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Max Ernsts Seelenfrieden oder Rosa Kakadufeder mit rotem Lederhandschuh

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Als Max Ernst mit Peggy Guggenheim im Arm durch Lissabon spazierte, an einem hellen sonnigen Morgen im Mai hatte Leonora Carrington ihn schon lange tot geglaubt. Sein Tod war ihr so gegenwärtig, so sicher, so unverrückbar gewesen, dass ihr die Vorstellung surreal erschien, er wäre noch am Leben.

Sie hatte in den letzten Monaten einen Traum gehabt, in dem er ertrunken war und so konnte sie sich gar nichts anderes mehr vorstellen als das Bild seines Todes. Ein Unfall mit einem roten Lederhandschuh war schuld, sie sah ihn vor sich, immer wieder, ihr roter Lederhandschuh, sie sieht ihn noch jetzt jeden Tag vor sich, groß, unüberwindlich vor ihrem Gesicht.

Auf seiner Stirn sah sie zuletzt schwarze Striche wie mit Tusche gezeichnet, Tätowierungen. Die letzte Erinnerung an sein Gesicht glich einem Portrait, das er selbst 1938 angefertigt hatte, Autoportrait, Frottage, Kreide auf Foto, schwarzweiß , eine zehn Jahre alte Fotografie, von der er einen Ausschnitt schräg vergrößern ließ. Die mit Kreide durchgeriebenen Strukturen umschlingen sein Gesicht wie Barthaar, legen sich wie ein Schleier davor und gleichen in ihrem Liniengespinst Schriftkürzeln. Es ist, als habe sich die Natur wie eine Tätowierung in die dünne Haut eingeschrieben, die Augen tauchen ab in eine Unterwelt jenseits der Fotografie. Fremde Zeichen, Hieroglyphen, nicht entschlüsselbar, ein Schmuck oder eine Verletzung, sie weiß es nicht. Wenn sie an ihn denkt, denkt sie an das Bild von ihm, es ist untrennbar mit ihm verknüpft, sein Gesicht existiert nicht mehr ohne dieses Bild.

Da sie fest davon überzeugt war, die Fantasie sei schlimmer als die Realität, hatte sie sich nie davor gefürchtet, später in den Zeitungen von Max Tod zu erfahren oder über gemeinsame Freunde davon zu hören. Aber niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, er könne noch leben und erst recht nicht mit einer anderen Frau als ihr selbst.

Als Max Ernst im Jahre 1941 mit Peggy Guggenheim an der Hand den über die Ufer getretenen Tejo betrachtete, weniger mit Sorge als vielmehr aus rein künstlerischem Interesse, war Leonora Carrington gerade aus einem langen Schlaf mit Träumen erwacht, in denen sie und Max miteinander rangen, rote Lederhandschuhe den Besitzer wechselten und Wassermassen die Ufer von Flüssen überschwemmten. So glaubte sie zu träumen, als sie dem Paar begegnete, es schien ihr, als seien die Figuren aus ihrem Unterbewusstsein noch nicht wieder verschwunden.

Max hielt Peggy Guggenheim an der Hand oder vielmehr sie hielt ihn an der Hand, in der anderen baumelte ihre rosa Chaneltasche, seine Hände waren feucht und überhitzt und als er Leonora sah, glaubte er sich ebenso wie seine frühere Geliebte in einem Alptraum, den ihm die Erinnerung als Trugbild vorsetzte.

Die Dame, die ihm entgegenkam, wirkte wie eine Wiedergängerin der Frau, die er geliebt hatte, sie war es, sie musste es sein, sie war kein Vexierbild. Sie trug einen rosa Hut mit einer Vogelfeder, die er nicht genau erkennen konnte, sich aber sogleich sicher war, sie stammte von seinem rosa Kakadu Homeborn, der in derselben Nacht gestorben war als seine kleine Schwester geboren wurde.

