Читать книгу Wenn Lernen schwierig ist - Jutta Gorschlüter - Страница 8

1 Spielend lernen – Spielräume erweitern

Оглавление

Ich wollte immer, dass meine Kinder vor allem eines sind: zufrieden und glücklich. Selbstständig sollten sie sein und kreativ, sich frei fühlen und gleichzeitig lernen, Hindernissen nicht aus dem Weg zu gehen und Krisen als Chance nutzen, um zu wachsen. Sie sollten entscheidungsfreudig sein. Ich habe mir gewünscht, dass sie ihr Potenzial ausschöpfen und dass sie einen Sinn in ihrem Leben sehen. Bei der Frage nach dem »Wie« bin ich in die gleiche Falle getappt wie viele Eltern. Ich habe mich dabei erwischt, dass ich viele Ideen hatte, wie das Leben meiner Kinder später konkret aussehen könnte. Ich glaubte ja, ihre Talente und ihre Veranlagungen zu sehen, und auf diesem Hintergrund schlich sich die eine oder andere Vorstellung bei mir ein, dies oder jenes könnte doch später vielleicht ein guter Beruf sein. Ich glaubte zu wissen, was meinen Kindern liegt und die Richtung zu kennen, in die es gehen könnte. Ich hatte keine genauen Pläne, aber Vorstellungen.

Rückblickend kann ich nur sagen, dass das, was meine inzwischen erwachsenen Kinder heute ausmacht, womit sie sich beruflich und privat beschäftigen, die Bereiche, in denen sie zufrieden und erfolgreich sind, definitiv nicht einmal annähernd auch nur als Idee auf meiner langen Liste vorkamen. Noch schlimmer, sie kamen nicht nur auf meiner Liste nicht vor, sie existierten nicht einmal als Möglichkeit in meinem Kopf. Wenn wir also vielleicht gar nicht so genau planen und absehen können, wie unsere Kinder ihr Leben gestalten werden, was können wir ihnen dann mitgeben? Wie müsste die Bildung für unsere Kinder aussehen? Was brauchen sie von uns, um in dieser Welt bestehen zu können?

Die Antwort ist relativ einfach. Das Wichtigste, was Kinder zum Lernen benötigen, ist ein sicherer Hafen, ein sicheres Umfeld, Menschen, die eine intensive Beziehung zu ihrem Kind haben, ihnen Sicherheit geben. Eltern oder Gemeinschaften, die sich verbunden fühlen mit dem Kind, ihm etwas zutrauen und es inspirieren. Die es so annehmen und lieben, wie es ist. Das ist die Basis von allem. Der wichtigste Ort zum Lernen ist also die Familie, in der ein Kind seine Wurzeln nach unten strecken darf, um Halt zu bekommen, um sich dann nach oben entfalten zu können. In diesem sicheren Umfeld erleben Kinder die wichtigsten Lektionen des Lernens. Sie dürfen sein – sich entdecken – versuchen – ausprobieren – nachahmen – staunen – Spielräume erleben und … spielen, spielen, spielen.

Im Spiel lernen Kinder unglaublich viel. Es ist ein Irrglaube, Spielen und Lernen seien zwei getrennte Dinge. Lernen ist ebenso wenig an die Schule und Tausende von Arbeitsblättern gebunden wie Spielen nur an speziell für Kinder vorgesehene Spielzeuge. Kinder, die ihre Entdeckerfreude ausleben dürfen, die von den Erwachsenen gesehen und ernst genommen werden, die sich begeistern können und sich anstecken lassen von der Begeisterung anderer, die sich gemeinsam kreativ auf den Weg machen, haben die beste Chance, ihr Potential zu entfalten, kreative Lösungen zu finden und neue Wege zu wagen.

Allerdings werden junge Eltern heute immer früher verunsichert und verspüren den Drang, in die Selbstentfaltung der Kinder einzugreifen. Dabei laufen sie Gefahr, statt Freiräume im Spiel zuzulassen, Impulse zu geben und auf kindliches Interesse zu reagieren, zu steuern und zu manipulieren. Das ist auch kein Wunder, werden sie doch von allen Seiten überschüttet mit Ratschlägen, die ihnen auflisten, was ihr Kind wann alles können oder haben müsse, um sich bestmöglich zu entwickeln. Auf MamaBlogs sind strahlende Mütter zu sehen, durchgestylt, ausgestattet mit Unmengen an Kreativität und Gelassenheit. Glückliche Kinder, die in die Kamera lächeln und natürlich das selbstgebastelte Spielzeug der Mama dankbar als Anreiz nehmen, um intensiv damit zu spielen. Und das Fazit heißt #Musthaves.

Ich beneide die jungen Eltern wirklich nicht, wenn man die Flut an Informationen bedenkt, die auf sie einprasseln. Beim Kinderarzt, im Kindergarten, in der Spielgruppe: Die Verunsicherung wird untereinander zusätzlich genährt durch ständiges Vergleichen, ob das Kind dies oder das auch schon könne, und das Vorführen der Kinder, zu zeigen, was er oder sie schon alles kann. Sicher wollen alle Eltern nur das Beste für ihre Kinder. Die Frage ist nur: Was ist das Beste und ist das Beste planbar?

Die Wirklichkeit sieht so aus, dass schon recht früh in den Köpfen vieler Eltern der Wunsch vorherrscht, dass ihre Kinder einen guten Beruf erlangen sollen, d.h. eine gute Bildung benötigen, d.h. einen guten Schulabschluss, d.h. gute Noten in der Schule, d.h. eine frühe Förderung … damit all das gelingen kann. Was also ist der naheliegendste Gedanke für viele Eltern? Ganz einfach: »Man kann nicht früh genug anfangen!« In diesem Denk-Dilemma stecken viele Eltern unbewusst, da sie den Konkurrenzkampf in unserer Leistungsgesellschaft mitbekommen und sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder machen. Eltern möchten das Beste für ihr Kind. Doch was ist dieses »Beste«?

Verunsicherungen dieser Art kenne ich auch:

Mein ältester Sohn bekam mit 4 Jahren Krankengymnastik verschrieben, was bedeutete, dass ich zwei Kinder, nämlich meinen Sohn und seine ein Jahr ältere Schwester, ins Auto packen musste, um in den 25 Minuten entfernten Nachbarort zu fahren. Dort musste ich meinen Sohn umkleiden und dann mit ansehen, wie er zunächst einmal 10 von den kostbaren 25 Minuten, die ihm verschrieben wurden, damit verbrachte, an meinem Hosenbein zu kleben, nur damit er dann mit viel Überredungskunst nach 10 Minuten lustlos und unmotiviert begann mitzumachen. Die junge Frau wollte seinen Gleichgewichtssinn trainieren, und dazu sollte mein Sohn über unterschiedliche Kissen und Hindernisse laufen, die sie im Raum verteilt hatte. Nach dem 4. Termin traf ich eine Entscheidung und meldete ihn ab. Das musste doch auch mit mehr Begeisterung und geringerem Aufwand für mich als Mutter gehen. Also gingen wir häufiger in den Wald und jedes Mal querfeldein. Das bedeutete: Hinsehen, die Füße heben, Hindernisse wie Äste und Baumstämme übersteigen, balancieren auf Baumstämmen und sich den unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten anpassen. Wir hatten Spaß, und ganz nebenbei trainierte mein Sohn seinen Gleichgewichtssinn.

Was mich damals ermutigt hat, diese Entscheidung so zu treffen, ist eigentlich ein offenes Geheimnis. Ich habe auf meinen Bauch gehört und das sollten Eltern häufiger tun.

Manchmal wird uns Erwachsenen der Blick für das Wesentliche verschleiert, weil wir Angst vor dem möglichen eigenen Versagen haben oder weil wir glauben, nicht genug getan zu haben. Wenn wir den Schleier der Angst, der beständig »Aber, aber, aber…« ruft, ignorieren oder zur Seite schieben, bin ich sicher, dass es in den Antworten von Eltern einen Konsens gibt: Wir möchten, dass unsere Kinder zufrieden und glücklich sind und dass sie eine positive Lebenseinstellung haben.

