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Vorwort

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Kinder kommen als fantastische Lernwesen auf die Welt – mit großer Neugierde, Entdeckerfreude, einer hohen Frustrationstoleranz und viel Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Alles nehmen sie in die Hand oder sogar in den Mund. Immer wieder versuchen sie, nachzuahmen, was sie sehen und hören. Wie oft fallen sie hin und stehen wieder auf, bis es mit dem Laufen endlich klappt? Und dann all die Kinderfragen … In den ersten Lebensjahren ist ein erstaunliches Lernwachstum zu beobachten und das ganz ohne Stundenplan und Lehrpläne. Es braucht kein Curriculum.

Schon einige Jahre später in der Schule gibt es erschreckend viele Kinder, die bezogen auf das Lernen ihre Begeisterungsfähigkeit und das Zutrauen in das eigene Gelingen kaum noch spüren und erleben. Was also ist auf dem Weg vom kindlichen Spiel zum schulischen Lernen passiert? Wo sind die spielerischen Elemente, das Begreifen, Entdecken, die Phantasie, die Kreativität, die Unbekümmertheit, die Neugierde, Begeisterung und der Freiraum geblieben? Wenn wir das Wunder des Lernens mehr begreifen und die zündende Kraft dahinter verstehen, müssten wir nicht alles daransetzen, dass diese Erkenntnisse weitergetragen werden in jede Schule?

In den vergangenen Jahren habe ich viele Kinder und Jugendliche kennengelernt, die in sehr unterschiedlichen Bereichen Lernschwierigkeiten hatten und haben. Die Gründe dafür waren ausgesprochen vielfältig. Mal waren sie überfordert, mal unterfordert, anderen fehlten die richtigen Lernstrategien, um den Stoff sicher abzuspeichern. Bei manchen war es auch einfach so, dass sie zu dem Zeitpunkt, als grundlegender Stoff vermittelt wurde, den Kopf nicht frei hatten für die Materie, weil persönliche Ereignisse sie emotional zu sehr belasteten. So entstanden Lücken, die dringend geschlossen werden mussten. Wieder andere kamen mit den vorgegebenen Unterrichtsmethoden oder dem Lehrstil eines Lehrers nicht zurecht oder hatten genetisch bedingte Lernbeeinträchtigungen.

Kinder und Jugendliche kamen und kommen zu mir mit unterschiedlichen Diagnosen wie beispielsweise Wahrnehmungsstörungen, ADHS, Konzentrationsproblemen, Lese-Rechtschreibschwäche, Legasthenie, Hochbegabung, Dyskalkulie (Rechenschwäche), mangelnde Lernmotivation, Schulverweigerung oder Verhaltensauffälligkeiten. Vom 6-Jährigen bis zum 24-Jährigen war jedes Alter vertreten. Die Schulen, die sie besuchten, decken das ganze Spektrum ab, das die deutsche Schullandschaft zu bieten hat. Von der Förderschule bis zum Gymnasium war alles dabei.

Bei einem Großteil der Kinder und Jugendlichen, mit denen ich bisher gearbeitet habe, liegt die Ursache für Lernschwierigkeiten zusätzlich in einer stark traumatisierenden Kindheit. Sie tragen nicht nur an den emotionalen Belastungen, denen sie manchmal über Jahre hinweg ausgesetzt waren, sondern sind zudem auch nicht entsprechend gefördert worden.

Was auch immer die Gründe waren mich aufzusuchen, meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass es in jedem Menschen noch ein gewaltiges Potenzial gibt, das zu entdecken und zu nutzen ist. Das gilt für Kinder und uns Erwachsene gleichermaßen.

