortreißt und wegschwemmt an unbekannte Ufer, an denen sie sitzt, nicht weiß, wie sie all das jemals wieder loswerden kann, was seine Texte in ihr anrichten.

Er schreibt, er lebt. Dann schluckt er wieder Medikamente gegen all das, was seinen Körper überfällt, turnusartig wie eine Quartalskrankheit, Wochen Ruhe, manchmal Monate, dann erneut ein heftiges Zucken, Herzrasen, sein Körper vibriert wie eine Waschmaschine, die in den Schleudergang versetzt wurde, es ist das Zucken, das manche Menschen kurz vor dem Einschlafen spüren, wie ein elektrischer Schlag, doch bei ihm geht die Bewegung weiter, sie durchläuft den ganzen Körper, seine Muskeln rebellieren so lange bis er die Medikamente schluckt. Winzige kugelrunde weiße Pillen, die nach Zuckerguss schmecken wie der Überzug auf dem Geburtstagskuchen seiner Kindheit.

Es dauert nur wenige Sekunden, die Wirkung setzt so rasch ein, es überrascht ihn jedesmal selbst. Zwar erhöht er die Dosis seit Jahren, aber es erscheint ihm doch immer wieder wie ein Wunder, diese Ruhe, dieses erhabene Gefühl der Gleichgültigkeit, als sei alles, was geschehe, gleich gültig. Ob jemand stirbt oder die Milch vorzeitig sauer wird, alles hat dieselbe Wertigkeit und bedeutet gar nichts. Material für seine Texte, bunte Mosaiksteine, die er aneinanderreiht, damit sie ein neues Ganzes ergeben, eine weitere Geschichte in seiner Sammlung.

Amnesie, er will vergessen, zumindest die Dinge aus seinem Kurzzeitgedächtnis tilgen, die vielen Gemeinheiten, die jeden Tag auf ihn niederprasseln, winzige Spitzen in den Bemerkungen seiner Zeitgenossen, ein Telefonat zu viel, eine SMS zu wenig, der Hilfeschrei in einer Mail, tagelang unbeantwortet. Was die anderen als normal empfinden, ist für ihn Folter, was sie freut macht ihn krank. Sie müssten behandelt werden, nicht er, dieses jeden Tag zu lebende Leben, dieser Alltag, diese Pflichten, eine Zumutung, der er sich entzieht durch Schreiben.

Der gesamte Rest muss verschwinden, sich seinen Augen und Ohren entziehen, kann nicht mehr ausgehalten werden. Seit er die Medikamente nimmt wird sein Gedächtnis immer schwächer, nur bruchstückhafte Erinnerungen, sie kommen zurück in Sätzen oder Bildern, wirbeln durcheinander und verschwinden wieder.

Einmal, vor langer Zeit wandert er mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester im Gebirge. Sie fahren mit einem Sessellift talabwärts. Plötzlich das Gefühl, er müsse abspringen, sofort, er denkt nicht an Selbstmord, im Gegenteil, das Abspringen würde ihn vor dem sicheren Tod retten. Wenn er nach unten schaut, kommt das Tal auf ihn zu, es ist unendlich weit entfernt, aber es rast auf ihn zu, er glaubt, er kann sich nicht mehr festklammern an seinem Sitz, rutscht durch den Bügel hindurch, will schreien, kann aber nicht. Seitlich gleiten Tannenspitzen und Wiesen mit winzigen braunweiß gefleckten Kühen an ihm vorbei, das Tempo scheint sich zu steigern, das ist wie Achterbahnfahren, nur schlimmer, weil die Bewegung nicht ruckartig in Kurven, sondern geradeaus und linear verläuft.

Die anderen sitzen neben ihm und scheinen nichts zu merken. Er versucht sich umzudrehen und nach oben auf den Hang zu schauen, aber das nützt nichts, er hat dieses Gefühl des Hinabgleitens so tief in seinem Körper verinnerlicht, dass er es nicht mehr loswerden kann, in Gedanken ist er schon ins Tal gestürzt. Die Muskeln spannen sich an, der Blick gebannt zur Talstation, dorthin wo es am meisten schmerzt, aber noch immer ist nichts geschehen, er klammert sich an den Sitz, bleich und zitternd, nichts passiert.