Ich habe über die Jahre viele Eltern kennengelernt, die kamen und erzählten, dass ihr Gefühl ihnen sagte: »Da stimmt etwas nicht. Mein Kind versteht viele Dinge nicht und ich glaube, da versteckt sich mehr dahinter.« In den meisten Fällen stimmte das Bauchgefühl der Eltern, und entweder waren die Kinder maßlos überfordert, unterfordert, kamen mit den Inhalten nicht zurecht oder hatten andere Schwierigkeiten. Diese Eltern sorgten sich und spürten, dass ihre Kinder sich veränderten, unzufrieden wurden und litten. Wenn Eltern eine gesunde Beziehung zu ihren Kindern haben, ist das Bauchgefühl oftmals ein sehr guter Gradmesser.

Das Bauchgefühl von Eltern wahrzunehmen und ihm zu vertrauen, heißt nicht zwangsläufig, dass Pädagogen sofort eine Lösung für die Schwierigkeit des Kindes präsentieren können und müssen. Doch Pädagogen sollten hier sensibel und feinhörig sein und ihr Unterscheidungsvermögen schulen. Denn das schrittweise Suchen von Lösungen ist ein wichtiger Baustein des Lernens. Das gilt auch für uns Erwachsene.

Auch ich erlebte in den letzten 25 Jahren immer wieder Situationen, in denen ich mir und meinem Gegenüber eingestehen musste, dass ich keine sofortige Lösung griffbereit hatte. Aber genau durch diese Herausforderungen fielen mir neue kreative Wege ein und ich habe am meisten hinzugelernt.

Grundsätzlich ist es so: Ein Kind möchte gesehen werden und das heißt im schulischen Kontext, dass es dort Menschen geben muss, die das Kind wahrnehmen und als Subjekt behandeln. Angesprochen sind damit alle Personen, die Lernprozesse begleiten. Beziehung ist aber nicht gleich Beziehung. Hinter einer Äußerung wie: »Ich habe nichts gegen das Kind!« steht sicherlich keine ausreichend positive Grundeinstellung dem Kind gegenüber. Gemeint sind wirklich wohlwollende Beziehungen. Beziehungen, die Kinder motivieren, die Welt zu entdecken und zu erobern. Das kann die Welt der Zahlen und Wörter, der Sätze und Geschichten sein, die Welt der Tiere, Entdeckungen, der Musik und des Sports. Wenn Begeisterung ins Spiel kommt, steigert das die eigene emotionale Beteiligung, und diese wird zu einer zündenden Kraft. Genauso lernen Kinder im Spiel.

Im spielerischen Lernen ist der Moment, in dem ein Aha-Effekt passiert, nicht planbar.

Jasper ist 6 Jahre alt und bei uns zu Besuch. In tiefe Gedanken versunken schaut er aus dem Fenster und beobachtet einen Möbelwagen, der vor einem Mehrfamilienhaus parkt. Nach und nach tragen zwei Männer mehrere Möbel in den Wagen. Plötzlich dreht Jasper sich zu mir um und fragt nachdenklich: »Wenn einer eine Wohnung hat und dann umzieht, dann zieht doch ein Neuer ein, oder?« »Ja«, antworte ich, »dann kann die Wohnung neu vermietet werden und ein anderer zieht dort ein.« Eine kurze Pause entsteht, und Jasper schlussfolgert weiter: »Aber der hat doch vorher auch eine Wohnung gehabt? Zieht dann da auch wieder ein Neuer ein?« »Ja«, antworte ich, »auch in diese Wohnung zieht dann wieder jemand anderes ein.« Wiederum denkt Jasper einen Moment nach, dann setzt er seine Gedanken laut fort: »Aber wenn einer umzieht, und dann noch jemand und noch jemand, dann …« Er seufzt und sagt mehr zu sich selbst: »Dann ist ja die ganze Welt in Bewegung!«

Wie diese Geschichte zeigt, verlaufen diese Aha-Momente nicht immer laut und spektakulär. Es passiert einfach, aber jedes Mal, wenn es passiert, ist das beglückende Gefühl, das damit verbunden ist, gleichzeitig auch der innere Antrieb weiterzumachen.

Was bedeutet das aber für das schulische Lernen? Heißt das, dass Erfolge nicht planbar sind? Bis zu einem gewissen Grad sind sie tatsächlich nicht planbar, doch je mehr wir über die Lernprozesse wissen, desto mehr können wir die Lern- bzw. Spielräume gestalten. Immer da, wo Kinder als vollständige Persönlichkeiten gesehen werden und emotional beteiligt sind, wird der Nährboden für solche Aha-Effekte bereitet.

Meine Schülerin Samira, die eine Rechenschwäche hat, kann sich einfach nicht merken, wie viele Monate ein Jahr hat. Sie verwechselt dabei häufig die Anzahl der Wochentage, die Anzahl der Tage eines Monats oder sie rät einfach: »Zwanzig? Dreißig?« Wenn ich Samira frage, ob sie eine Möglichkeit weiß, sich hier weiterzuhelfen, nickt sie und beginnt sich das Lied von Rolf Zuckowski »Die Jahresuhr« vorzusingen. Dabei zählt sie mit den Fingern die gesungenen Monate ab.

Nachdem sie sich seit Wochen die Anzahl der Monate nicht sicher merken konnte, schaut sie mich enttäuscht an und seufzt: »Ich bin echt dumm, dass ich mir das nicht merken kann!« »Aber nein,« erwidere ich, »mir ist einfach auch noch keine gute Idee gekommen, wie man sich das besser merken kann.«

Zum Glück aber kam mir die passende Idee an einem der nächsten Tage. In der nächsten Stunde erzähle ich Samira davon: »Weißt du, ich kenne das Lied ›Die Jahresuhr‹ mit den Monaten jetzt schon seit vielen Jahren, aber ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, warum Rolf Zuckowski das Lied ›Die Jahresuhr‹ genannt hat.« Ich nehme eine große Uhr zur Hand und fordere Samira auf: »Sing doch bitte einmal das Lied und starte beim Januar mit deinem Finger oben auf der Uhr bei null Uhr. Mit jedem Monat, den du singst, gehst du mit dem Finger eine Zahl weiter auf der Uhr. Mal sehen, wo du ankommst.«

Erstaunt stellt Samira fest, dass sie genau wieder oben bei der 12 ankommt nach einem Jahr auf der Jahresuhr. Wir drehen noch eine Runde auf der Uhr mit dem Lied, um sicher zu sein, dass das kein Zufall war, dass es genau 12 Monate sind – genau wie die Zahlen auf der Uhr.

Und tatsächlich: Wieder landet Samira bei der 12. »Ach so«, höre ich sie plötzlich lachen. »Das ist ja ganz einfach. Das Lied heißt ›Die Jahresuhr‹, weil in einem Jahr so viele Monate sind wie große Zahlen auf der Uhr. Dass 12 Zahlen auf der Uhr sind, weiß ich ja. Dann weiß ich ja auch, wie viele Monate es gibt.«

Als Samira in der nächsten Woche kommt, frage ich sie im Verlauf der Stunde, ob sie noch weiß, wie viele Monate ein Jahr hat. Sie sagt mit ernstem Gesicht: »Dreizehn?«, dann grinst sie und sagt: »Scherz! Natürlich zwölf!«

Wenn man sich mit dem Lernen beschäftigt, stellt sich zwangsläufig die Frage: Ist unser Schulsystem in seiner jetzigen Form wirklich geeignet, um junge Menschen auf die Veränderungen des Lebens, so wie sie auf sie zukommen, genügend vorzubereiten? Ein grundlegendes Umdenken würde zwangsläufig wesentliche Veränderungen im Schulsystem nach sich ziehen müssen, die zum Teil lange überfällig sind.

