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Im Grunewald, im Grunewald

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Sie tanzen, ein Offizier, groß und dunkelhaarig, dem Dialekt zu urteilen ein Tiroler und sie, eine Berlinerin, klein und blond. Immer wieder muss sie über ihn lachen, die Betonungen, die langgezogenen Vokale, die fremden Wörter, Matura, Einspänner, Schlagobers, als wenn seine Sprachwelt sich der ihren entzöge, um gleich darauf wieder so deutsch zu sein. Ich liebe Berlin, und Sie? Berlin ist anders, es ist ganz anders und so weit fort. Zwischen uns liegen nur ein paar Berge sagt er und lacht.

Seine weiße Zahnreihe blitzt und sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter und verliert den Verstand. Sie tanzen durch die Geschichte, sie schweben durch den Sommerabend auf dem Berghof am Obersalzberg. Hinter seinen Augen dunkle Trauer, eine Tiefe, die ihr gefällt. Sie tanzen lange, eng umschlungen, sie saugt an einer Stelle am Hals, sein Seidentuch verschiebt sich, sie entdeckt später eine kleine ovale Stelle, blaurot angelaufen, kann sich aber nicht erinnern, wie sie dorthin kam. Seine Augen rotgeädert, sie wagt nicht zu fragen warum. Als sie seine Hand spürt, warm wie die eines Kindes, seine Haut, weich und rosig, fühlt sie sich geborgen. Hinter seinen Augen eine Schranke, sie kann nicht in die anderen Ebenen hineinsehen, nur Gegenwart. Ein Schimmer, ein Film, der seinen Augapfel benetzt, darin ein Funkeln, kaum sichtbar. Nach langer Zeit, in der sich ihre Körper mit denen der anderen wiegen wie in einem an- und abschwellenden Wellengang, löst sie sich aus seiner Umarmung. Er nimmt ihr Kinn in seine Hand und küsst sie flüchtig auf den Mund, sehr beschwingt als täte er es jeden Tag mit vielen Frauen. Sein Bild löst sich auf, er taucht ein in die Menge der tanzenden Paare, ein Meer umschlungener Körper. Als sie die Tanzfläche verlässt schaut sie sich um, ein bunter Teppich aus Klängen und Farben, der sich um sich selbst zu drehen scheint. Sie steigt die Treppe hoch und öffnet die Tür zu ihrer Suite, in der sie bei geöffnetem Fenster der Tanzmusik lauscht, den hellen, leichten Tönen wie sie durch die dunkle Bergwelt hallen, ein anschwellendes Dur. Sie streift ein Seidennachthemd über und fällt ins Bett. An der Wand gegenüber ein See, ein Kahn mit zwei Gestalten, eine davon in einem weißen Kapuzenumhang, schroffe Felsen, weißgraue Wolkengebilde, blumengeschmückt, ein Sarg, der auf die Insel hingetrieben wird. Als sie die Augen wieder öffnet steht er vor ihr. Seine Haut ist blass, fahl beinahe. Er trägt ein bodenlanges weißes Nachthemd mit Kapuze. Vor ihren Augen verschwimmen die Konturen seines Körpers mit der des Mannes auf dem Gemälde. Hast du schon geschlafen? Etwas zu laut ist seine Stimme, zugleich ein wenig unwirklich. Ihr Gesicht spiegelt sich in seinen Augen. Wer er ist, weiß sie nicht, sie will es nicht wissen, ein Fremder soll er bleiben, das Dunkle im Blick, das Andere, die Trauer, seine Trauer, keine gemeinsame Trauer. Sie scheint ihn zu halten, zu stützen, eine dunkle Zuflucht vor dem Chaos, sie hält ihn davon ab auseinanderzufallen. Sie stellt sich vor, in sein Fleisch zu beißen, sie probiert es aus, doch der Abdruck ihrer Zähne erschrickt ihn nicht.