Er schließt die Augen für einen Moment und sieht sich selbst am Schreibtisch sitzen, er schreibt eine Geschichte über einen Jungen, der auf einem Sessellift sitzt und ins Tal. Als er beginnt zu schreiben schwindet die Angst, er kann die Augen schließen und tief durchatmen, er verwandelt den Schrecken in Schrift. Seitdem hört nicht mehr auf, das Schreiben hat das Leben ersetzt, seine Erinnerungen würden ausreichen, um den Rest des Lebens als Ausgangsmaterial für sein Schreiben zu nutzen. Wenn alles Erleben enden könnte, das wäre der Idealzustand für sein Schreiben, das Ende des Herumirrens in sinnlosen Alltagsgeschäften, stattdessen beständige Umwandlung seiner Erinnerung in Literatur.

Sie ist die Herrin der kleinen weißen Pillen, sie überwacht sein Schreiben, macht das Licht in seinem Gedächtnis an und löscht es aus. Verschone mich mit der Realität, bittet er sie, und sie versteht. Sie sortiert, liest, korrigiert, durchlebt die Geschichten in den Texten noch einmal, verleibt sie sich ein, schwitzt, zittert, leidet mit seinen Figuren, um sie Poesie werden zu lassen. Diese Formulierung noch kräftiger, hier ein Adjektiv zu viel, dort die Perspektive ändern, da stimmt die Zeit nicht.

Außerhalb seiner Texte existiert er nicht mehr, nur noch ein brabbelndes Kleinkind, heulend, essend, weinend, schreiend kämpft er sich durch Tage und Nächte. Er murmelt unverständliche Sätze, die klingen als wären die Worte spiegelverkehrt gelesen, als kenne er keine Grammatik mehr und würde den Sinn bewusst entstellen, um nicht verstanden zu werden.

Wann komme ich aus dieser Geschichte heraus, denkt sie? Das ist nicht meine Geschichte, das ist seine Geschichte, sein Leben, sein Schreiben, ich hatte doch ein eigenes Leben, wo ist es hin? Zerschrieben von ihm, sie ist ein Entwurf, eine Figur in einer seiner Geschichten, eine riesige Abrissbirne schwebt über seinem Kopf und zerstört alles, was ihm an Realität zu nahe kommt in Sprache. Worte und Sätze fallen herab, rieseln in sein Hirn und breiten sich dort zu Geschichten aus, die in Synapsen und Ellipsen voranschreiten, Einwortsätze, Zweiwortsätze, Schachtelsätze, Dialoge, Monologe, Zitate, eine unendliche Collage aus Sprache.

Böse Männer kommen in den Himmel, denkt sie, sie, die ihn retten will, gleichzeitig wissend, dass sie es nicht kann. Retten heißt, zu wissen, ob er seine Medikamente genommen hat, zu wissen, dass er einen geregelten Tagesablauf einhält, schreibt, weil er schreiben muss. Hast du heute geschrieben, deine Pillen genommen, gegessen, geschlafen? Seit zwei Jahren kein Tag allein, keine Nacht allein, sie kann nicht mehr, sie muss weiter, in ihrem eigenen Leben wieder ankommen, ein Ort, an dem sie seit Jahren nicht mehr gewesen ist. Er wird sich umbringen, das haben die Ärzte ihr gesagt, es geht nur darum, diese Tatsache so lange wie möglich hinauszuzögern, verhindern kann sie es nicht.

Wo sind die kleinen runden Pillen, weiß, so weiß wie Papier, Schreibpapier, ich brauche Papier, ich muss schreiben! Hier ist Papier. Du weißt, ich kann nicht, ich brauche die Pillen; kleine weiße Pillen wie der Zuckerguss auf meiner Geburtstagstorte, süß und sanft, wo sind sie? Wo sind sie? Ich weiß es nicht, habe sie nicht gesehen. Sie lächelt ihn an. Hier ist Papier, ein Stift, mehr brauchst du nicht, mehr braucht ein Schriftsteller nicht, schreib`!

Als geschieht, was vorhergesagt wurde lacht sie. Sie will es nicht, es passiert ihr, wie ihm die Texte passiert sind, Worte, die in ihn hineinfielen, die er zerkaute wie ein Fleischwolf und wieder ausspuckte, Verdauungssystem, diese Literatur, nichts als ein großer Magen, der die Wirklichkeit verdaut. Ohne Nahrung kann niemand auf Dauer leben, es tötet jeden.

Ein großer Hunger überkommt sie eines Nachts, bohrt sich in ihrem Körper fest, frisst sich hinein, ein Hunger nach Worten, Sätzen und Geschichten. Am nächsten Morgen erwacht sie und beginnt zu schreiben.

Paradiesäpfel

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