Die Frage, die sich mir stellt, ist folgende: Wie können wir das Gefühl einer Schul-Pflicht wandeln in das Gefühl einer Schul-Chance? Kinder gehen erwartungsvoll in die Schule, sie wollen Lesen und Schreiben lernen, sie wollen mit Zahlen umgehen können, und die meisten von ihnen haben spielerisch schon die ersten Erfahrungen damit gesammelt. Gerade noch haben sie gespielt, und jetzt mit der Schule beginnt der »Ernst des Lebens«. Das sollte so nicht sein. Das Spiel sollte weitergehen, das Lernen sollte auch weiterhin eng mit dem Gefühl des Entdecken-dürfens verbunden sein, dem Wissen, dass ich in meinem eigenen Tempo und auf meine Art lernen darf, dem Vertrauen darauf, dass man mich mit meinen Stärken sieht und mich darin unterstützt, so zu lernen, wie es für mich am leichtesten ist.

Ich habe in meiner Praxis mehrere Tausend Kinder kennen gelernt, und sie alle waren so verschieden. Da gibt es die, die entspannt vom Klassenverband Anschluss finden und sich in einer Gruppe wohlfühlen. Doch es gibt auch die Individualisten, die Anders-Denker, die Dinge viel mehr hinterfragen, die kein »Gruppentyp« sind. Es gibt die, die Dinge gerne selbst gestalten und entscheiden, wie der Weg aussehen soll, den sie gehen. Es gibt auch die, die es – unabhängig von der Erziehung – eher zu schätzen wissen, wenn man ihnen eine Richtung vorgibt und sie sich an festen Strukturen orientieren können. Kinder sind geprägt durch sehr unterschiedliche Erfahrungen, sie haben unterschiedliche Charaktere und Talente. Daneben bringt jedes Kind seine individuelle Geschichte mit, verbunden mit all den Erfahrungen, die es im bisherigen Leben gemacht hat. Manche haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen oder sehen sich ständig Herausforderungen gegenübergestellt. All diese wunderbar verschiedenen Kinder haben ihre Berechtigung und sollten die Chance haben, mit ihrer Art im Schulsystem angenommen und gesehen zu werden. Sie sollten vielfältige Impulse bekommen und inspiriert werden, ihre ganz individuelle Art zu leben. Sie sollten spielend lernen dürfen und Lernen als Chance erfahren.

Was wir wollen, sind lebensfrohe, selbstbewusste Kinder. Kinder, die sich etwas zutrauen. Kinder, die ihr Potenzial entfalten, die zu verantwortungsvollen Menschen heranreifen. Kinder, die die Welt mit allem entdecken, die die Welt mitgestalten und Verantwortung für sich und andere übernehmen. Damit dies gelingt, müssen wir die Kinder nicht nur abholen, wo sie stehen, sondern wir müssen sie auch wahrnehmen mit allen ihren Eigenschaften und persönlichen Nuancen.

Doch was bedeutet das ganz konkret?

Noah hat einen extrem hohen Bewegungsdrang. Es gelingt ihm in der Schule nicht, länger als 5–10 Minuten auf dem Stuhl zu sitzen. Seine Konzentration bei schulischen Aufgaben ist ausgesprochen schlecht. Es dauert manchmal ewig, bis er anfängt, sein Durchhaltevermögen ist gering und schnell wendet er sich immer wieder neuen und interessanteren Dingen zu, erledigt die Aufgaben flüchtig oder gar nicht.

Hinzu kommt seine mangelhafte Feinmotorik, und überhaupt scheinen all seine Bemühungen nicht zu einem zufriedenstellenden Erfolg zu führen. Er erwartet schon gar nicht mehr, dass er es lernen wird, er hält sich für zu dumm. Konzentrationsprobleme und ADHS stehen als Diagnose im Raum. Aber kann er sich wirklich nicht konzentrieren?

Steht Noah als Torwart auf dem Fußballfeld im Tor, ist er großartig. Stundenlang ist er hochkonzentriert, wenn er auf dem Fußballfeld trainiert. Jedem ankommenden Ball springt Noah mit unfassbarer Genauigkeit entgegen und fängt ihn mit großer Geschicklichkeit. Und Noah ist richtig gut. Was er hier auf dem Platz zeigt, hat schon ein sehr hohes Level.

Aber sich beim Lesen und Schreiben zu konzentrieren ist eine Qual für ihn. Rechnen und Zahlen hingegen mag er, aber bitte nicht auf einem Arbeitsblatt, auf dem er wieder einen Stift in die Hand nehmen muss. Also starten wir ohne Stift und Papier. Noah hat in dieser gemeinsamen Lerntherapiestunde wieder einmal die Fünf-Minuten-Grenze geknackt und fällt vom Stuhl. Aber die Annahme, dass dies bedeutet, dass er nicht mehr lernen will, stimmt nicht. Auf meine Frage, ob ich ihm Rechenaufgaben stellen soll, während er seinen Körper bewegt, antwortet er sofort mit ›Ja‹ und fügt hinzu: »Aber nicht so leichte wie letztes Mal.« Noah liegt also neben dem Tisch auf dem Boden und dreht seinen kleinen Körper um die eigene Achse. Und das mit hoher Geschwindigkeit. Mir wäre schon längst schwindelig geworden, ihm aber nicht. Ich nenne die erste Aufgabe, und was man jetzt beobachten kann ist, dass er manchmal, wenn die Antwort nicht ganz automatisch kommt, kurz innehält mit seinen Bewegungen, überlegt, die Antwort sagt und dann erleichtert seinen Körper wieder in Fahrt bringt.

»Fällt« Noah in der Schule aufgrund seiner körperlichen Unruhe vom Stuhl, gibt es die Erlaubnis, nach draußen zu gehen und sich auf dem Schulhof zu bewegen. Im zweiten Schuljahr erhält er einen I-Helfer, der mit ihm herausgeht. Allerdings haben die vielen Unterbrechungen und seine Abwesenheit im Klassenverband schon jetzt dazu geführt, dass er vieles nicht mitbekommen hat. Die Lücken zu den Gleichaltrigen werden somit auch durch die fehlende Anwesenheit noch größer. Er hinkt also ziemlich hinterher und seine Motivation, Lesen und Schreiben zu lernen, sinkt. Obwohl … können möchte er es schon.

Noah ist ein typisches Beispiel dafür, dass die Motivation sinkt, wenn sich der Erfolg, den ich erwarte, einfach nicht spürbar einstellen will. Hinzu kommt jedoch noch ein weiteres Problem. Da Noahs Verhalten nicht angepasst erscheint, muss er sich ständig ermahnende Sätze anhören, wie: »Jetzt fang doch mal an!« oder »Noah, die Ansage gilt auch für dich!«

Das Problem in der Schule sind für Noah unter anderem auch die vielen Reize, die bei ihm zu einer permanenten Reizüberflutung führen. Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, fällt ihm in der Schule schwer. Auf dem Fußballplatz und in anderen Zusammenhängen gelingt ihm dies jedoch durchaus. Eine kleinere Lerngruppe mit mehr Bewegungselementen und mehr Spielen und kürzere Lerneinheiten wären toll für ihn. Daneben Aktionen, bei denen er sich in seinem Tempo und in seinem Element erfahren darf.

Um die noch fehlenden Buchstaben abzuspeichern, habe ich gemeinsam mit Noah ein Würfelspiel entwickelt, das nicht länger als 10 Minuten dauert. Ok, der Würfel landet anfangs nie auf dem Tisch, sondern kullert 100 Male unter den Tisch, was Noah aber nichts ausmacht. Würfeln findet er auf jeden Fall spannend. Überhaupt setzt er sich gerne Anreize, wie »Vielleicht schaffe ich es, dreimal eine Sechs hintereinander zu würfeln.« Man kann zusehen, wie er versucht, sich selbst einen spürbaren Kick zu verschaffen. »Zehn Rechenaufgaben, ohne dass ich mich vertue, dann 15 Aufgaben …« Schafft er das sich gesetzte Ziel, erhöht er die Messlatte, versucht es noch mal und zwar höher, länger, weiter. So spornt er sich selbst an. Noch ein Level, dann das nächste Level. Nachdem ich das erkannt hatte, ließ ich ihn selbst das nächsthöhere Level festlegen. Durch das Einteilen in Level oder eine Anzahl von Aufgaben nimmt er seine Fortschritte besser wahr, und es braucht keine Kriterien von außen, um ihn weiter anzuspornen. Er kann seine Erfolge wahrnehmen und entsprechend feiern.