Erst sehr spät schreit er auf. Was soll das? Ich weiß nicht, ich dachte, du wachst davon auf. Seine Augen müde, tief eingesunken in dunkle Höhlen, sie spürt hinter den roten Äderchen seine Trauer wie eine Festung, dahinter hoch in den Himmel ragende Zypressen. Gräber, in Felsen geschlagen, Behausungen für die Toten, eine Insel voller Gräber, und sie weiß, sie haben eine Aufgabe, sie weiß es, nur den Weg dorthin kennt sie nicht. Wie die Müdigkeit in ihre Glieder sinkt, ein Gift, das lähmt, bleiern und grau wie die Wolken am Himmel. Was willst du, fragt sie, eingeschüchtert von seinem mächtigen Körper, der im Licht der Schreibtischlampe riesige Schatten wirft. Er drückt sie in die Kissen, sein Körper auf ihrem, sie ist müde, es ist ihr gleich was geschieht. Meine Frau ist gestorben, vor einem Monat, ein Herzinfarkt. Ihr Sarg ist weiß, helles Holz mit bunten Blumengestecken, sie liegt in einem Felsengrab auf einer Insel. Sie sieht ihn vor sich: Eine weiße Gestalt auf dem Kahn, das Gesicht nicht zu erkennen. Ein weißer blumengeschmückter Sarg, sanft nach vorn getrieben. Ein Stich geht durch ihr Herz, sie spürt diese Regung zum ersten Mal, das Bild Amors. Und sie möchte ihn fragen: Warum nennst du sie deine Frau, sie ist tot, du bist allein. Aber sie schweigt als sie in sein Gesicht sieht. Die Frau, für die er das Felsengrab bereitgestellt hat, es wird sie beschützen wie ein Haus, ein Mausoleum. Und sie? Auf sie wartet kein Haus, nur eine einzige Nacht, ungeschützt und vogelfrei.

Sie steht hinter ihm, eine kleine dunkle Gestalt auf dem Kahn, die ihn hinüber rudert. Unter der Oberfläche flimmert der Spiegel eines weiblichen Körpers, Wasserkühle im Gesicht, schwarzblau. Wir sind gleich da, die Stimme der Figur im weißen Gewand, seine tiefe ruhige Stimme, der Tiroler Akzent wirkt jetzt fremd, passt nicht in die Umgebung, keine Berge weit und breit, nur sanft ansteigende Hügel und viel Wasser. Seine Stimme klingt wie aus der Ferne, ein Flüsterton, der sich im Rauschen des Wassers verliert. Sie blickt hinab, der Körper der Frau löst sich auf, ihr langes dunkles Haar, die blasse kühle Haut, bläulich schimmernde Adern, ein kunstvolles Geflecht, die Landkarte ihres Lebens, die Konturen weichen auf, zerfließen im gleichmäßigen Strom der Bewegung des Kahns. Sie glaubt, sie höre ein gurgelndes Geräusch, Luftblasen, aber nein, da ist nichts, nur schwarzblau, ein Abgrund, den eine schillernde Oberfläche überdeckt. Die Luft, kühler und dunkler, nur noch kurze Zeit wird das milde Licht der Dämmerung leuchten, dann bricht die Nacht ein, tiefschwarz, alles in ihren Abgrund saugend. Strömungen, Lichtreflexe, Spiegelungen. Die Trauer, ein sicherer Ort für ihn, eine sichere Trauer, eine, die er kennt und die ihn kennt. Eine angenehme dumpfe Trauer, sein Blick nach innen gerichtet, Kopf gesenkt, schleichender Gang, dunkle Sonnengläser. Die Insel nähert sich, als käme sie auf den Kahn zu, nicht der Kahn auf sie, ein Sog geht von ihr aus, sie öffnet ihre Tore, die felsigen Klippen, weit ausgefahren, dahinter das Schwarz der hoch in den Himmel ragenden Trauerzypressen wie eine düstere Scham. Sie scheinen den Himmel zu berühren, die dünne Wolkenhaut, die hellgrau leuchtend über ihnen schwebt. Bis zuletzt steuert sie den Kahn, stemmt sich gegen seinen Rücken, die kühle Stahlplatte, durch die dünne Haut kaschiert und sie bemerkt es nicht einmal, immer noch glaubt sie, er habe das Ruder in der Hand. Wo sind wir, wo liegt dieser See? Er lacht. Im Grunewald, im Grunewald. Es klingt wie der Anfang eines Liedes aus ihrer Kindheit.