Jeder einzelne meiner Schüler hatte neben den Schwierigkeiten beim Lernen immer auch ganz besondere Stärken, Talente und Fähigkeiten. Darunter waren sehr außergewöhnliche Begabungen. Ein Jugendlicher, der als Analphabet zu mir kam, wurde als »Pferdeflüsterer« bezeichnet. Ein 14-jähriger Schulverweigerer war fasziniert von chinesischen Schriftzeichen und beschäftigte sich in der Freizeit freiwillig damit. Ein 8-jähriges Mädchen baute nach der Schule aus unterschiedlichen Materialien ganze Bühnenbilder. Sebastian war der Charme in Person, immer hilfsbereit und gut gelaunt, und als Bastian in dem Musical »Westside Story« hingebungsvoll das Liebeslied an Maria sang, schmolzen sämtliche Zuhörer dahin und weinten vor Rührung.

Durch die vielen gemeinsam mit Kindern verbrachten Stunden habe ich mein Wissen und meinen Erfahrungsschatz immer wieder erweitern können. Nach wie vor bin ich fasziniert davon, Neues zu lernen, entdecken und erkennen zu dürfen. Spielen gehört für mich immer dazu. Meine Schüler haben mich oft genug herausgefordert, mich mit Lerninhalten wieder auseinanderzusetzen, die auch mir in meiner Schulzeit langweilig und unnötig erschienen oder mir vorkamen wie ein Buch mit sieben Siegeln.

Auf jeden Schüler musste ich mich neu einstellen, und was bei dem einen gut funktionierte, funktionierte bei dem nächsten Schüler noch lange nicht. Das gemeinsame Suchen nach Lösungen ist dadurch zu einem wesentlichen Bestandteil meiner Arbeit geworden. Deswegen geht es in diesem Buch darum, mehr über das Lernen zu erfahren und eine differenzierte Sichtweise auf die unterschiedlichen Aspekte des Lernens zu entwickeln. Nicht alles ist auf jeden anwendbar, aber in einem sind wir alle gleich: Wir lernen am besten in einer wohlwollenden Atmosphäre, wo auf kluge Ratschläge, Besserwisserei, Ironie und Überheblichkeit verzichtet wird. Wo wir uns öffnen können für Neues.

Im Laufe der Jahre habe ich durch Vorträge viele engagierte Eltern, Lehrer und pädagogische Fachkräfte kennengelernt, die sich auf den Weg machen und selbst auch noch dazu lernen möchten. Den vielen Nachfragen nach einem Manuskript zu meinen Veranstaltungen komme ich mit diesem Buch nach. Allerdings wäre dieses Buch ohne die Unterstützung meiner Tochter Marie bis heute nicht vollendet. Da sie seit vielen Jahren gemeinsam mit mir arbeitet, fließen viele ihrer Erfahrungen mit ein, und dieses Buch ist zu unserem gemeinsamen Projekt geworden. Für die Schreibweise des Buches sind wir jedoch durchgehend bei der Ich-Form geblieben, um den Lesefluss nicht unnötig zu erschweren.

Der erste Teil des Buches befasst sich mit den allgemeinen Gedanken zum Thema Lernen mit Kindern: Was ist die Grundlage für ein entspanntes Lernen? Was gilt es darüber zu wissen? Wie funktioniert unser Gehirn? Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich konkret mit Aspekten, die Kinder beim Lesen, Schreiben und Rechnen Schwierigkeiten bereiten, also den Stolpersteinen. Er enthält viele praktische Tipps dazu, wo man besonders bei den Grundkompetenzen ansetzen kann, um die Kinder zu unterstützen und ihnen mehr Sicherheit zu geben.

Mein Leben ist durch die Arbeit, die ich mache, sehr bereichert worden. Ich habe eine Menge darüber gelernt, wie das Lernen funktioniert – und lerne noch immer. Es ist einfach eine große Freude, dazu beitragen zu können, dass dieses Potenzial, das in den Kindern schlummert, ans Licht kommt. Glauben Sie mir, meine besten Erkenntnisse stammen nicht aus Büchern, sondern von all den Kindern und Jugendlichen, die ich in den letzten Jahren kennenlernen durfte.

Jutta Gorschlütter

Wenn Lernen schwierig ist

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