Lesen übt Noah, indem er seinem Hund vorliest, sich dazu eine Höhle baut oder es sich auf dem Sofa gemütlich macht.

Inzwischen hat Noah auch viele Wörter schreiben gelernt. Ca. 40 am Tag. Wo? Auf dem Trampolin! Ein Erwachsener hat ihm ein Wort auf einer Karte hingehalten und gezeigt, z.B. das Wort »Mond«. Sofort fängt Noah an zu springen und buchstabiert das Wort »M-o-n-d«. »Nächstes«, ruft er, hält kurz inne, und das nächste Wort ist an der Reihe. Stundenlang kann er dies tun und zeigt dabei eine enorme Ausdauer.

Und eines Tages beginnt er von alleine, die Wörter auf ein Papier zu schreiben, und fragt nach den schulischen Aufgaben. Seine Fähigkeiten sind jetzt so weit gereift, dass er beginnt, das Spiel »Ich sporne mich selbst an und setze mir ein Ziel« (z.B. in Schreiblinien zu übertragen, zwei Reihen schreiben) auf das Schreiben zu übertragen. Und siehe da, der erwartete Erfolg stellt sich ein, und Noah ist mit sich zufrieden.

Wie Kinder sich im Spiel selbst anspornen, kann man immer wieder beobachten. Sicher kennen Sie Spiele, bei denen man versucht, einen Ball zehn Mal auf dem Fuß zu kicken, ohne dass er herunterfällt. Schafft man es sicher mehrmals hintereinander, setzt man die Messlatte höher. »Ob ich es wohl auch 15 Mal schaffe?«

Sei es Fußballkicken, Jonglieren, Wurfspiele, Musizieren, Skaten, Tanzen – überall ist dieser innere Ansporn zu beobachten, wenn Kinder sich für etwas begeistern oder wenn sie durch die Wiederholung erwarten können, dass sich ein Erfolg einstellt. Dieser Erfolg, den wir erwarten, ist ein wesentlicher Aspekt des Lernens, denn er ist für die innere Motivation zuständig. Ohne Erfolgserlebnisse würden wir aufgeben, die Lust verlieren, uns verweigern, Ausreden nutzen, keine Motivation mehr haben – genauso geht es vielen Kindern, die im starren Schulsystem untergehen. Was aber, wenn niemand erkennt, wo ich gerade stehe, wenn von mir als Kind verlangt wird, Aufgaben zu lösen, für die mir die Grundvoraussetzungen fehlen? Was, wenn es mir nicht gelingt, die Aufgaben selbstständig zu lösen?

Sofern dem nicht bereits viele Misserfolgsmomente vorangegangen sind, beginnen die Kinder sich nun anzustrengen, doch es will ihnen oft nicht gelingen. Wenn ihnen dies wiederholt passiert, bleiben sie in der Erfahrung stecken »Ich schaffe es nicht!« – »Ich bin zu dumm, um Lesen oder Schreiben zu lernen!« Dieser Gedanke setzt sich im Kopf der Kinder fest. Sie verlieren den Glauben daran, dass sie etwas bewirken und erfolgreich sein können. Je nach Charakter fangen sie an, innerlich und äußerlich zu rebellieren oder sich zurückzuziehen.

Manchmal erkennen wir diese Kinder in anderen Situationen kaum wieder und staunen, wenn wir sie in einem anderen Zusammenhang erleben: Beim Einrad fahren, in einer Zirkus AG, beim Klavier spielen, beim Malen, auf dem Fußballfeld oder beim Eislaufen. Zumindest hier erleben sie dann hoffentlich, dass Lernen und Begeisterung zusammengehören. Zum Glück gibt es aber auch Kinder mit einem gesunden Selbstbewusstsein, die Misserfolgen in der Schule eine nicht so große Bedeutung beimessen, gerade weil sie ihr Potenzial in Freizeitaktivitäten oder bei anderen Aktivitäten erleben und ausschöpfen.

Kinder, denen das schulische Lernen nicht so leichtfällt, machen bezogen auf schulische Lerninhalte meist wenig positive Erfahrungen. Sie wiederholen und wiederholen, doch der erwartete Erfolg bleibt aus. Sie werden angehalten, weiter zu üben, doch sie treten auf der Stelle – tage-, wochen- und monatelang.

Lassen Sie uns im Alter der Kinder einen Schritt zurückgehen: Wie würde ein 2-jähriges entspanntes Kind beim Spiel reagieren, wenn ihm etwas wiederholt noch nicht gelingt? Es würde es noch ein paar Mal versuchen und dann vielleicht das Spielzeug zur Seite legen und zu einem späteren Zeitpunkt erneut einen Versuch starten. Es würde vermutlich intuitiv spüren, dass der Zeitpunkt noch nicht der richtige war, um sich mit dieser Sache zu beschäftigen. Oder es würde das Spielzeug einer anderen Person geben und diese bitten, es zu tun. Das Empfinden »Ich kann das noch nicht« als Wertung existiert dabei überhaupt nicht in ihren Köpfen.

Mein Enkel ist gerade 2 Jahre alt geworden und liebt das Polizeiauto aus Lego. Sein Spiel sieht seit Wochen immer gleich aus. Akribisch baut er das Dach ab, dann die Vorder- und Heckscheibe, nimmt das Männchen hinaus und entfernt noch die Seitenwände. Dann schaut er sich das Auto interessiert an und versucht, die Teile wieder zusammenzufügen. Das will ihm aber mit seinen kleinen Fingern noch nicht gelingen. Also hält er es mir hin, und ich baue es vor seinen Augen langsam wieder zusammen. Dabei beobachtet er den Vorgang immer wieder. Ich bin überzeugt, eines Tages, wie aus heiterem Himmel, wird es ihm gelingen und sein kleines Gesicht wird strahlen.

Natürlich hätte ich auch anders reagieren und das Spielzeug zur Seite legen können, denn die Altersangabe sagt doch, es sei erst ab 4 Jahren geeignet. Oder ich hätte ihm sagen können: »Dafür bist du noch zu klein.« Mit beiden Reaktionen hätte ich ihn in seinem Entdeckergeist gebremst. Spannend zu beobachten ist, dass mein Enkel dieses Vorgehen mit dem Lego Auto, das wir gemeinsam durchlaufen, als Spiel erlebt und deswegen auch überhaupt nicht angespannt wirkt.

Wie aber sieht das bei einem Schulkind aus?

David ist 7 Jahre, er besucht die erste Klasse, und als ich ihn kennen lerne, neigt sich das Schuljahr gerade dem Ende zu. David hat in diesem Schuljahr nur 2 Buchstaben abspeichern können, er hinkt laut Aussage des Lehrers schon jetzt deutlich hinterher. Aber es hat ja noch Zeit. Die Schuleingangsphase ist ja noch lange nicht beendet. David darf angeblich in seinem eigenen Tempo lernen, d.h. er bekommt immer wieder Arbeitsblätter mit Lauten oder Bildern, denen er Laute zuordnen soll. Dabei muss David natürlich auf dem Stuhl sitzen und seinen Bewegungsdrang unterdrücken. Er fällt mehr und mehr durch störendes Verhalten auf und muss nach Aussage des Lehrers ständig ermahnt werden.

David schaut sich bei mir alle Buchstaben interessiert an, und als ich ihm erzähle, dass es viele lustige Spiele gibt, fragt er sofort nach, welche das sind. Wir können mit den Buchstaben bauen, wir können ein Versteckspiel machen oder ein Memory Spiel oder, oder, oder … David ist interessiert und entscheidet sich für das Versteckspiel, und so beginne ich eine Lautkarte im Raum zu verstecken. Wo habe ich das »N« versteckt. David sucht und ruft den Laut, wenn er ihn gefunden hat. Auch ich benenne die Laute immer wieder im Spiel. Und David, er spielt und spielt und lernt dabei ganz nebenbei. Nach einer Weile beschließt er, dass wir jetzt lieber bauen sollen, und so wechseln wir das Spiel und bauen mit Holzklötzen, auf denen auch Buchstaben stehen. Wir bauen gemeinsam und wieder werden Laute benannt.