Vogelmenschen malte er seither immer wieder, und doch, der rosa Kakadu, der damals hart und steif in seinem Käfig gelegen hatte, ihn hatte er nie vergessen. Und nun diese Feder, ganz sicher die seines Kakadus, es musste seine Feder sein, rosarot, die Feder aus seiner Erinnerungsschublade, in der er alles aufbewahrt hatte, was an Vergangenheit noch Wert besaß für ihn. Und wenn es diese Feder war, dann war es auch diese Frau, seine Geliebte, Leonora, die sie auf ihrem Hut trug, konnte es nur Leonora sein, seine Leonora, die Leonora, seine Windsbraut.

Hatte der Sturm der Zeiten, der durch ihre Leben hindurch geweht war auch sie in diese Stadt getrieben? Die Trümmerstücke an Erinnerungen begannen anfangs ihn zu überschwemmen, später rückten sie weiter fort, die Flüsse der Erinnerungen trockneten aus und hinterließen ein Brachland, eine Wüste aus Staub, in der nichts mehr wuchs.

Seine Windsbraut Leonora, sie war eines Tages verschwunden, tauchte nicht mehr auf, weder in seinen Träumen noch in seinen Bildern, und er hatte geglaubt, sie niemals mehr wieder zu sehen. Ihre Angst vor den Verfolgern, ihre Angst, in ein Internierungslager zu kommen, ihre Ängste überall, sie waren verschwunden mit Peggy.

Peggy Guggenheim, die Lady mit der achteckigen schwarzweißen Brille und den rundherum pragmatischen Ansichten, sie rückte Max zurecht. Manchmal hatte er geradezu das Gefühl, sie nähme seinen Kopf in die Hand und drehe ihn auf die andere Seite, wenn sie wollte, dass er die Dinge von einer anderen Richtung betrachten sollte. Er fühlte sich wie ein Schuljunge in ihrer Gesellschaft und doch war er glückselig über ihre ernstgemeinte Heiterkeit, die ihn weiterleben ließ.

Ihre Augen blitzten, sie schwenkte die Chaneltasche hin und her wie ein kleines Mädchen, übermütig, sorglos, als könnten ihr die Kriegswirren und das Vagabundieren durch die Kontinente nichts anhaben, als fürchte sie sich vor nichts, nicht vor den Deutschen, nicht vor jungen Liebhabern, nicht vor der Ehe und nicht vor dem Tod.

Mein kleiner Pinsel! Du bist wie diese Menschen, die überall Schmerzen haben für die es keine organische Ursache gibt, du empfindest seelische Qualen, die nicht real sind, sie sind nur Erscheinungen, sie schmerzen nicht wirklich. Komm zu dir und lebe, male, schreibe. Think pink! Ein ganzes Jahr sollte er mit ihr verheiratet bleiben, ein ganzes langes Jahr mit Peggy, dann würde sie fortgehen, um für den Rest ihres Lebens in Venedig zu lustwandeln. In seinem Gedächtnis blieb später nur ihr Lachen zurück, frei und offen, so laut, dass er manchmal glaubte, er würde taub davon wenn sie ihm zu nahe war.

Wie viele Liebhaber mochte sie gehabt haben vor ihm, wie viele nach ihm? Das fragt man eine Dame nicht, darüber spricht man nicht mit einer Dame, und Peggy war eine Dame, das stand außer Frage. An fast alles hatte er sich gewöhnen können, nur nicht an die Anrede „mein kleiner Pinsel“, das ging gegen seine Ehre, er wurde jedes Mal rot, wenn sie es sagte, ließ ihre Hand los, lief davon in die andere Richtung, als könne er sie so abhalten weiter zu sprechen, doch alles, was er auslöste, war ein gewaltiger Lachanfall, der Peggy so sehr schüttelte, dass sich der Inhalt ihrer rosaroten Chaneltasche über die Straße ergoss und sie längere Zeit damit beschäftigt war Lippenstifte, goldene Puderdöschen, Kämme und Geldscheine einzusammeln, die sie grundsätzlich nur lose bei sich trug.