Der Kahn gleitet langsamer, die Wellen werden flacher, ein letztes Plätschern, sie sind angekommen. Er reicht ihr die Hand, sie vergisst alles, was vorher war und alles was sein wird. Sie vergisst sogar die Zukunft, alles ist bereits vergessen in diesem Augenblick. Der weiße Sarg, blumengeschmückt, bleibt zurück, darin der Körper seiner Frau, der in der Grabkammer ruhen soll. Wir müssen die Stelle suchen, sagt er, die Initialen stehen über der Grabkammer, dann können wir den Sarg nachholen. Sie träumt durch ihn hindurch, durch die Spiegelung seiner Augen betrachtet sie den Himmel voller Wolken, je weiter sie nach oben schaut, umso heller die Töne umso schillernder die Farben. Die schroffen Felswände, das Kalkgestein im Dämmerlicht, orange, rosa, gelb, herbstlich geschmückt leuchtet das Efeu wie ein letzter Hoffnungsschimmer gegen die Dunkelheit.

Schritt für Schritt tasten sie sich vor zu den Gräbern. Die Hände ineinander geschoben, die Gedanken weit voneinander entfernt, steigen sie Schritt für Schritt den Felsvorsprung hoch zu ihrem Grab. Sie fällt, sie klammert sich an seinem Hals fest, wach auf, wach endlich auf, sie schreit. Blaurote Würgemale auf seiner Haut am Hals, woher kommen sie? Vielleicht war er es selbst, er hat sie dorthin getrieben in dieses Felsengrab, er wollte einen Ort haben, an dem niemand anderer sie lieben konnte. Seine Hand, die warme Hand, die weiche Hand, ein großer Brocken Felsgestein darin, die Finger umklammern ihn wie eine Kralle. Die Kralle nähert sich ihrem Kopf, sie könnte sich wehren, doch sie tut es nicht. Es ist nicht wahr, es ist nicht seine Hand, die Kralle eines fremden Tieres. Der Morgen ist kalt. Rosarot gefärbt der Himmel, die Felseninsel in ein feines helles Licht getaucht, Morgenröte, wie der Beginn neuen Lebens. Tief ruht der See, schwarzblau, glatte Wasserfläche, ein paar schneeweiße Möwen kreischen darüber hinweg, dann wieder Stille, Totenstille. In ihr eine Melodie, ein Lied, im Grunewald, im Grunewald, nur die Melodie ist in ihr geblieben, in einem Teil ihres Gedächtnisses gespeichert, aus dem alles andere gelöscht ist. Das Blut an ihrer Schläfe ist rostfarben und eingedickt, neben ihrem Kopf eine kleine Lache, etwas heller. Einen Moment lang glaubt sie im Himmel zu sein, sie schaut in das Rosarot über ihr, dann wendet sich ihr Blick zur Seite und sieht das feine Geäst seiner Äderchen in den Augen, eine Großaufnahme.

Es tut mir leid, seine Stimme klingt dumpf und traurig. Die Würgemale an seinem Hals, blaurot angelaufen, sind es nicht eher Liebeszeichen, als habe jemand an seinem Hals gesaugt? Wir müssen fort, wir müssen zurück, ich werde dich in den Kahn tragen. Ja. Er stöhnt auf als er ihren Körper anhebt, aber sie fühlt sich leicht, schließt die Augen und lächelt. Sein weißes Gewand hat Blutspritzer an den Ärmeln, winzige stecknadelgroße Pünktchen. Goldene Strahlen erhellen sein Gesicht, sein Oberkörper bloß, sie legt die Decke darüber. Seltsam, kein einziges Haar auf seiner Brust, und die Haut so rosig und prall wie die eines Babies. Er öffnet die Augen und lächelt, sein Blick ist auf das Gemälde an der Wand gegenüber gerichtet: Wie schön! Böcklins Toteninsel. Sie lächelt ihm zu, da löst sich etwas in seinem Gesicht wie eine Gipsmaske, die langsam zu Boden gleitet und zerbricht.

Meditatives Schießen

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