Sicher könnte man nun den Einwand bringen, dass Lehrer je nach Lernstand individuelle Aufgaben stellen. Ja, aber wie schon gesagt, viel zu oft in Form von Arbeitsblättern. Ein Wust von Arbeitsblättern, die zum Teil vollkommen überflüssig und kontraproduktiv sind, oft überhaupt nicht an dem Lernstand und dem Lernbedürfnis der Kinder ansetzen und tatsächlich in ihrem Aufbau häufig eher lernhemmend sind, weil sie gewisse Erkenntnisse darüber, wie unser Gehirn lernt, schlicht nicht berücksichtigen. Bei meinem Spiel mit David haben wir Laute wiederholt benannt, geraten und gerufen. Welches Arbeitsblatt bitte kann denn das? David war mit allen Sinnen beim Spiel, er war emotional beteiligt. Dadurch gelingt ihm das Einprägen leichter. Welches Arbeitsblatt aber sprüht Funken der Begeisterung aus und erlaubt eine emotionale Beteiligung?

Ich will nicht grundsätzlich alle Arbeitsblätter verteufeln, doch sie dürfen nicht das spielerische Lernen ersetzen. Zu oft werden sie als reine Beschäftigungstherapie eingesetzt.

Lena hat eine Rechenschwäche und jede Form von Arbeitsblättern mit Zahlen sind ein Graus für sie. Schon beim Anblick eines Arbeitsblattes mit Zahlen sackt sie in sich zusammen und stöhnt. Aber es nutzt nichts. In der Schule wird sie täglich mit genau solchen Arbeitsblättern konfrontiert. Als erstes verspreche ich ihr also: Bei mir gibt es erstmal keine Arbeitsblätter, und du entscheidest, wann du eins ausfüllen möchtest.

Dennoch entdecken wir die Welt der Zahlen: Wochenlang beschäftigen wir uns mit Mengen, Zählen, Bündeln, nutzen Spielkarten, Karteikarten … Dann kommt Tag X. Ich habe ein Arbeitsblatt vorbereitet, auf dem Aufgaben stehen, die Lena mit absoluter Sicherheit inzwischen beherrscht. Ich kündige Lena an, dass ich uns etwas zu trinken holen werde, lege das Arbeitsblatt auf den Tisch und sage ihr, dass sie sich in der Zwischenzeit das Arbeitsblatt gerne ansehen kann, füge aber hinzu, dass sie es nicht rechnen muss. Da passiert folgendes: Lena schaut neugierig auf das Arbeitsblatt, erkennt sofort, dass sie alle Aufgaben mit Leichtigkeit lösen kann, und als ich das Zimmer wieder betrete, ist sie schon fast fertig mit allen Aufgaben. Stolz schaut sie auf und sagt: »Hast du noch so ein Arbeitsblatt?«

In diesem Fall war das Arbeitsblatt sinnvoll, denn es diente rein der Wiederholung des Gelernten und führte darüber hinaus zur Festigung dieses Aufgabentypus. Auf diese Weise hatte Lena es schwarz auf weiß: »Ich kann diese Aufgaben rechnen«, und erlebte es jetzt als Erfolgserlebnis.

Je mehr Wiederholungen ein Kind dabei benötigt, um eben ein solches Erfolgserlebnis zu haben, also um Lerninhalte automatisiert abzuspeichern, desto kreativer müssen die Angebote sein, desto größer muss der Spielraum sein. Dieser Prozess unterliegt bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Hier braucht es Beziehung, Spielräume, Spiele, Bewegung, gute Laune, Spaß, Humor und manchmal auch einfach lustige Quatschaktionen – und die Verknüpfung unterschiedlicher Lerninhalte. Und all diese Dinge gehören dringend in die Lehrerausbildung. D.h. angehende Lehrer sollten Meister im Spielen und Inspirieren sein. Viele Erkenntnisse, die das Lernen betreffen, sind meines Erachtens in der Schule noch gar nicht angekommen.

Ich wurde als Referentin eingeladen, zum Thema »Wenn Lernen nicht so einfach ist« zu sprechen. Anwesend waren ca. 100 Personen, die alle als Schulsozialpädagogen/innen in der Schuleingangsphase Kinder unterstützen und begleiten. D.h., die Kinder, die von ihnen betreut werden, sind in der Regel zwischen 6 und 8 Jahre alt. Die Veranstalter baten die Teilnehmer, interessante und wichtige Unterlagen oder Materialien aus ihrer Arbeit mitzubringen und diese für alle zugänglich auf einer langen Tischreihe auszulegen.

Das Resultat waren 90 % Arbeitsblätter, Kopiervorlagen, Hefte, Fachliteratur und nur maximal 5–10 % Materialien zum Spielen, Begreifen und Ausprobieren.

Mein Fazit und meine Bitte an die Teilnehmer lautete daher: Bei der nächsten Veranstaltung 90 % spielerisches Material, Dinge zum Begreifen und weniger Arbeitsblätter.

Dazu ein Beispiel: Um die Uhrzeit zu lernen, gibt es zig Arbeitsblätter, in denen Kinder die Zeiger einzeichnen sollen, um so die Uhrzeit zu lernen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich in den letzten 40 Jahren irgendwo in meinem Alltag Zeiger in Uhren auf dem Papier einzeichnen musste. Spannender wäre es, eine Uhr in der Hand zu haben und damit experimentieren zu lassen, dann Zeiten einzustellen usw. Oder: Jedes Kind der Klasse bringt von Zuhause eine Uhr mit, um gemeinsam die Vielfalt an Uhren zu vergleichen.

Es gibt leider tausende Beispiele, bei denen Arbeitsblätter als eine Art Beschäftigungstherapie eingesetzt werden.

Mein 9-jähriger Schüler kommt aus der Schule und erzählt mir, dass die Lehrerin ihm einen Zettel mitgegeben hat. Auf dem steht: Max beherrscht das Thema Adjektive noch nicht! Aber stimmt das wirklich? Ich äußere den Verdacht, dass er viel mehr über Adjektive weiß, als er glaubt. Er guckt mich erstaunt an. »Und – soll ich es dir beweisen?«, frage ich ihn. Klar will er das und ist sofort voll bei der Sache, als wir beginnen, durch den Raum zu gehen, ich auf einen Gegenstand zeige und jedes Mal frage: Wie ist der Tisch? Wie ist das Sofa? Wie ist die Scheibe? Wie ist das Buch? Max fällt immer was ein. Und ja – es sind Adjektive. Dann tauschen wir die Rollen, denn er soll ja auch noch neue Adjektive hören und ich benutze ausgefallene Adjektive, die ich sehr betone. Wunderschöne Wörter wie: außergewöhnlich, interessant, beeindruckend, und sieh da: etliche tolle Adjektive gelten nicht nur für Gegenstände, sondern auch für ihn: bewegungsfreudig, freundlich, zuvorkommend, interessiert, phantasievoll. Die Hürde, die wir jetzt noch nehmen müssen, ist die, wie wir uns dieses schwierige Wort »Adjektiv« nun merken können. Ich erzähle ihm von einem Lied und singe es ihm vor: (Melodie: Hänschen klein)

Adjektiv – groß und klein,

wie kann eine Sache sein?

breit und schmal, dunkel, hell,

langsam oder schnell!

Adjektiv – groß und klein,

wie kann eine Sache sein?

leicht und schwer, hoch und tief

gerade oder schief.