Stillos diese Leute, pflegte sie zu sagen, quetschen ihre Geldscheine in viel zu enge winzige Lederbörsen, die sie Portemonaie nennen, was für ein Unfug. Geld muss frei sein, frei zum Ausgeben, dazu ist es da, es muss atmen, sich entfalten, Zug um Zug durchatmen, flattern im Wind. Geldscheine sind wie Schmetterlinge, bunt müssten sie sein, zitronengelb, rosarot, lindgrün, azurblau und durch die Lüfte fliegen. Sieh mal, mein kleiner Pinsel. Und noch ehe er antworten konnte hatte sie schon einige Scheine hochgeworfen, ein Frühlingswindstoß wirbelte sie auf und trug sie davon. Peggy, die Frau ohne Angst, die Frau, die sich in einem einzigen Lachen erschöpfte, ein großer Mund mit rotbemalten Lippen an seinem Ohr. Er wurde taub davon, taub für die Zwischentöne des Lebens.

Wie anders dagegen Leonora, die Windsbraut, die wahre Liebende und zugleich die Verräterin, die ewig Ängstliche, die ihn bedrängte mit etwas, was ohnehin unausweichlich war, für das er um Aufschub bat, nur Zeit, nur noch etwas Zeit für das Malen und Lieben, bitte. Ich habe Angst, es wird etwas geschehen, sie werden dich internieren, sie werden dich fangen und töten. Les Milles, weißt du, was das bedeutet? Die Flüsse werden über die Ufer treten, es wird Überschwemmungen geben, wir werden alle sterben, sie konnte nicht aufhören, davon zu sprechen. Es wird wahr, wenn du darüber redest, du redest es herbei.

Und endlich kam der Morgen, an dem sie ihn abholten, fast eine Erleichterung, die Frist war rum, als hätte ihr eindringlich flüsternde Stimme sie herbeigelockt, als hätte sie es nicht nur zuvor gesehen, gefürchtet, geredet, sondern als sei es durch ihre Ahnungen erst wahr geworden. An den Abschied erinnerte er sich nicht mehr, ein Kuss, ein schwarzes Loch, ein Nichts, in dem er versunken war.

Und jetzt war sie da, sie war in Lissabon. Die Dame mit dem rosa Hut kam näher, sie lief mit leichten fedrigen Schritten, fast wie eine Balletttänzerin, als schwebe sie über dem Asphalt. Wie klein ihre Füße waren, ihre Füße waren immer winzig gewesen, er konnte sie in den Mund nehmen und ablutschen, Zeh um Zeh, er spielte gern mit ihren Füßen. Mädchenfüße, Puppenfüße, so winzig, zu klein für diese Welt, sie lebte auf zu kleinem Fuß. Und doch würde sie sie alle überleben, sehr bald würde sie in Mexiko sein und dort leben, wer weiß wie lange noch.

Peggys Füße waren riesig, die Füße einer Millionärin. Peggy, die Frohnatur, sie lachte, sie lachte über alles, sie lachte immer, Peggy, der rotbemalte lachende Mund, das Gegenteil von Leonora. Mach` dir keine Gedanken, Honey sagte sie, Don` t think, think pink. Smile now, cry later. Sie lebte in einer Gegenwart, die nichts anderes kannte als den immerwährenden Versuch, das Vergnügen, in dem sie sich gerade befand, zu steigern, es bis zum Äußersten zu treiben, es sich auf der Spitze eines immerwährenden Hochgenusses auf der Zunge zergehen zu lassen.

Er hasste es, wenn sie ihn Honey nannte. Es war fast schlimmer als „mein kleiner Pinsel“. Hörte er das Wort Honey, sah er gleich goldgelben klebrigen Honig wie er auf ein weißes Baguette tropfte, wie er an den Fingern hängenblieb, wie übersüß er den Mund zukleckste. Gelbgoldenes Gift, dachte er. Wie schön dagegen die Erinnerung an Leonora, wie sie sich honiggelben glänzenden Senf auf die nackten Füße geschmiert hatte, eine Paste, scharf und streng, der Geruch, ein schöner Kontrast zur Farbe. Wie sie die Schuhe ausgezogen hatte, damals, in dem kleinen Restaurant, sie war erst Anfang zwanzig, eine Wahnsinnige der Kunst und des Lebens, beides war für sie eins und beides war ihr gleichermaßen ernst.