Plötzlich fällt Max etwas auf: In dem Wort »Adjektiv« ist ja akustisch ein Adjektiv enthalten, nämlich »tief«. Das war selbst mir noch nicht aufgefallen. Zwischendurch hatte ich einen Blick auf die Arbeitsblätter geworfen, um zu sehen, worauf sich die Aussage der Lehrerin bezog. Da ging es um zwei Aspekte: Einmal um Gegensatzpaare und dann um die Steigerung von Adjektiven. Ich nehme zuerst einmal einen Ball und stelle mich Max gegenüber auf. »Ok«, sage ich, »ich fange mal mit dem wichtigen Adjektiv ›tief‹ an. Was würdest du sagen, was passt zu tief?« Max antwortet spontan: »Hoch.« »Aha«, sage ich, »du hast das Gegenteil genannt. Jetzt bist du dran! Nenn mir ein ›Adjektiv‹, und ich sage das Gegenteil.« Dabei fliegt der Ball hin und her. Ich zeige ihm vor jedem Wurf kurz das entsprechende Wort auf dem Arbeitsblatt »Gegensatzpaare« dazu. Adjektive kennt er nun, Gegensatzpaare kennt er. Und nun, die dritte Hürde … kann er Adjektive steigern?

Ich stelle einen Stuhl verkehrt herum an den Tisch, so dass die Lehne den Tisch berührt. »Jetzt möchte ich sehen, ob du Adjektive steigern kannst. Dafür ziehst du am besten deine Schuhe aus und steigst mal auf den Stuhl und dann auf den Tisch.« Da dies schon ungewöhnlich ist, ist Max sofort bereit und wirkt gespannt. Erst auf den Stuhl, dann auf den Tisch und dann darf er auf der anderen Seite herunterspringen. Und dann machen wir das Ganze mit Adjektiven und intuitiv steigert Max die Adjektive, die ich ihm vorsage. Vor dem Stuhl stehend »schnell«, auf dem Stuhl »schneller« und auf dem Tisch »am schnellsten«, und mit Begeisterung springt er vom Tisch und stellt sich erwartungsvoll wieder vor den Stuhl und wartet auf das nächste Adjektiv, das ich ihm nenne. Nach 20 Adjektiven beenden wir das Spiel.


Das Beispiel von Max zeigt, dass eine andere, spielerische und bewegungsreiche Herangehensweise nicht selten der Schlüssel zu einem Lernerfolg ist. Mit etwas Kreativität ließe sich so etwas ebenfalls auf Kleingruppen- oder Klassengrößen übertragen.

Inhaltlich müsste außerdem das Curriculum an den Schulen meines Erachtens deutlich grundsaniert werden, eine Diät zum »Abspecken« wäre hier sicherlich angebracht und sinnvoll und würde mehr Spielraum für andere Lernaktivitäten bieten. Das Abspecken betrifft nicht nur die Arbeitsblätter, sondern auch Begrifflichkeiten. Schauen Sie sich die folgende buntgemischte Liste an! Es sind Begrifflichkeiten oder Handlungsanweisungen, die in den ersten vier Schuljahren an den Grundschulen in Deutschland zum Standard gehören:

Division, Faktor, Addition, Subtraktion, Minuend, Subtrahend, Quersumme, Präteritum, Präsens, Futur, Perfekt, Multiplikation, Artikel, Verben, Anlaute, Sichtwortschatz, Endlaut, Wortgrenze, Adjektiv, konjugieren, Konsonanten, Gegensatzpaare, Nomen, schriftlich rechnen, lautierend lesen, halbschriftlich rechnen, überschlagen, Produkt, mathematische Körper, Subjekt, Prädikat, Objekt, Divisor, Dividend, Differenz, Quotient, Stellenwert, uvm.

Es stellt sich die Frage, wo in unserem Alltag diese Wörter von Bedeutung sind. Muss ich als 9-Jähriger all diese Wörter wirklich wissen? Kann ich mein Leben dann besser meistern? Wie viel Bedeutung messen wir dem bei? Oder haben Sie sich schon mal gefragt, welche schulischen Inhalte, die sie als Kind früher gelernt haben, für ihr heutiges Leben relevant sind und bisher waren? Wäre es nicht ausreichend, in den ersten Schuljahren weitgehend die deutschen Bezeichnungen zu benutzen und erst ab der 5. Klasse Fachausdrücke einzuführen?

Ich telefonierte vor einigen Tagen mit meiner Freundin und erzählte ihr von meiner Einschätzung dieses Themas und dass ich viele dieser Begrifflichkeiten wie »Adjektive«, »Gegensatzpaare« etc. für überflüssig hielte. Als ich endete, lachte sie und sagte: »Sehr interessant, aber ich weiß weder genau was Adjektive sind, noch was das andere Wort bedeutet, von dem du gesprochen hast.«

All dies muss ein lauter Aufruf sein, unser Bildungssystem zu überdenken. Bildung sollte stark machen – aber tut unsere Bildung das? Oder ist sie verschüttet unter einem riesigen Berg von Heften, Arbeitsblättern und alltagsfernen Begrifflichkeiten? Die Rettung naht angeblich in Form der Digitalisierung. Ich zweifle sehr daran. Denkt man an die vielen Schüler, die den Großteil des Tages in der Schule verbringen und lustlos darauf getrimmt werden zu funktionieren, dann kann auch das nicht gut gehen.

Und noch immer gibt es Tausende von Schülern, die jedes Jahr ohne einen Abschluss die Schule verlassen. Das alleine wäre gar nicht so schlimm, würden nicht vielen auch die grundlegenden Fähigkeiten des Lesens und Schreibens am Ende ihrer Schullaufbahn noch fehlen.

Eine Grundschule lädt mich zu einem pädagogischen Tag ins Lehrerkollegium zum Thema »Lese-Rechtschreibschwäche und Lese-Rechtschreibstörung« ein. Die beiden jungen Lehrer fallen mir in der Gruppe der Frauen sofort auf, vielleicht auch, weil sie ungefähr das Alter meiner Söhne haben. Als ich mich erkundige, ob sie in ihrer Ausbildung, die ja sicher noch nicht so lange zurück liegt, etwas über Leserechtschreibschwäche und Leserechtschreibstörungen gehört und gelernt haben, lachen beide und einer sagt: »Gar nichts!« und der andere fügt hinzu: »Wissen Sie, ich habe die Abschlussarbeit meines Grundschullehramts über Franz Kafka geschrieben.«

Hier offenbart sich, dass wichtige Inhalte in der Lehrerausbildung fehlen. Immer wieder höre ich von jungen Lehrern, dass sie sich nicht wirklich vorbereitet fühlen auf das, was sie als Lehrer an den Schulen dann wirklich erwartet. Die Lehrerausbildung müsste deutlich praxisbezogener sein. Das hieße vor allem auch: verschiedene Praktika während des Studiums. Veraltete Theorien sollten ersetzt werden durch aktuelle Erkenntnisse z.B. aus der Gehirnforschung. Kreative Wege des Lernens müssten integriert werden, beispielsweise durch mehr spielerische Elemente und experimentelles, selbstbestimmtes Lernen, das jedoch die individuellen Fähigkeiten des Kindes diesbezüglich im Blick behält. Selbstbestimmtes Lernen meint dabei nicht, dass einem Kind nur freigestellt wird, welches Arbeitsblatt es in welchem Fach innerhalb einer Lernzeit oder eines Wochenplanes bearbeiten soll.

Es sollte vielmehr darum gehen, Kindern – insbesondere denen, die beim Erwerb der Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen, Schwierigkeiten haben – kreative Angebote zu machen, die für sie passen, um die wichtigen Fähigkeiten auf erwerben.

Angehende Lehrer sollten über ein umfangreiches Wissen über Lernprozesse verfügen, viele Schülerbeispiele kennengelernt haben und ein fundiertes Wissen über Teilleistungsstörungen und ihre Auswirkungen haben. Sie müssen viel mehr lernen, sich in das einzelne Kind hineinzuversetzen, neugierig zu sein, wie Kinder die Welt wahrnehmen, und zu versuchen, neues Wissen einzuordnen. Vor allem aber sollten sie einen großen Pool an spielerischen Übungen und Spielen als Handwerkszeug mitbringen. Sie sollten die Begeisterung und Neugierde eines Kindes in sich selbst spüren können, für das, was sie unterrichten.

Gefragt sind kreative Wege und nicht wieder neue Methoden in Form von Arbeitsblattsammlungen, die dann massenweise kopiert und an Schüler rausgegeben werden. Wir benötigen einen Wandel in der Haltung dem Lernen gegenüber, den Kindern gegenüber, den kleinen großartigen Seelen gegenüber, die wir auf ihrem Weg begleiten dürfen. Denn in keiner Schulklasse sitzen Schüler, die nach »Schema F« einfach mit Wissen gefüllt werden können wie identische Behältnisse. Jedes einzelne Kind ist einzigartig und bringt eine Menge Erfahrungen mit, an die es anknüpfen kann. Dies gilt auch für Kinder, die sich bei dem Erlernen der Grundkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen schwertun oder keinen Zugang bekommen. Es ist anmaßend und erniedrigend, wenn diese Kinder sich anhören müssen, dass sie nicht genug üben, als unmotiviert oder dumm abgestempelt werden. Jede Bewertung, dass sie nur nicht wollen oder sich auch gar nicht bemühen, deutet nur auf eine fehlende wohlwollende Haltung der Erwachsenen hin.

Was spräche dagegen, das Curriculum »abzuspecken«, es auf die Relevanz seiner Inhalte zu überprüfen, zu schauen, was Kinder brauchen, um heute im Leben wirklich bestehen zu können? Was spräche dagegen Inhalte mehr fächerübergreifend zu erarbeiten? Ansätze dafür gibt es ja bereits, allerdings sollten die Kinder bei der Entscheidungsfindung noch mehr einbezogen werden.

Ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich Kinder frage, wo sich in dem Raum, in dem wir gerade sitzen, Mathematik befindet. Fast alle Kinder haben den Fokus nur auf den Tisch und verweisen auf Zettel oder Bücher. Aber wir sind auch ohne die Zahlen auf den Zetteln von Mathematik umgeben, durch die vielfältigen Flächen im Raum, durch Rechtecke wie dem Teppich, Quadrate wie die Fliesen, aber auch durch mathematische Körper wie Zylinder in Form eines Glases auf dem Tisch oder eines Quaders in Form einer Schachtel. Ich frage dafür häufig meine Schüler: »Wenn du aus dem Fenster siehst, wo kannst du überall Mathematik entdecken?«, »Was hat ein Computer mit Mathematik zu tun?«, »Was hat Mathematik mit Musik zu tun?«, »Wo in einem Geschäft versteckt sich Mathematik?«

Heute habe ich als Referentin eine Gruppe Abiturienten und Abiturientinnen vor mir sitzen. Sie haben gerade frisch ihr Abitur in der Tasche und sich entschieden, ein Freiwilliges Jahr im Grundschulbereich zu absolvieren. Eingesetzt werden sie bei der Hausaufgabenbetreuung, im Freispiel und in Nachmittagsangeboten für die Kinder in Form von AGs. Die ersten drei Wochen Erfahrung liegen jetzt hinter ihnen. Dieser Austauschtag steht unter dem Motto: »Wie Kinder lernen« und »Wenn Kinder aus der Reihe tanzen«.

Was bei diesen jungen Menschen, die alle ein Gymnasium durchlaufen haben, zu beobachten ist, ist, wie sehr diese jungen Menschen gelernt haben, sich in bestimmten Bahnen zu bewegen und darauf getrimmt sind, richtige Antworten zu geben, auf keinen Fall etwas Falsches zu sagen oder Dinge nicht wissen zu dürfen. Diese jungen Menschen haben sich aus eigenem Antrieb für das Freiwillige Soziale Jahr entschieden, aber ich kann in den Gesichtern nichts an Interesse, geschweige denn Begeisterung entdecken. Es kommen keine Reaktionen, sie sitzen vor mir unbewegt, angepasst und erwarten, dass ich sie wie mit einem Trichter mit Informationen fülle. Mit Informationen, die sie stumm schlucken und auf Abfrage wieder ausspucken. Sie sitzen vor mir wie in der Schule mit der gleichen Haltung. Vorwiegend abwartend.

Mit einer solchen Haltung ist auch jede Lernneugierde abgetötet worden. Ich weiß, dass sie nur so abgestumpft wirken, weil sie genau diese Haltung in den letzten Jahren wiederholt eingeübt haben, um in dem Schulsystem bestehen zu können. Sie haben gelernt, dass andere vorgeben, was richtig ist, was sie zu lernen haben. Dabei müssten sie sprudeln vor neuen Eindrücken, Erfahrungen und Fragen, Fragen, Fragen. Sie sind jedoch spürbar mehr daran gewöhnt, dass sie abgefragt werden. Und zwar Inhalte, die vorgegeben sind und nur eine richtige Antwort zulassen.

Selbstbestimmtes Lernen, bei dem Inhalte frei gewählt werden dürfen, das Ermutigen zu selbstständigem Denken, egal wie sehr es auch nicht in die Norm passt, die Kunst, kreativ und anders zu denken und konstruktive Fragen zu stellen … all das wären meine Wünsche für diese jungen Menschen.

Schule braucht Spielräume – für die Kleinen und die Großen –, in denen viele Erfahrungen gesammelt werden können, in denen man sich ausprobieren kann. Ich erinnere mich mit Schrecken daran, was uns im Kunstunterricht alles vorgegeben wurde. Wie wir alle mühsam versuchten, dasselbe Bild abzumalen oder alle identische Gegenstände basteln mussten. Aber das Schlimmste daran ist, dass meine Schulzeit über vierzig Jahre zurück liegt und mir Schüler immer noch die gleichen Geschichten erzählen.

Simon soll in der Klasse ein Stillleben einer Obstschale abzeichnen. Er fühlt sich von dieser Vorgabe gelangweilt und tut sich schwer, den Pinsel zu führen, wie es andere Kinder in der Klasse tun. Er schaut sich das Obst auf dem vorgegebenen Bild genau an und beschließt, es einmal anders zu versuchen. Er malt den Rand jeder Frucht mit Geodreieck in rechteckiger Form. (Den Umgang mit dem Geodreieck hat er kürzlich mühsam erlernt und ist glücklich, ihn hier anwenden zu können.) Dann tupft er mit einem kleinen Schwamm vorsichtig die Farbe hinein.

Leider steht als Note unter seinem Bild am Ende eine 4-. Er habe »Die vorgegebene Aufgabe nicht wie besprochen umgesetzt.« Simon ist nun der festen Überzeugung, er sei nicht kreativ und könne nicht malen.

Ich sage Ihnen, jeder Künstler hätte sich einen so kreativen Denker im Team nur wünschen können. In kreativen Fächern Noten dafür zu geben, wie das »Produkt« am Ende aussieht, halte ich für vollkommen sinnfrei und demotivierend. Ich kenne viele Schüler, die sich feinmotorisch enorm schwertun, jedoch unglaublich kreative Köpfe sind.

Auch im Sportunterricht sind Noten nicht erforderlich und oftmals nicht gerecht.

Bei meiner Tochter im Sportunterricht mussten immer die zwei Schüler gegeneinander um die Wette rennen, die im Alphabet auf der Klassenliste hintereinanderstanden. Annika (ca. 1,50m groß) und eher unsportlich und Tim (ca. 1,90m groß) und Handballer. Jedes Halbjahr derselbe Ablauf: Annika mühte sich sichtbar ab und gab alles, was in ihr steckte, um möglichst schnell von der Stelle zu kommen. Tim joggte lässig an ihr vorbei. Am Ende gab es für Annika eine 4 oder 4- und für Tim eine 2+. Er war ja deutlich schneller gewesen.

Sicher ist das kein Regelfall, dennoch kenne ich solche Erzählungen in so vielfältigen Ausführungen, dass ich es wage zu behaupten, dass es sich bei dieser Art von Bewertung nicht um einen Einzelfall handelt.