Wir müssen die Ufer befestigen, sie überfluten, Wassermassen drängen nach, siehst du es nicht, hatte Leonora gesagt, und die Überschwemmungen ihrer Fantasien gemeint, die Bilderfluten, die sie tags und nachts quälten, wir müssen sie eindämmen, sonst läuft alles über, wir überschwemmen jeden Tag in der Kunst und jede Nacht an uns selbst.

Er hatte verstanden, aber er wollte nicht. Sein Pinsel war die Begrenzung, seine Malerei, seine Kunst, sollte sie sich eine andere suchen. Er liebte sie als Frau, als Künstlerin musste sie sich selbst lieben. Er schwieg tagelang und malte. In den Nächten waren sie einander näher, als ob die Ufer nicht befestigt werden müssten, die überschwemmenden Gedanken, Gefühle und Pläne sie nicht ängstigten, ihre Körper versanken ineinander, die Dunkelheit brachte Frieden. Sie schwammen in einem Meer von Farben und Formen, von Worten und Tönen, der Wind heulte um das kleine Haus herum, sie fürchtete sich nicht mehr.

Morgens übermalte er einen Werbeprospekt für einen Liegestuhl mit verschiebbarer Rückenlehne, er ließ ihn im Meer schwimmen, setzte einen Leuchtturm in den Hintergrund, ließ Wasser hochspritzen. Später taufte er das Bild „Seelenfrieden“. Er wünschte sich Frieden, den Frieden, der den ruhenden älteren Herrn auf der Liege umgab, der in einem stürmischen Meer seelenruhig schwamm, nicht einmal die Augen öffnete, träumte und sich nicht erschrecken ließ, auch nicht von den nackten Armen der Frau unter ihm, deren Hand sich zu einer Vogelkralle auswuchs. Das Wasser schoss von allen Seiten übers Meer, es sprühten Fontänen in den Himmel, der drohend wolkenverhangen und düster war, der Wellengang hatte zugenommen, doch nichts konnte den Schlafenden wecken: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, hatte er gelacht als Leonora beim Anblick der Collage geschrien hatte. Du fürchtest dich wirklich vor allem. Es ist ein Bild! Es ist ein Alptraum. Warum musst du sowas malen, warum? Ich habe es nicht gemalt, es ist eine Collage. Und was willst du damit? Nichts, meine Liebe nichts.

Dann Frieden, wieder Frieden, immer wieder, endlich. Die Landschaft um sie herum so weit und ruhig als wäre die Zeit stehengeblieben mit ihnen, als hielten sie sie an und wären glücklich. So friedlich, aber auch ein wenig bedrohlich, nichts lenkt ab, sie sind allein, sich selbst und ihren Träumen, ihren Bildern überlassen. Er steht vor ihr, sie muss ihn umarmen und küssen, wie langsam er sich ihr nähert, als dauere es Minuten, sie kann die winzigen Härchen auf der Haut seiner Wange spüren, seinen Atem, den weißen Hauch, den er erzeugt in der eisigen Morgenluft, seine Augen, stahlblau, was für ein Wort, Stahl ist nicht blau, Stahl ist silbrig oder grau, aber seine Augen sind stahlblau, sie leuchten kühl und blau wie Stahl leuchten müsste. Der Atem vor ihm an frühen Wintertagen, die weiße Fahne, die aufsteigt wie ein Rauchzeichen des Sieges über den Tod. Dann ist er da, spürt sie, er ist wirklich da. Seine Zunge, ein Flattern in ihr, als suche sie noch den Ort, an dem sie verweilen könnte, seine Hände sanft und warm. Vor ihr die Tasse von Meret Oppenheim, pelzverbrämt wie Max Ernst in der Eislandschaft auf einem ihrer späteren Bilder, er nimmt sie und trinkt einen Schluck Tee. Zum Aufwärmen, sagt er.


Das Bauernhaus in Saint-Martin-d` Ardèche, Südfrankreich, 1938 gekauft, später würde Leonora es verkaufen und fliehen, fliehen vor ihm, vor dem Krieg, vor ihrem gemeinsamen Leben, er wird interniert, entlassen, interniert und entlassen, sie flüchtet mit Freunden nach Spanien, nach Portugal, verkauft das Haus mit der gesamten Einrichtung an den Besitzer des Hotel des Touristes von Saint Martin, nimmt seinen Pass mit, hält sich daran fest, an dem letzten Beweisstück seiner Existenz. Er weiß nicht, dass sie die Erinnerung aus ihrem Körper herausbrechen will, sich mit Orangenblütenwasser fast ertränkt, fastet, körperlich arbeitet bis weit über ihre Grenzen, weint, schreit, träumt, um die nächsten Tage und Wochen nach seinem Abschied zu überstehen.

Die rosa Federn auf ihrem Hut, es war Leonora und noch immer konnte er es nicht glauben, was er sah, als wäre sie ein Trugbild, entstanden aus dem Wahn, sie müsse wiederkehren. Seine Braut, er würde in Lissabon bleiben, ihre Wiederbegegnung, ein Zufall, er glaubte an Zufälle, an nichts anderes, ein Zeichen, sie gehörten zusammen.

Er hatte damals versucht, sie zu finden, zurück zu erobern, die einzige Frau, die er je geliebt hat, drei Monate hatte er an einem Pelzmantel gemalt und sich bei Bauern in der Nähe ihres ehemaligen Hauses versteckt, und sie träumte ihr Träume, weit fort von ihm an einem fremden Ort, Träume von der Pelztasse von Meret Oppenheim, die diese gerade in New York erfand. So war der Pelz zumindest etwas, das sie verband in den Kriegswirren, in denen alles überschwemmte, über die Ufer trat, unberechenbar wurde. Aber er wusste nichts von ihren gemeinsamen Träumen und ahnte nicht einmal wo sie sich aufhielt. Nur das Malen des Pelzes genoss er jeden Morgen aufs Neue, das Malen gab ihm Halt, es hielt ihn am Leben.

Und auch sie malte. Sie malte ihn, Max Ernst, den großen surrealistischen Künstler, im roten Pelz und Ringelsocken geht er durch eine Eiswüste, ein Fischschwanz bildet das Ende seines Pelzumhangs, in der Hand eine Laterne mit einem Schimmel, der darin aufleuchtet. Eine Landschaft aus Eisgestalten, ein Schimmel, Eisskulpturen neben ihm, Zapfen daran, im Hintergrund Gebirge aus Eis, die in einen düsteren Himmel aufragen. Eiswüsten, Schollen unter ihm, die jederzeit wegbrechen oder schmelzen könnten, ein Narr, der nach innen schaut, der den Weg nicht beachten will, auf dem seine Füße gehen, keine Schuhe, nur Ringelsocken, die Lampe, die zur Erleuchtung dienen soll mit dem Pferd, leichten Schrittes scheint er ohne Angst voranzuschreiten, sein Haar schlohweiß, die Weisheit des Alters in seinen Augen. Kein Land zu erahnen, nur Eisberge, Kraterlandschaften, kreideweiß, die weit entfernt liegen. Eisfelder, Abgründe, eine Winterlandschaft im düsteren Gewässer, kein Halt, keine Befestigungen, kein Ufer, nirgends. Voranschreiten mit traumwandlerischer Sicherheit von Scholle zu Scholle, der Fischschwanz aus Pelz, die Dekoration eines Narren im Traum.

Sie stehen am Tejo, der über die Ufer getreten ist, mühsam versuchen Einheimische und Flüchtlinge Befestigungen anzubringen, Sandsäcke zu schleppen, die Wassermassen zurückzudrängen. Das Sprachgewirr hüllt sie ein, das unentwegte Reden in so vielen unterschiedlichen Klängen, portugiesisch, spanisch, englisch, französisch, italienisch vereinen sich zu einem Gemisch aus Klängen wie eine Melodie, die über dem Wasser schwebt.

Max und Leonora stehen da und schauen zu, lachen, rangeln am Abhang, lange scheint es Spaß zu sein, aber dann wird es ernst, sehr ernst. Du willst mich umbringen! Nein, du mich!