Und ich verstehe die Stimmen, die nun sagen »Ja, aber es gibt ja auch die Kinder, die andere Noten ausgleichen, durch die guten Noten, die sie in kreativen und sportlichen Fächern bekommen.« Ja; aber da wäre es doch wünschenswert, dass ich mir als Kind und Heranwachsender diesen sportlichen, kreativen oder gestalterischen Bereich selbst wählen kann. Ob jemand dann Jonglieren, Tanzen, Klavier spielen, Skaten oder Gärtnern wählt, bleibt ihm selber überlassen. Ich bin zudem überzeugt, dass viele Bewertungen und Noten sicher mit mehr Bedacht und Wohlwollen gegeben würden, wenn auch Lehrer ihrerseits ein Zeugnis von Schülern erhalten würden.

Dass Schule darauf ausgelegt ist, Schüler anhand ihrer Resultate einzuordnen und zu messen, ist traurig genug. Denn: Sind es wirklich die Noten, auf die es am Ende ankommt? Ich hoffe, Sie stimmen mir bei meinem vehementen »Nein« zu. Es gibt heutzutage so viele neue Wege, die Kinder gehen können. So viele Chancen, sich nach der Schule zu verwirklichen, erfolgreich zu sein. Kinder, die nach der Schule um ihre Qualitäten wissen, sind dabei deutlich besser aufgestellt als Kinder, die sich nur anhand der eigenen Noten einordnen. Denn eine Note verrät mir noch nicht: »Was möchte ich machen?« »Wofür kann ich mich begeistern?« »Wo habe ich viel Ausdauer?« »Was macht mir besonders Spaß?« »Was kann ich – unabhängig von Fächern – besonders gut?« »Wo liegen meine Stärken?« und »Was sind meine persönlichen Qualitäten?«

Ich habe viele Kinder und Heranwachsende kennengelernt, die ihren beruflichen Weg gefunden haben – unabhängig von Noten und Zeugnissen. Sie alle hatten besondere Qualitäten. Was sie auszeichnete war, dass sie freundlich, hilfsbereit, ausdauernd, engagiert, umsichtig, geduldig, pünktlich, neugierig, interessiert, zuverlässig, aber auch kreativ, innovativ, mutig, verrückt uvm. waren.

Brian ist ein hochgewachsener hübscher junger Mann, als ich in kennenlerne. Er besucht die 8. Klasse, hat eine diagnostizierte Lese-Rechtschreibstörung und die Diagnose ADHS. Ruhig sitzen ist für ihn eine Qual. Seine Mutter beschreibt, dass er schon als Kleinkind unruhig war, sehr impulsiv und kaum zu bändigen. Sämtliche Arten von Schaltern und Schlüsseln hätten es ihm als 2–3-Jährigen besonders angetan und waren vor ihm nicht sicher. Seit er im Kindergarten war, gab es immer wieder Probleme, weil Brian nicht ruhig sitzen konnte. Heute ist er 15 Jahre alt und seine Lehrerin verzweifelt an ihm. Ständig kippelt er mit dem Stuhl, ruft ungefragt dazwischen und ist mit Abstand das Kind in der Klasse, das am häufigsten ermahnt und herausgeschickt wird. Seine Stärke jedoch ist sein Charme und dass er überhaupt nicht nachtragend ist. Die Ermahnungen der Lehrerin prallen an ihm ab und wenn sie auf körperliche Hilfe angewiesen ist, ist Brian der erste, der zur Stelle ist. Dabei ist er immer gut gelaunt und strahlt. Aber die Eltern sind in Sorge, nicht nur, weil der Schulabschluss für Brian schwer erreichbar ist, sondern auch, weil er nicht weiß, was er beruflich einmal machen wird. Was soll denn aus ihm werden? Und »wer nimmt den denn«? Das waren die Sorgen der Eltern.

Machen wir einen Zeitsprung. Zwei Jahre später, der Schulabschluss stand kurz bevor und es war zu erwarten, dass Brian es mit Ach und Krach schafft. Immerhin! Die Eltern waren erleichtert, aber eine Perspektive gab es noch nicht.

Und dann geschah Folgendes: Es gab eine große Veranstaltung für die Schulabgänger in einer Messehalle, wo Unternehmen sich vorstellten und ihre Ausbildungsplätze anboten. Die kompletten Abschlussjahrgänge tummelten sich in dieser Halle, und natürlich auch Brian. Da entdeckte er an einem Stand eine Schale mit Süßigkeiten, die ihn sehr reizten. Aber natürlich griff er nicht einfach nur dreist nach den Süßigkeiten, sondern er setzte seinen ganzen Charme ein und verwickelte den Mann hinter dem Stand in ein Gespräch, um so die ursprüngliche Idee, in der Nähe der Süßigkeiten zu verweilen, in die Tat umzusetzen. Er war charmant, interessiert, offen und auch ehrlich, denn er erwähnte durchaus seine Schulschwierigkeiten, erzählte und … es dauerte zwanzig Minuten, da bot ihm der Mann mit folgenden Worten einen Ausbildungsplatz an: »Junge, so einen wie dich könnte ich gut gebrauchen.« So fand Brian seinen Ausbildungsplatz als Kaufmann in einem exklusiven Goldschmiedegeschäft. Er durfte jeden Tag das tun, was er schon als Kind unter anderem gerne tat … Schränke auf- und zuschließen, um teure Rolexuhren und wertvollen Schmuck zu sichern.

So wie Brian gibt es viele Jugendliche, die ihren Weg finden und gefunden haben und die bewiesen haben, dass alle Behauptungen, a la »aus dir wird später nichts, wenn du nicht …«, unsinnig und darüber hinaus erniedrigend sind.

Wenn ich sagen sollte, welche Erfahrungen aus der Schulzeit oder dem Studium ich nicht missen möchte, so ist der Anteil sehr gering bis unwichtig. Aber es gab Personen, Orte und Erlebnisse, die mich stark beeindruckt und beeinflusst haben.

Kinder sollten erhobenen Hauptes durch die Schulzeit gehen und nicht mit hängenden Schultern.

Schule soll stark machen. Dafür brauchen wir Pädagogen und Eltern, die neue Wege gehen wollen, damit ihre Kinder ihr Potenzial entfalten können. Es muss einen Zwischenweg geben, eine Alternative zwischen »Die Lehrer machen das alleine, Eltern halten sich raus und wissen gar nicht wirklich, was ihre Kinder da in der Schule so tun und lernen« und »Die Eltern haben das Gefühl, alles auffangen zu müssen, wobei das Lernen Zuhause ständig zu Stress führt«. Es gibt Eltern, die sich für das Lernen ihrer Kinder interessieren und Anteil nehmen an den damit verbundenen Erwartungen. Sie sehen ihr Kind, und im Vordergrund steht, ob es dem Kind gut geht. Allerdings gibt es auch Eltern, die Zuhause Nachhilfelehrer ersetzen und zum verlängerten Arm der Lehrer werden. Sie setzen den Druck, dem die Kinder in der Schule ausgesetzt sind, fort. Ein kreativer Zwischenweg wäre für mich die Lösung. Ein erster Schritt wäre es, mehr über das Lernen an sich zu erfahren.

Überall da, wo sich die Schullandschaft verändert, wo neue Schulformen initiiert werden, findet man Eltern, denen das Lernen ihrer Kinder nicht egal ist, die sich einsetzen, nach neuen Wegen suchen und diese mitgestalten.

Nun, darum soll es in den nächsten Kapiteln zunächst einmal gehen. Wie funktioniert Lernen und was können wir tun, damit Lernen ohne Stress und Druck abläuft? Was ist die absolute Basis für erfolgreiches Lernen? Wie lassen sich Bewegung, Kreativität und Spaß ins Lernen integrieren? Der Weg zu einem Bildungssystem, das stark macht und auf die Qualitäten der Kinder vertraut, mag lang und steinig sein, doch je mehr wir wissen, wie Lernen entspannt funktioniert und dafür unsere Wahrnehmung schärfen, desto größer ist die Chance auf Veränderung.

Wenn Lernen schwierig ist

Подняться наверх