Leonoras Bein schwebt über dem Abgrund, es sieht aus als hätte sie keine Chance, als wolle er sie hinunterstoßen, sie sieht sich selbst schon fallen. Ihr roter Lederhandschuh, an einigen Stellen außen fleckig, innen warm und weich, sie lässt ihn los, ganz einfach geschieht es, sie nimmt es sich nicht vor, es geschieht wie von selbst. Sie macht eine kurze Drehung auf einem Bein, wie eine Balletttänzerin, das Pas de deux ist beendet, er steht am Abgrund, sein Fuß über dem Wasser, da lässt sie ihren roten Handschuh los und er fällt.

Kein Schrei, kein Laut, nichts, als würde er freiwillig stürzen, sie sieht ihm nach als könne sie nicht glauben, was geschieht, als betrachte sie eine Szene in einem Film, wie in Zeitlupe scheint er zu fallen. Es ist ein Traum, denkt sie, es ist nur ein Traum. Aber sie weiß, sie besitzt rote Lederhandschuhe, sie stammelt etwas vor sich hin, ihre Lippen zittern vor Kälte und Aufregung, noch fällt er, immer noch, den roten Handschuh in seiner Hand, im allerletzten Moment scheint er sogar zu springen, beinahe elegant sieht es aus, wie die Turmspringer bei der Olympiade, eine Drehung, dann ein Aufplatschen, hoch spritzt das Wasser des Tejo von allen Seiten, Fontänen, die seinen Körper umringen. Er taucht unter in dem matten Grün, sein Kopf unter Wasser, die grauen Strähnen ganz deutlich unter der Oberfläche zu erkennen. Etwas zieht sich zusammen in Leonora, ein Zucken wie kurz vor dem Einschlafen, die Muskeln entspannen sich, sie lächelt. Peggy nimmt ihre Hand und zieht sie fort. Honey, let`s go. Das ist nichts für feine Ladies.

Eingebettet in grünlich trübe Wassermassen treibt er davon, er scheint schon nicht mehr zu leben, sie sieht keine Schwimmbewegungen, nur ein ruhiges Treiben, weiter weg, fort von ihr, wohin weiß sie nicht. Nicht einen Augenblick lang der Impuls ihn zu retten, hinein zu springen, zu schreiben, nichts. Ein einsamer roter Lederhandschuh in seiner Hand, vom Ufer aus kann man ihn kaum erkennen.

Mein Handschuh, er hat meinen Handschuh mitgenommen, Peggy! Leonora bewegt ihre Lippen, das Gesagte entgleitet ihr, es fließt aus ihr heraus, ein Strom, der nicht mehr endet, einmündet in die erschrockenen Schreie und Rufe der Fremden.

Und dann steht er hinter ihnen, seine Augen stahlblau, ein Blau, das klarer nicht scheinen könnte. Die schwarzen dichten Wimpern nass wie von Tränen überströmt, noch nie hat sie ihn weinen sehen und auch jetzt, keine Regung, ein kleines Lächeln, ein leichtes Erstaunen, kaum sichtbar, ihr roter Lederhandschuh in seiner Faust, er hebt den Arm und lacht. Das Wasser tropft aus seiner Kleidung, aus den Haaren, es stört ihn nicht, er steht da als sei dieser kleine Zwischenfall ein Zufall und könne einen Mann seiner Größe nicht beeindrucken.

Du hast etwas verloren, meine Liebe. Er zieht das triefende rote Leder behutsam über Leonoras Hand. Bitte sehr. Es ist, als verwachse der Handschuh mit ihrer Haut, als setze er ihre Hand fort, rot und kühl, dann wärmer. Sie wagt nicht, ihn wieder abzustreifen, sein Blick war ernst, feierlich, als würde er ihr einen Ehering überstreifen. Wie wäre es mit einer Shoppingtour, Ladies? Zwei lachende Münder, rotbemalt, zwei dunkelbraune Augenpaare, zwei Damen in seinem Herzen. Die Ufer sind befestigt, die Wassermassen dürfen fließen und drei Hände, einander festhaltend, laufen durch Lissabon, flanieren und lachen, die Herzen hüpfen kreuz und quer durch sie hindurch, als könnten sie sich zwischen ihnen nicht entscheiden.


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